System Tönnies und die NRW-Schlafwandler

Bild: NIAID/CC BY-2.0

Fleischbetriebe wurden längst zur "erheblichen epidemiologischen Gefahrenquelle" erklärt, der neue Corona-Hotspot in Deutschland ist eine Schande in mehrfacher Hinsicht - Ein Kommentar

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Wieso es ÜBERHAUPT in Westfalen bei der Fleischfabrik Tönnies zu einem Corona-Ausbruch mit einer vierstelligen Zahl an Infizierten kommen musste, steht in den Sternen. Die seitens politischer Amtsträger hurtig nachgereichten Erklärungen gehen ins Leere, desgleichen die Einlassungen der Firmensprecher; schließlich war man seit Monaten durch vorangehende Ereignisse gewarnt, die Betreiber von Schlachthöfen nach den spektakulären Corona-Fällen des Frühsommers längst in der Kritik. Ist das in Düsseldorf nicht angekommen?

"Ausnahme" oder nicht eher "System"?

Jetzt also ein Branchenriese. Deutschlands Marktführer in der Schlachtung von Schweinen muss seinen Produktionsbetrieb in Rheda-Wiedenbrück herunterfahren. NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann kündigte Mitte der Woche (das war am 17. Juni) an, die Schlachthofbelegschaften mit Werkvertragsarbeitern landesweit erneut auf Corona testen zu lassen. Danach wisse man, ob es sich bei dem Ausbruch um eine Ausnahme handle oder nicht.

Man höre und staune. Alle rund 6500 Tönnies-Mitarbeiter am Standort müssen mitsamt ihren Haushaltsangehörigen jedenfalls in Quarantäne. Das betrifft auch die Verwaltung, das Management und die Konzernspitze, teilte der Kreis Gütersloh am Freitagabend mit. 1029 Mitarbeiter wurden bereits positiv getestet.

Clemens Tönnies, geschäftsführender Gesellschafter des Unternehmens, hatte sich vor Wochen nach einem Virus-Ausbruch beim Konkurrenten Westfleisch noch lautstark gegen den "Generalverdacht" (sic!) gegen die Branche gewehrt. Jedoch - ist die Debatte über die haarsträubenden Missstände bei Arbeit und Unterbringung der aus Osteuropa stammenden Beschäftigten in dem Gewerbe bei ihm wie auch in der Düsseldorfer Staatskanzlei nicht rechtzeitig angekommen?

Auch schon mit Beginn der Spargel-Saison 2020 wurde diskutiert: Wie sollen Infektionsketten wirksam unterbrochen werden (oder bleiben), wenn es Grauzonen gibt, die den Betrieben zwar ihren Profit sichern, die Arbeiter aber - und des Weiteren die Bevölkerung - den bekannt prekären Verhältnissen und deren absehbaren Folgen aussetzen?

Auf Stopp drücken!

Das Verwaltungsgericht (VG) Münster lehnte am 10. Mai einen Eilantrag der Firma Westfleisch gegen die befristete Schließung ihres betroffenen Schlacht- und Zerlegebetriebes ab (Beschluss vom 9.5.2020, Az.: 5 L 400/20). Der Betrieb sei "aufgrund ersichtlich unzureichender Vorsichtsmaßnahmen" zu einer "erheblichen epidemiologischen Gefahrenquelle" nicht nur für die Belegschaft geworden, hieß es in der Begründung der Entscheidung.

Der Vize-Vorsitzende der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), Freddy Adjan, vertrat zu dem Zeitpunkt einen klaren Standpunkt: "Diese Krise macht deutlich, wie überfällig es ist, auf Stopp zu drücken und den ruinösen Preiskampf beim Fleisch zu beenden." Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) rief prompt die Länder zum Durchgreifen und zu Kontrollen der Arbeitsschutzregeln auf. Einen Masterplan, der das Vorgehen koordiniert und garantiert hätte, gab es ersichtlich nicht.

Es ist kaum zu glauben, wenn man liest, wie Gereon Schulze Althoff, Leiter des Pandemiestabs bei Tönnies, jetzt die niedrigen Temperaturen in der Produktion und die Heimreisen der Beschäftigten an den langen Wochenenden zu Pfingsten und Fronleichnam als "mögliche Faktoren" für die Ausbreitung des Coronavirus anführte. Von Verantwortung keine Spur; die Temperaturen im Fleischbetrieb sind schuld und, wie dumm, die langen Wochenenden. Schlecht gelaufen.

" … weil Rumänen und Bulgaren da eingereist sind"

NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU), zu Tönnies und den akuten Lockerungen befragt, gibt den Bescheidwisser: "Das sagt (…) überhaupt nichts aus, weil Rumänen und Bulgaren da eingereist sind und da der Virus herkommt. (...) Das hat nichts mit Lockerungen zu tun, sondern mit der Unterbringung von Menschen in Unterkünften und Arbeitsbedingungen in Betrieben." Das Beispiel zeige, "wie schnell" sich ein Virus verbreite, "wenn Abstände nicht eingehalten werden, wenn Unterkünfte nicht in Ordnung sind (…)."

Eine Aneinanderreihung von Lappalien, angereichert mit Ressentiments. Das "Beispiel" zeigt neben christdemokratischen Defiziten, was das Menschenbild und hier vor allem Osteuropa angeht, vor allem eines: Dass hier alle geschlafen haben, die etwas hätten tun können; an vorderster Front die Bescheidwisser in Staatsuniform. Jetzt haben wir den Salat: Über 1000 vermeidbare Fälle.

"Das Vertrauen, das wir in die Firma Tönnies setzen, ist gleich null. Das muss ich so deutlich sagen", sagte der Leiter des Krisenstabes, zugleich Fachbereichsleiter Gesundheit beim Kreis Gütersloh, Thomas Kuhlbusch, am Samstag. Kuhlbusch berichtet, dass Tönnies bis Freitag Listen der Beschäftigten geliefert habe, in denen 30 Prozent der Adressen gefehlt hätten. Bei Anfragen habe die Firma "immer zögerlich reagiert".

Ein Versagens-Muster

NRW macht gerade vor, wie es nicht geht! Die Gefährdungslage schöngeredet, Preparedness vergessen, Untätigkeit und Krisenmanagementfehler sorgen für aufflammenden Corona-Stress, vor allem aber bleibt hier der Bevölkerungsschutz auf der Strecke. Die amtliche Aufgabenerfüllung und das auf der Strecke gebliebene Gesundheits- und Ordnungsrecht offenbaren hier peinliche und vermeidbare Versäumnisse und Fahrlässigkeiten. Zu den Hausaufgaben hätte auch eine dringend notwendige, wirklich konsequente Einbeziehung privatwirtschaftlicher Unternehmen in die Krisenbewältigung gehört; auch die erfolgt erneut zu spät.

Richtigerweise hätte man in der zur Verfügung stehenden Zeit entsprechende Regelungen erarbeiten können und müssen. Nach den Vorfällen bei Westfleisch gingen Wochen ins Land. Das heißt: Die Wissensquellen waren vorhanden. Am schlimmsten trifft es aber mal wieder die ohnehin Gelackmeierten. Ja genau, "die Osteuropäer". Der neue Corona-Hotspot in Deutschland, die Tönnies-Fleischproduktion in Rheda-Wiedenbrück, ist eine Schande. Mit allem, was der Schlamassel hier an Verdruss zutage fördert.

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