Syrische al-Qaida-Milizenallianz: Die PKK ist auch unser Feind
Der Anführer der Miliz Hayat Tahrir al-Scham versucht, als Verhandlungspartner anerkannt zu werden. Der Weg führt über die türkische Regierung
Eigentlich waren die Dschihadisten dem Untergang geweiht. Wohin hätten die Mitglieder der Miliz Hay'at Tahrir al-Scham (HTS) gehen können, wenn sie, wie gefordert, ihre Rückzugsgebiete in Idlib verlassen hätten, wenn nicht mittenhinein ins gegnerische Feuer?
Es sah nach den Abmachungen in Sotschi und den Vereinbarungen zwischen der Türkei und Russland ganz und gar nicht gut aus für die von der al-Qaida stammenden Dschihadisten-Miliz, die früher als Jabhat al-Nusra bekannt war. Seit zwei Jahren heißt sie Hay'at al-Tahrir, hat noch immer den gleichen Anführer, "Emir" Abu Muhammad al-Golani (manchmal auch: Jolani, Joulani oder Jawlani) - und seit ein paar Tagen die Kontrolle über Idlib.
HTS, die auf verschiedenen Listen als Terrororganisation geführt wird, hat die Konkurrenten im Machtkampf besiegt. Zuerst war es die Miliz Nour al-Din al-Zenki und dann die Ahrar al-Scham1, die früher noch ein mächtiger Kampfgenosse der al-Nusra-Front war, nicht zuletzt bei der Eroberung von Idlib im Jahr 2015. Da die Gegner der HTS in der Allianz "Nationale Befreiungsfront" mit der Türkei verbunden sind, hat die nun offensichtlich gewordene Machtübernahme des al-Qaida-Zweigs im syrischen Gouvernement Idlib weitreichende Konsequenzen.
Werden Russland und Syrien es zulassen, dass Terroristen das Kommando in Idlib haben? Wie lange werden sie es zulassen?
Was wird die Türkei machen? Sie ist nach den Astana-Regelungen zuständig für die Opposition in Syrien; ihre Bündnispartner wurden angegriffen. Laut den Abmachungen zu Idlib, welche die türkische Regierung mit Russland getroffen hat, sollte in Idlib eine demilitarisierte Zone frei von den Terroristen der al-Nusra-Front, aka HTS, sein. Das Abzugsdatum ist längst verstrichen.
Scheu vor einer militärischen Auseinandersetzung
Ein Teil der Antwort steckt in der realistischen Einschätzung, dass die militärische Auseinandersetzung mit der HTS der Türkei einen Preis kosten würde, den man bis auf weiteres nicht bezahlen will. Die militärische Unterlegenheit der syrischen Bodentruppen der Türkei, der verbündeten FSA-Milizen, hat HTS ja nun vorgeführt.
Jedes militärische Engagement darüber hinaus braucht die Einwilligung Russlands, wenn es um Luftangriffe geht zum Beispiel, und der syrischen Regierung, mit der Ankara auf schlechterem Fuß steht als mit HTS, und es wäre in jedem Fall ein aufwendiger militärischer Feldzug.
Dass sich auch die syrische und die russische Regierung bislang noch nicht zu einer Offensive gegen al-Nusra/HTS entschlossen haben, wird auch damit zu tun haben, dass ein militärisches Vorgehen gegen diese Miliz mit vielen Verlusten zu rechnen hat.
In Idlib und in den Nachbargebieten, in Hama oder um westlichen Umland von Aleppo, wo die HTS ebenfalls Zonen kontrolliert, leben viele Zivilisten. Als im vergangenen Jahr eine syrische Offensive zur Rückeroberung Idlibs im Schwange war, die dann durch die Vereinbarungen von Sotschi ausgesetzt wurde, kursierten Zahlen von einer bis drei Millionen Bewohner, die vom Krieg bedroht wären.
Al-Golani: Der Feind ist nicht die Türkei
Den anderen Teil der Antwort, warum die Türkei, die zwar im eigenen Land, bislang nicht aber in Syrien gegen die HTS vorgeht, gibt ein aktuelles Interview mit dem Chef der Miliz Hayat Tahir al-Sham. Dort erklärt al-Golani im Revolutionslook (eine Mischung aus "Che" und Dschihad, wie Aron Lund anmerkt), dass seinem Verständnis nach nicht die Türkei der Feind ist, sehr wohl aber die Kurden, die mit der PKK in Verbindung stehen. HTS würde sich einem türkischen Vormarsch in Syrien gegen die YPG nicht in den Weg stellen, so al-Golani.
