Taliban-Sein als Lifestyle der sozial Entmündigten

Wer sind die Taliban? Teil 2

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Im ersten Teil des Telepolis-Gesprächs (Wer sind die Taliban?) mit Conrad Schetter, Forscher am Bonner Zentrum für Entwicklungsforschung (ZEF) und Experte für afghanische Ethnologie, ging es um die Taliban und ihre Verbindungen zur afghanischen Gesellschaft. Im zweiten Teil stehen Weltanschaung und gegenwärtige Entwicklungen im Zentrum.

Mit welchem Instrumentarium wurde die Weltanschauung der Taliban propagiert und verankert?

Conrad Schetter: Katalysator für die Vermittlung dieses Islamverständnisses waren die Medressen, das heißt die islamischen Religionsschulen. So weist die Bezeichnung Taliban - was eigentlich Student heißt, aber generell als Religionsschüler übersetzt wird - auf die ursprüngliche Herkunft der Bewegung aus den Medressen.

Fortan dienten die Medressen als Rekrutierungsfeld für den jihad: die Schüler wurden darauf vorbereitet, dass der Kampf gegen die Ungläubigen ihre zukünftige Lebensaufgabe sei. Die zentrale Botschaft lautete, dass nur der mujahid der, der Islam im Heiligen Krieg gegen die Ungläubigen verteidigt und als shahid (Märtyrer) stirbt, vor dem Jüngsten Gericht bestehen kann. Auch gegenwärtig rekrutieren die Taliban viele Anhänger, gerade Selbstmordattentäter, aus solchen Medressen.

Scharia in erster Linie als Bejahung der lokal herrschenden Gesetze

Wie weit reicht der Einfluss der Taliban heute in der afghanischen Gesellschaft?

Conrad Schetter: Die Taliban vermochten erstens die Interpretations- und Legitimationshoheit des Islams für sich zu beanspruchen, zweitens verstärkten sie die lokale autonome Ordnung der Gesellschaft gegen den Zentralstaat und drittens präsentieren sie ihr Gesellschaftsmodell als alleinige Alternative zu den tiefen sozialen Problemen, die in Afghanistan herrschen.

Wenngleich eine islamische Rhetorik im Vordergrund stellt, wäre es jedoch verfehlt, die Durchsetzung einer islamischen Ideologie in einer tribalen Gesellschaft zu konstatieren. So spielen ideologische Fragen in der alltäglichen Praxis eine untergeordnete Rolle. Häufig stehen daher Vorstellungen, die aus der islamischen Orthodoxie, aus dem Volksglauben und aus der Stammeskultur stammen, unvermittelt nebeneinander. Offensichtliche Widersprüche werden erst gar nicht wahrgenommen.

In gleicher Weise verstehen viele Taliban unter der Einführung der Scharia in erster Linie die Bejahung der lokal herrschenden Gesetze. So lässt sich dort, wo im Namen der Taliban die Scharia eingeführt wurde, häufig die Vermischung von islamischen Recht und Standesrecht - etwa der Beachtung der Blutrache - beobachten. Die islamische Rhetorik dient daher häufig der Begründung einer lokalen Identität.

Deshalb ist das Ziel vieler Taliban, die lokale Autonomie gegen Einwirkungen von außen aufrechtzuerhalten und die eigene Bevölkerung zu schützen. Gerade moderne Vorstellungen wie die Gleichstellung von Mann und Frau, Demokratie oder die Trennung von Religion und Staat werden folglich als Gefahren für die Ordnung betrachtet. Dies verschafft denjenigen, die sich Taliban nennen, Legitimität.

Die Bewegung der "kleinen Leute"

Inwiefern spielen soziale Ungerechtigkeiten eine Rolle im Aufstieg der Taliban?

Conrad Schetter: Der Gedanke der sozialen Ungerechtigkeiten spielt für die Mobilisierung eine wichtige Rolle. So verstehen sich viele Taliban als Opfer sozialer Ungleichheiten. Die Taliban bedienen sich auch unterschiedlich gelagerter gesellschaftlicher Differenzen und Konflikte, die sich gerade während des langwierigen Krieges aufgestaut haben und vermochten es sich erfolgreich als die Vertreter der sozial Benachteiligten und Entrechteten zu profilieren.

Dieser Vorstellung, dass die Taliban die Bewegung der "kleinen Leute" ist, entspricht auch die Organisation der Bewegung. So werden die Taliban nicht von religiösen Gelehrten angeführt, die an Hochschulen in Ägypten oder in Saudi Arabien studiert haben sondern von einfachen Mullahs, wie etwa Mullah Omar, die kaum des Lesens mächtig sind.

