Krieg in der Ukraine: Wie liberale Hegemonie auf Neo-Revisionismus prallt

Der damalige US-Verteidigungsminister Robert Gates und der russische Präsident Wladimir Putin bei der Münchner Sicherheitskonferenz, 10. Februar 2007. Bild: Pentagon

Wertegeleiteter Westen kämpft gegen imperialistisches Russland. Diese Sichtweise dominiert in den USA und Europa. Unser Autor argumentiert für eine andere Perspektive.

Vor einiger Zeit mussten die Menschen in der Ukraine, Europa und der Welt, betrüblicherweise, den zweiten Jahrestag der russischen Invasion in die Ukraine zur Kenntnis nehmen. Dieser Krieg, und die Faktoren, die zu seinem Ausbrechen ursächlich beigetragen haben, sorgen insbesondere auch in Deutschland für leidenschaftliche Debatten.

Nebel der Meinungsmache lichten

Obgleich man diesen Umstand, in Anbetracht von Krieg und dem damit einhergehenden Grauen, grundlegend nachvollziehen kann, ist die Emotionalität doch in seinen Ausmaßen problematisch in Bezug auf die Fähigkeit vieler Menschen, den Konflikt rational zu begreifen.

In meinen Augen ist diese oft exzessiv anmutende Leidenschaft in der Debatte darüber hinaus kein Zufall, sondern die logische Konsequenz aus dem massiven Einsatz westlicher Meinungsmache und einer unmittelbar aus dieser abzuleitenden "Russophobie", die viele vernünftige Gesprächsansätze, um etwa Wege hin zu einer Kompromisslösung zu finden, im Keim erstickt.

Im Folgenden möchte ich versuchen, den Nebel der Meinungsmache etwas zu lichten und eine bisher wenig erwogene Interpretation der Zusammenhänge darzulegen.

Alternative Deutung

Auf Twitter/X kann man einen Post eines deutschen Soziologie-Professors lesen, der zum Jahresende 2023 und mit Ausblick auf den Verlauf des Krieges 2024 verfasst worden ist, und die allgemein geteilte Ansicht wiedergibt.

Russland führt einen Krieg nach den Begründungen des historischen bzw. neo-panslawischen Imperialismus; der Westen dagegen verhält sich nach den Begründungen einer absoluten Ächtung solcher Kriegführung im 21. Jahrhundert.

Diese im öffentlichen Diskurs lange vorherrschende, oder, mit Gramsci, "hegemoniale" Interpretation, nimmt in der Deutung des Krieges, und den vermeintlich daraus abzuleitenden Handlungsoptionen der Politik, nach wie vor eine immens wichtige Rolle ein.

Und doch gibt es Kontexte und Fakten, die diese Deutung in zentralen Punkten herausfordern. Sie können einen alternativen Deutungsrahmen bilden, über den leider viel zu wenig diskutiert worden ist.

"Liberale Hegemonie" des Westens trifft auf russischen "Neo-Revisionismus"

In diesem Deutungsrahmen treffen in der Ukraine nicht, oder zumindest nicht in erster Hinsicht, ein imperial agierendes Russland und ein "wertegeleiteter" Westen, der die Ukraine mit bestem Wissen und Gewissen unterstützt, aufeinander.

Wesentlich relevanter ist hier der Dualismus zwischen dem, was John Mearsheimer als "liberale Hegemonie" des US-geführten Westens identifiziert, und dem, was Richard Sakwa als russischen "Neo-Revisionismus" gegenüber ebendieser westlichen "liberalen Hegemonie" beschrieben hat. Einer solchen Deutung zufolge ist es dieser Dualismus, durch den wir in einen Zweiten Kalten Krieg und die Eskalation in der Ukraine geraten sind.

Um diesen komplexen Kontext halbwegs akkurat nachzuvollziehen, muss man zwangsläufig den Verlauf der Beziehungen zwischen dem US-geführten Westen und dem post-sowjetischen Russland näher betrachten. Das heißt, man muss die Entwicklung vom Ende der Sowjetunion und der Entstehung der Russischen Föderation 1991 bis zum Ausbruch des Krieges in der Ukraine 2022 einbeziehen.

An dieser Stelle ist nur ein kurzer Überblick darüber möglich. Wer in die Tiefe gehen möchte, dem sei, neben den beiden zuvor erwähnten Büchern, der aktuelle Beitrag von Richard Sakwa "The Lost Peace: How the West Failed to Prevent a Second Cold War" nahegelegt.

Was bedeutet "liberale Hegemonie"?

Der US-geführte Westen begann bereits Anfang der 1990er-Jahre, berauscht von dessen "Sieg" im Ersten Kalten Krieg sowie den Vorstellungen vom "Ende der Geschichte", die damalige Schwäche Moskaus für die eigenen Interessen in Osteuropa zu nutzen.

War man in Moskau, erst unter Gorbatschow und später unter Jelzin, darauf bedacht, Teil der europäischen oder gar transatlantischen Gemeinschaft zu werden, sah man insbesondere in Washington die Zeit gekommen, den sogenannten "unipolaren Moment" US-amerikanischer Machtausübung zu nutzen, um die vor allem wirtschaftsliberal ausgerichtete, "regelbasierte internationale Ordnung", die in erster Hinsicht dem US-Kapitalismus zuträglich gewesen ist, nach Möglichkeit auf den gesamten Globus auszuweiten.

Hierbei handelt es sich sowohl um den ideologisch als auch realpolitisch identifizierbaren Kern der erwähnten "liberalen Hegemonie" des US-geführten Westens. In Russland selbst bedeutete dies, im Zuge der 1990er-Jahre, die Implementierung einer sogenannten "neoliberalen Schocktherapie" durch westliche Ökonomen, freilich mithilfe korrupter Politiker wie Boris Jelzin und Oligarchen wie Michail Chodorkowski, die das Land in eine wirtschaftliche Katastrophe stürzte.

Auf sicherheitspolitischer Ebene wurde zum einen – entgegen mündlicher Zusagen gegenüber Moskau, dass man die Nato nicht gen Osten ausdehnen würde – eben genau dies getan. Zum anderen wurde sie gleichzeitig von einem Defensivbündnis in ein aggressiv nach außen agierendes umfunktioniert – besiegelt durch die westlichen Militärinterventionen in die Sezessionskonflikte Jugoslawiens (dem eigentlichen kriegerischen "Sündenfall" im Europa der Nachkriegszeit).