Szientismus alt und neu: Über die Politisierung der Wissenschaft in der "Polykrise"
Szientismus kehrt zurück: Wissenschaft wird politisiert, um Macht zu legitimieren. Doch wohin führt dieser Weg? Und was macht er mit der Demokratie?
Das Jahr 2020 markiert in diverser Hinsicht eine Zäsur für die liberalen Demokratien des Westens. Eine dieser Zäsuren betrifft die Rückkehr einer problematischen Form des Szientismus, die durch ein ungebührlich hierarchisches oder gar totalitäres Verständnis von Wissenschaft geprägt ist. Damit einher geht eine Politisierung der Wissenschaft selbst.
Für die meisten Menschen, die auf Basis ihrer Ausbildung, oder auch mithilfe eines gesunden Menschenverstandes, mit der wissenschaftlichen Methode, sowie Fragen der Wissenschaftsphilosophie – was Wissenschaft eigentlich auf welche Weise leisten kann und soll 1 –, in Kontakt gekommen sind, stellen die letzten Jahre westlicher Entwicklung eine Tortur dar. Primärer Grund hierfür ist, dass verschiedenste Politiken, von fragwürdigen bis unaussprechlichen, mithilfe einer oft bizarr entstellten Wissenschaft legitimiert werden sollten und sollen.
Dass für ein autoritäres Verständnis von Wissenschaft und Politik in einer liberalen Demokratie kein Platz sein kann, sollte eigentlich selbstverständlich sein – und doch ist es das nicht. Zu verstehen, warum es das nicht ist, ist essenziell, wenn der demokratische Widerstand erfolgreich gegensteuern und diese szientistische Büchse der Pandora schnellstmöglich und vor allem auch verlässlich wieder schließen will.
Hier kann sich, wie so oft, ein Blick in die Vergangenheit als nützlich erweisen, um potenziell Augen öffnende Parallelen zur Gegenwart hervorzuheben. Autoritär-szientistische Exzesse haben nämlich, insbesondere auch in Deutschland, bereits zuvor eine Rolle in der westlichen Moderne gespielt. Es war kein Geringerer als Friedrich August von Hayek, der, in seinem anno 1944 erschienenen Buch "Der Weg zur Knechtschaft", eindrücklich auf diese hingewiesen hat.
Szientistische Legitimation als Methode der Machtausübung
Abgesehen von der Tatsache, dass Hayeks Werk zurecht als kontrovers gilt, ist es, neben einigen anderen starken Passagen, speziell das elfte Kapitel, "Das Ende der Wahrheit", das zu den stärksten dieses berüchtigten Buches zählt. In diesem widmet Hayek sich spezifisch der fragwürdigen Praxis, wohlgemerkt: vornehmlich im deutschen Faschismus unter Hitler, die Wissenschaft für politische Zwecke zu instrumentalisieren.
In endgültiger Konsequenz würde ein solches Vorgehen, wie der Titel des Kapitels bereits impliziert, "das Ende" der kollektiven Erfahrung von "Wahrheit" zur Folge haben. Dieser Zustand wiederum öffne einer autoritären Auslegung der Realität Tür und Tor. So schreibt Hayek:
Sobald die Wissenschaft nicht mehr der Wahrheit dient, sondern den Interessen einer Klasse, einer Gemeinschaft, oder eines Staates, verkommt der Sinn von Argumentation und Diskussion einzig zur Rechtfertigung und Weiterverbreitung der Glaubenssätze, nach denen das Leben der gesamten Gemeinschaft ausgerichtet werden soll. […]
Der Begriff der Wahrheit verliert seine ursprüngliche Bedeutung. Er beschreibt nicht länger etwas das gefunden wird, mit dem individuellen Gewissen als alleinigem Richter darüber, ob im jeweiligen Fall die Evidenz (oder der Stand derjenigen, die sie für sich in Anspruch nehmen) Vertrauen rechtfertigt; er wird zu etwas, das von einer Autorität ausgelegt wird, an das im Interesse der Einheit der organisierten Anstrengung geglaubt werden muss und das im Zweifelsfall modifiziert werden kann, falls diese organisierte Anstrengung es erforderlich machen sollte.