Die vielen Taliban: "Government Taliban", "Pakistan Taliban" oder "American Taliban"

Unter dem Begriff "Taliban" gibt es also keine einheitliche und zentral gelenkte Bewegung?

Conrad Schetter: Nein, der Begriff dient eher als Bezugsrahmen für ganz unterschiedliche Interessen, die durch eine gemeinsame Bedrohung - nämlich den Zentralstaat und die NATO - zusammengeschweißt werden. Der Begriff "Taliban" bezieht sich daher nicht allein auf religiöse Eiferer. So verwenden auch viele lokale Kommandeure, Jungendgangs, Stammesmilizen, kriminelle Banden oder Drogenringe diesen Terminus als Selbstbezeichnung, obwohl sie niemals eine Medresse von innen gesehen haben.

Diese inflationäre Verwendung des Begriffes als Eigenbezeichnung zeigt auch die gesellschaftliche Legitimation, die hiermit verbunden ist. Die lokale Bevölkerung selbst unterscheidet häufig zwischen den "guten Taliban"und den "bösen Taliban". Die "guten Taliban" sind demnach diejenigen die nur ausländische Truppen angreifen; sie seien fromm und würden soziale Gerechtigkeit verkörpern.

Laut verbreiteter Meinung in der Bevölkerung würden aber auch die "bösen Taliban", welche Straßen verminen und Entführungen organisieren, die Traditionen und Normen der Gesellschaft respektieren - im Gegensatz zu Koalitionstruppen, die beispielsweise Leibesvisite bei Frauen durchführen. Deshalb ist eine lokale Akzeptanz auch der "bösen Taliban" nicht zu leugnen.

Gleichzeitig beobachtet man neuerdings auch die Entstehung von Alternativbegriffen wie: "Government Taliban", "Pakistan Taliban" oder "American Taliban". Die "Government Taliban" beschreiben die Milizen, die in der Drogenökonomie in Südafghanistan tätig sind, während "Pakistan Taliban" oder "American Taliban" diejenigen umschreiben, die im Verdacht stehen von einem der beiden Länder finanziert zu werden. Als politische Kategorie löst sich der Begriff "Taliban" deswegen zunehmend auf. Denn längst nicht hinter allen Taliban stecken militante Islamisten.

Seitenwechsel und Aufrechterhaltung der lokalen Macht

Was haben diese Veränderungen für die "Ur-Taliban" zu bedeuten?

Conrad Schetter: Die lokalen Interpretationen sind eine Herausforderung für die ursprüngliche politische Bewegung. Denn vielerorts gewannen Kommandeure, Stammesführer, Kriminelle und Drogenhändler, die Seite an Seite mit den militanten Islamisten gegen die NATO-Truppen kämpften, wieder an Einfluss und Macht. Doch verfolgen diese häufig - im Namen der Taliban - Ziele, die mit dem orthodoxen Selbstbild der Bewegung nicht konform sind. Die Anführer sind vielfach allein an der Aufrechterhaltung ihrer lokalen Machtfülle interessiert und paktieren daher mal mit der Regierung, mal mit den Taliban.

Dieselben Akteure können daher einmal als Taliban, ein anderes Mal als Verbündete der Regierung auftreten. Ein illustres Beispiel hierfür aus jüngerer Vergangenheit ist die lashkar-i-islam (Krieger Gottes), eine militante Gruppierung, die im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet operiert. Noch 2008 stellte diese Gruppe Geleitschutz für NATO-Konvois am Khyber-Pass und arbeitete mit dem pakistanischen Militär zusammen. 2009 verübte die lashkar-i-islam aber im Namen der Taliban Attentate auf Polizeistationen in Peshawar. Somit wird eine klare Freund-Feind Unterscheidung außer Kraft gesetzt.

Dieses Paktieren und diese Wechselallianzen stellen nicht die Ausnahme, sondern die Regel dar. Dieses Beispiel macht deutlich, weshalb der milliardenschwere Ansatz der NATO, nämlich der Gewinnung von "Herzen und Seelen" der Bevölkerung, eine einzige Verschwendung von Geldern ist. So hat die Vergabe kurzfristiger Loyalitäten wenig mit Überzeugung und viel mit strategischem Denken zu tun, wie ein afghanisches Sprichwort es in zutreffender Weise verdeutlicht: "Einen Afghanen kann man mieten, aber nicht kaufen."

(Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan hat den deutschen Steuerzahler in den letzten zehn Jahren zwischen 5,5 Milliarden - offizielle Kosten, die vom Bundestag für die Mission bewilligt wurden - und 17 Milliarden Euro - d.h. inklusive aller Nebenkosten, laut Berechnung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung - , gekostet. A.d.R.)

Heterogenität und interne Zerklüftung

Wie haben die "politischen Taliban" auf diese Veränderungen reagiert?

