Syrien nach Assad: Blüte- oder Blutzeit?
Nach dem Sturz Assads hängt die Zukunft Syriens von verschiedenen Faktoren ab. Über allem steht die Frage: Wie kann es für die Menschen in Syrien weitergehen? Eine vorsichtige Prognose.
Es dauerte kaum eine Woche, da hissten die Milizionäre des ehemaligen syrischen Al-Qaida-Ablegers Hayat Tahrir al-Sham (HTS) ihre Siegesfahnen. Der Widerstand brach wie ein Kartenhaus zusammen.
Dies ist umso erstaunlicher, als das Regime weit größere Stürme wie den sich monströs ausbreitenden Islamischen Staat (IS), US-Interventionen und eine gigantische westliche Wirtschaftssanktionsmaschinerie überstanden hatte. Rettung von außen, abgesehen von verzweifelt wirkenden diplomatischen Angeboten aus Moskau und Teheran, blieb aus.
Das Ende des alawitischen Herrscherclans scheint besiegelt, wie es mit dem ehemals wichtigsten Verbündeten des Iran und Zentrum seiner Widerstandsachse des schiitischen Halbmondes weitergeht, bleibt abzuwarten.
Die Menschen in Syrien hoffen auf ein schnelles Ende von Leid, Krieg und Sanktionen. Doch: Der brüchige "Frieden" in der Levante kämpft mit allerlei Geburtsfehlern der "neuen" Ordnung. Offene Wunden klaffen: Wiederaufbau, Verfolgung von Minderheiten, Kampf der Assad-treuen Soldateska gegen die neuen Machthaber oder imperialistische Vorstöße.
Was waren die Ursachen?
Immerhin stand die Regierung seit 2011 außenpolitisch unter Dauerbeschuss und sah sich innenpolitisch mit Aufständen konfrontiert. Offensichtlicher Auslöser war die Offensive der islamistischen HTS aus der Provinz Idlib. Die Ursachen liegen tiefer.
Sicherlich haben die "Sturmangriffe" des US-Imperiums, die Einkreisung durch die Türkei, der Vormarsch Israels oder die Sezession kurdischer Autonomieprojekte entscheidend dazu beigetragen, doch die Medaille hat eine zweite Seite. Nach 13 Jahren Krieg und Sanktionen ist die syrische Gesellschaft systematisch verarmt.
Während des Iran-Irak-Krieges nahm Damaskus noch eine Million Iraker auf, heute irren syrische Akademiker selbst als Staatenlose durch die Welt. Die Zahlen der Hilfsorganisation Malteser machen deutlich: 40 Prozent aller Schulen sind zerstört, 2,5 Millionen Kinder aus Syrien geflohen, 670.000 Kinder unterernährt und 4,8 Millionen auf humanitäre Hilfe angewiesen.
Den Preis für die pro-westliche Loslösung Syriens von der iranischen Achse, haben die Syrer teuer bezahlt. 90 Prozent der Syrer leben in Armut. Nach Angaben der Weltbank leben 5,7 Millionen Menschen in extremer Armut.
In der syrischen Bevölkerung hat sich die Meinung durchgesetzt, dass eine Verbesserung nur ohne Assad möglich sei. Kein Wunder, dass Tausende nicht schnell genug ihre Militäruniformen gegen Zivilkleidung tauschen konnten und dem inzwischen nach Moskau geflohenen Augenarzt jegliche Unterstützung verweigerten.
Cui bono?
Die wirtschaftlichen Gegenmaßnahmen füllen Ordnerwände. Erst am 25. Mai dieses Jahres wurden die Sanktionen erneut verlängert und ergänzt. Die Wirtschaftskammern von Österreich (WPA) listen exemplarisch detaillierte Maßnahmen auf, die die syrische Wirtschaft strangulieren sollten.
Darunter: empfindliche Raffinerie- und Ölsanktionen, Exportverbote für Infrastruktur (wie Internet, Telefon oder Kraftwerksteile), insbesondere Finanzdienstleistungen und darüber hinaus sogar der harmlose Austausch von Kulturgütern. Da die offiziell diplomatisch neutrale Alpenrepublik Teil der EU ist, kann ihr Regelwerk als Blaupause für andere Staaten gelten.
Die EU und die USA sind somit der Spiritus Rector der Sanktionen, die den syrischen Adler in den Sinkflug zwangen. Wie die FAZ berichtet, stiegen mit dem Sturz Assads die Kurse an der Istanbuler Börse.
Der Wiederaufbau lässt die Herzen der Kapitalmagnaten höher schlagen. Wie der jüngste Bericht der Weltbank zeigt, ist die wirtschaftliche Lage katastrophal. Dennoch: aus Sicht des anlagesuchenden Kapitals ein gefundenes Fressen. Bis zu 11,4 Milliarden sollen investiert werden können.