Falls diese Ausführungen einen gewissen Wiedererkennungswert aufweisen sollten, so ist das kein Zufall. Es handelt sich schlicht und ergreifend um historische Parallelen westlicher Gesellschaft, in deren Kontext eine Koalition von Interessengruppen sich entschließt, faschistoide Mechanismen einzusetzen, um die eigene Machtposition zu verteidigen und/oder auszubauen. Die Pervertierung der Wissenschaft stand seit der Säkularisierung Europas bereits zuvor im Zentrum derartiger Bestrebungen – und tut es gegenwärtig erneut.
Die "Polykrise" als Krise mit Selbstzweck
Viele der aktuellen szientistischen Exzesse sind in den Rahmen der "Polykrise" eingebettet, die auch als eine Art "kreierter" Vorwand lesbar ist, um insbesondere die westlichen Gesellschaften in einem permanenten Krisenmodus zu halten. Derartige Tendenzen europäischer Gesellschaft wurden durch die Kritische Theorie bereits vor 2020 identifiziert und detailliert beschrieben.2
Die Gründe für ein solches Vorgehen tiefgehender zu erläutern, ist komplex und würde zu weit vom eigentlichen Thema wegführen. Kurz gesagt spricht zumindest einiges dafür, dass diese Phänomene in den Kontext eines in die Krise geratenen Kapitalismus neoliberaler Spielart einzubetten sind.
Mit einer Verstetigung des Krisenmodus würde hier der doppelte Zweck erfüllt, die westlichen Bevölkerungen einerseits strengeren Kontrollmechanismen zu unterwerfen, während andererseits an der schrittweisen Umstrukturierung der westlichen Gesellschaften gearbeitet wird.
Da außerordentliche Formen der Machtausübung in liberalen Demokratien ebenso außerordentliche Legitimation erfordern, da sie sonst nicht auf breiter gesellschaftlicher Ebene mitgetragen werden würden, geht mit faschistoiden (im Sinne von machtbündelnden) Tendenzen in der Politik immer auch eine Verengung des öffentlichen Diskurses einher, dem "von oben" spezifische Narrative zur Kontrollmaximierung übergestülpt werden.
Wie bereits zuvor angemerkt, und durch das Beispiel Hayeks hervorgehoben, spielt der Szientismus seit Beginn der westlichen Moderne eine besondere Rolle in solchen Situationen.
Szientismus in der "Polykrise" – Corona, Klima, Krieg
Das prägnanteste Beispiel der letzten Jahre stellt zweifellos die Coronapandemie dar. Wurde diesbezüglich bereits vor längerem die länderübergreifende politische Fabrikation eines vermeintlichen Konsenses herausgearbeitet3, entblößt in Deutschland insbesondere die Veröffentlichung der RKI-Protokolle eine überaus fragwürdige "Beziehung zwischen Wissenschaft und Politik während der Pandemie".
"Immer wieder zeig[e] sich in den Protokollen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse zugunsten des politischen Willens übergangen wurden und das RKI dabei noch helfend auftrat", schrieb ein Mitglied des Deutschen Ethikrats vor Kurzem in der FAZ.
Im selben Kontext lohnt es sich, immer wieder auch an die Mahnungen international renommierter Wissenschaftler zu erinnern, die in der Hochphase der Pandemie darauf hingewiesen hatten, dass der politische Umgang mit dieser "die Normen der Wissenschaft veränder[e]". Retrospektiv gingen einige sogar noch weiter und schrieben von der "verlorene[n] Wissenschaft" selbst.
Vom pandemischen zum klimatisch bedingten Ausnahmezustand?