Man sei mit sunnitischen Stämmen verbunden, so al-Golani.
An der Bemerkung ist abzulesen, welchen Kurs al-Golani einschlägt. Er ist nicht neu, hat aber in der augenblicklichen Situation, da sämtliche andere Milizen unterworfen sind, ein neues Gewicht: Die HTS soll vom al-Qaida-Dschihad weißgewaschen werden. Sie präsentiert sich als große syrische Oppositionsvertretung, die im "befreiten" Idlib ein alternatives Regierungsmodell gegen die alawitische Herrschaft von Baschar al-Assad unterstützt. Hayat Tahrir al-Sham stellt sich als Faktor dar, mit dem man verhandeln und damit auf politischer Ebene umgehen muss. Man will weg vom Image der Terrorvereinigung, die nur mit Waffen bekämpft werden kann.
Vom Vorhaben, dass sich sämtliche oppositionellen Milizen in einer Allianz unter der Führung von HTS vereinigen, war schon Mitte November die Rede (Idlib: HTS behauptet, alle bewaffnete Gruppen hätten sich zusammengeschlossen). Nun hat die Miliz das Projekt mit Waffengewalt gegen die anderen Milizen zum Abschluss gebracht.
Dass sich die al-Qaida-Abkömmlinge als echte Syrer präsentieren wollen, ist seit Jahren Ziel ihrer identitären Kampagne. Al-Golani macht deutlich, dass die Einigkeit der Fraktionen, die über HTS hergestellt wird, auf eine "alternative Regierung" konzentriert ist: das im Englischen sogenannte "salvation government", das Justiz und Verwaltung regelt - und natürlich unter Kontrolle der HTS steht.
Al-Golani drängt sich der Türkei damit als Verhandlungspartner auf, mit dem sie reden muss. Weil HTS zu mächtig ist, zu eng mit den verbündeten Milizen der Türkei agiert, als dass man sie einfach nur "wegbomben" oder militärisch vom Platz bekommen würde.
Der Unterschied zwischen Außendarstellung und faktischer Praxis
Dazu gehört laut des französischen Dschihad-und Syrienexperten Wassim Nasr, dass sich HTS in der jüngsten Zeit bemüht hat, die "al-Qaida-Reste" loszuwerden. Tatsächlich gab es, wie auch der US-Beobachter Sam Heller notiert, einigen Widerspruch aus dem al-Qaida-Dschihad-Milieu gegen die Erklärung al-Golanis zugunsten der Türkei, deren Präsident von den radikaleren Takfiris als Ungläubiger bezeichnet wird.
Nur gibt es wie so oft im syrischen Konflikt einen bedeutenden Unterschied zwischen Außendarstellung und der Praxis. Wie ein Mitglied der HTS kürzlich in einem Interview mit Aymenn Jawad Al-Tamimi erklärte, kommt Hayat Tahrir al-Scham ganz gut mit den anderen Dschihadgruppen aus, die mit al-Qaida in enger Verbindung stehen, wie zum Beispiel Hurras ad-Din, das der alteingessenen al-Qaida-Führung mit al-Zawahriri an der Spitze den Treueschwur gab.
Da HTS das Monopol für die Versorgung von Essen und Munition habe, müssen diese Gruppen kooperieren. Allzu schwer scheint dies nicht zu fallen, jedenfalls werden sie nicht verjagt, "um sich von Terroristen abzugrenzen". Sprich: Wer es mit HTS zu tun hat, hat es nach wie vor mit al-Qaida zu tun.
Das Interview wurde veröffentlicht und danach zurückgezogen, entscheidende Passagen sind aber noch nachzulesen. Der Vorgang zeigt, wie wichtig es HTS ist, als politischer Mitspieler anerkannt zu werden, der sich vom al-Qaida-Terrorismus gelöst hat, mit dem daher zu verhandeln ist. Der Weg zu diesem Ziel führt über die türkische Regierung.