Es passt in die Choreographie: trotz erheblicher Bedenken gegen die HTS-Transformation stimmt Deutschland in Person des "Syrien-Koordinators" Tobias Lindner (Grüne) einer Lockerung der Sanktionen zu. Nebulös an "wir wollen auch etwas von HTS" geknüpft.
In jüngster Zeit hat der Verteilungskampf begonnen: zuerst schickte die EU einen Top-Diplomaten mit direkter Weisung von Katja Kallas nach Damaskus, vor wenigen Tagen zogen die USA ihr lächerliches Kopfgeld auf Al-Dschaulani Syrien zurück.
Auf zum letzten Gefecht
Wie die Tagesschau berichtet, kam es am zweiten Weihnachtsfeiertag zu schweren Gefechten zwischen den letzten Anhängern Assads und bewaffneten Kräften der HTS. Dutzende Polizisten sollen getötet worden sein.
Spannend ist, dass die Szene zu einer repressiven Ausgangssperre führte und sich während der geplanten Verhaftung eines Offiziers der syrischen Armee ereignet haben soll. Dieser soll im Gefängnis von Saidnaja gefoltert haben.
Die Legende um das Saidnaja-Gefängnis verkommt immer mehr zu einer Rechtfertigungsposse, um gezielt Gegner der HTS-Herrschaft auszuschalten. Sie wird in Deutschland stark rezipiert.
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Das stimmt nachdenklich: HTS wird als Garant für Frieden und Wohlstand inszeniert. Ein erneuter Bürgerkrieg undenkbar. Ob es sich dabei um ein letztes Aufbäumen der Reste der syrischen Armee handelt oder um das Entree eines Widerstand gegen HTS, muss vorerst offen bleiben.
Bei Saidnaja sind Zweifel angebracht: wie der Faktencheck der Deutschen Welle belegt, stammen Teile der angeblichen Beweisbilder aus Vietnam, Gaza oder sind KI-generiert. Dass der Krieg im Nahen Osten mit Brutkastenlügen und PR-Agenturen geführt wird, lässt die Evidenzien zerstäuben.
Es gibt Gründe zum Widerstand: Das Verbrennen eines Weihnachtsbaumes in der Stadt Hama löste breite Proteste von Christen aus, die auch in westlichen Medien ein Echo fanden.
Proteste in Syrien laut NTV: Entlang der Küste und in mehreren Städten gingen Tausende auf die Straße und forderten Mitbestimmung und den Schutz von Minderheiten. Nach der Schändung eines alawitischen Heiligtums in Aleppo kam es auch innerhalb der alawitischen Gemeinde zu Aufständen.
Zukunftsmodell: Russland raus – Israel rein
Die Menschen in Syrien wollen Frieden. Das sagen auch die westlichen Staaten, aber sie diktieren die Bedingungen. Russland, so Katja Kallas, soll in Syrien keinen Platz mehr haben. Die beiden Militärbasen Tartus und Hmeinnim sollen geschlossen werden. Iran muss raus.
Was aber, wenn die beiden gegnerischen Staaten dazu jeweils eigene Verhandlungen mit HTS aufnehmen (zumindest für Russland und China scheint dies möglich) oder gar ihre inneren Verbündetengruppen nutzen? Insbesondere der Iran könnte durch seine schiitischen Minderheiten oder den Einfluss seiner Vorwärtsverteidigung Unruhe in die Friedhofsruhe bringen – so rief Khamenei die Jugend zum Widerstand auf.
Unterdessen rückt Israel weiter in Syrien vor - diesmal um 7 Kilometer. Dabei sind mehrere Ebenen zu berücksichtigen: Die radikal rechte Regierung verfolgt konsequent den Plan eines Groß-Israel vom Fluss bis zum Meer. Nie war der Zeitpunkt günstiger als jetzt, um dieses Ziel zu erreichen. Iran in Bedrängnis, Hisbollah und Hamas geschwächt, Assad gestürzt – die Huthis schwach.
Das birgt die Gefahr einer militärischen Expansion von Tel-Aviv nach Damaskus oder Teheran noch vor der Inthronisierung Trumps, der Kriege zumindest teilweise beenden will (um den Endkampf gegen China führbar zu machen). Eine erzwungene Entscheidung auf dem Schlachtfeld macht einen Konflikt mit dem NATO-Land Türkei zu einem realen Szenario.
Als abschließender Gedanke: in einem Interview mit der London Times betonte der Wendehals Al-Sharaa, dass es keine allzu strenge Auslegung der Scharia geben werde, dass aber "Sitten" nach Syrien zurückkehren würden. Was genau damit gemeint ist, blieb offen. Man kann es aber in Idlib sehen: HTS und Al-Sharra/ Al-Dschaulani gerieren sich als "Wolf im Schafspelz".
In Idlib herrschten Rechtsgelehrte, unterdrückten Frauen, schränkten Wahlen massiv ein und regierten mit harter Hand. Die Zukunft ist noch ungewiss – die Freudentänze der Syrer auch in Deutschland nach dem Sturz Assads könnten sich noch als Pyrrhussieg erweisen.