Die Parallelen zur Debatte um eine vermeintliche Klimakatastrophe könnten kaum prägnanter sein. Anders ausgedrückt sind "[…] die Mechanismen […] hier sehr ähnlich wie in der Coronapolitik – wissenschaftliche Arbeit wird intensiv in die Öffentlichkeit kommuniziert, dabei aber ihrer Widersprüchlichkeit beraubt und auf simple Aussagen reduziert, um dann schmerzhafte Eingriffe der Politik [zu] legitimieren". Was diese politischen Eingriffe im betrachteten Kontext genau bewirken, ist, insbesondere außerhalb Deutschlands, hochumstritten.4
Dementsprechend verdichtet sich auch in diesem Kontext der Eindruck, dass einflussreiche politische Kräfte hier eine Agenda verfolgen, in deren Zuge die vorliegende wissenschaftliche Evidenz in der Kommunikation nach außen verzerrt dargestellt wird, um die Notwendigkeit eines kollektiven Kraftakts zu suggerieren und hierfür, auf Kosten der Wahrheit, die allgemeine Folgebereitschaft zu erhöhen.
Die komplexere Position, derzufolge Ursachen und vor allem Auswirkungen des Klimawandels final "ungeklärt" sein könnten, wird zugunsten dieser Agenda übergangen.
Krieg als klassisches Mittel zur inneren Konsolidierung
Insbesondere im Kontext von Krieg, Frieden und Kriegspropaganda sollten die beschriebenen Mechanismen nur allzu bekannt sein, denn das Heraufbeschwören äußerer Feinde, und die daraus resultierende Notwendigkeit, Wehr- oder "Kriegstüchtigkeit" zu erlangen, war historisch betrachtet stets ein beliebtes Mittel, um von inneren Problemen abzulenken und die Bevölkerung hinter der Regierung zu vereinen.
Um dieses Ziel zu erreichen, wird auch im Kontext des Ukrainekrieges, spätestens seit dessen Eskalation 2022, der Versuch unternommen, die westliche Teilhabe am ursprünglichen Aufflammen des dortigen Konflikts zu verschleiern und Russland als irrationalen und aggressiven Feind darzustellen.
Derartige Darstellungen ignorieren jedoch etwa Positionen westlicher Politikwissenschaft, denen zufolge das russische Vorgehen, obgleich es zweifellos aggressiv ist, einer nachvollziehbaren Rationalität5 folgt und problematische Verhaltensweisen westlicher Akteure, insbesondere seit Ende des Ersten Kalten Krieges, ebenfalls als Kausalfaktoren der erneuten Konfrontation zwischen West und Ost identifizierbar sind.6
Szientismus als potenzielle Vorstufe totalitärer Machtausübung
Hayeks Beschreibung der damaligen szientistischen Exzesse sollte in Kombination mit den hier skizzierten jüngsten Entgleisungen dieser Art als Warnung verstanden werden, dass totalitäre Tendenzen in liberalen Gesellschaften keineswegs derart unvorstellbar sind, wie oft behauptet wird.
Ganz im Gegenteil schrieb er damals weiter, dass der "[…] vielleicht […] erschreckendste Fakt [sei], dass eine Verachtung intellektueller Freiheit kein Phänomen ist, das erst sein Haupt erhebt, sobald das totalitäre System etabliert ist, sondern das überall unter Intellektuellen auftritt, die einen kollektivistischen Glauben angenommen haben und als intellektuelle Führer selbst in Ländern anerkannt werden, in denen ein liberales Regime herrscht."
Weitere Artikel von Robert Schwierkus:
Propaganda im Zweiten Kalten Krieg: Das Spiel mit der "Russophobie"
Krieg in der Ukraine: Wie liberale Hegemonie auf Neo-Revisionismus prallt
Der Szientismus ist also als Mechanismus interpretierbar, der vornehmlich in solchen Systemen zur Anwendung gelangt, in denen politische Machthaber (noch) nicht einfach durchregieren können, sondern ihre Machtausübung in umfassenderer Weise, als es in totalitären Systemen der Fall ist, vor der Bevölkerung legitimieren müssen.