Conrad Schetter: Einerseits wurde in den letzten Jahren lokale Eliten, die nicht als Linientreue eingestuft wurden, zum Ziel von Attentaten und Lynchprozessen. Es erfolgte auch die Einsetzung eigener Gouverneure und Polizeichefs, sowie die wiederholte Erwähnung, dass die Taliban die Errichtung einer durchstrukturierten, parastaatlichen Ordnung im Namen des Islams anstreben und eben keinem Sammelsurium lokaler Widerstandsgruppen entsprechen.

Die Schura, der oberste Rat der Taliban erließ außerdem anlässlich ihres Treffens während des Ramadans 2006 einen Ehrenkodex, die so genannte layeha, um politische Ziele zu erläutern und das Verhalten der Gotteskrieger zu regeln. Dennoch zeichnet sich die Taliban-Bewegung auf regionaler Ebene heute weiterhin durch Heterogenität und interne Zerklüftung aus. Zwistigkeiten um Führerschaft, lokale und tribale Rivalitäten sorgen ständig für Spannungen und neue Allianzen. Ausdruck hiervon ist etwa, dass es eine Vielzahl an miteinander konkurrierenden Pressesprecher gibt, die sich bei Journalisten im Namen der Taliban zu Wort melden.

Taliban-Lifestyle und die Globalisierung des Lokalen

Welchen Platz in der Weltordnung haben die Taliban heute?

Conrad Schetter: Es koexistieren zwei gegenläufige Tendenzen. Auf der einen Seite gibt es eine um Parastaatlichkeit bemühte Bewegung der Taliban; auf der anderen Seite gibt es ein "Taliban-lifestyle", der durch das Zusammenschließen von Stammeskultur und militantem Islam geprägt ist. Einigende Klammer stellt die ablehnende Haltung gegen externe Einflüsse dar.

Vor diesem Hintergrund erscheint der "Krieg gegen den Terror", als ein extern geführter Staatsbildungskrieg, in dem lokale Machtstrukturen zugunsten der Durchsetzung von Staatlichkeit gebrochen werden. Dennoch lassen sich die Taliban nicht auf ein lokales Phänomen verkürzen.

Vielmehr handelt es sich um ein globales Phänomen; man kann von einer Globalisierung des Lokalen sprechen. Denn die Bewegung war gerade dort erfolgreich, wo tradierte lokale Ordnungen unter Bedingungen wie Flüchtlingsdasein, Globalisierung oder Krieg nicht mehr ohne weiteres aufrechterhalten werden konnten. Hier bieten sich militante islamische Strömungen, die als anti-staatlich, anti-modern oder anti-westlich verstanden werden, als Kompensationen an.

Wie sehr der Begriff "Taliban" mittlerweile für lokale-islamistische Bewegungen an Popularität gewonnen hat, wird daraus ersichtlich, dass jüngst Taliban-Bewegungen im pakistanischen Punjab und sogar in Nordnigeria auftraten. Aber nicht nur in ländlichen Gebieten, sondern auch in den Vororten von Großstädten wie Karachi, Bagdad und Mogadischu ist das Taliban-Sein als Lifestyle der sozial Entmündigten, die auf die Herstellung einer lokalen islamistischen Ordnung pochen, längst angekommen.

Gekaufte Allianzen, solange Geld da ist

Kann man heute absehen, wie es nach dem Abzug der ausländischen Truppen aus Afghanistan 2015 weitergehen wird?

Conrad Schetter: So lange Geld aus dem Ausland in das Land hineingepumpt wird, und zwar in einer nicht nicht zu vernachlässigenden Größenordnung, werden Allianzen erkauft werden können. Das lehren auch Erfahrungen aus der Geschichte Afghanistans. Beispielsweise konnte der 1986 unter sowjetischer Besetzung ernannte Präsident Afghanistans, Mohammad Najibullah, sich nach Abzug der Roten Armee (1989) bis 1992 an der Macht halten, da er sich mit sowjetischem Geld Milizen gefügig halten konnte.

Ein anderer Trend ist allerdings auch zu beachten, der in eine bedenkliche Richtung geht: Viele Afghanen versuchen, Ihre Familie außer Landes zu schaffen, sei es nach Pakistan, Europa oder in die USA. Zudem findet gegenwärtig eine Militarisierung der Gesellschaft statt, da sich viele Afghanen mit Waffen eindecken. Gleichzeitig versuchen die Taliban, ihre Kräfte zu schonen, indem sie sich nach Pakistan zurückziehen und den offenen Kampf mit den NATO-Truppen vermeiden.

Parallel dazu wurden dieses Jahr einflussreiche Anführer der Gegner der Taliban, wie Mohammed Daud Daud1, der Polizeichef Nordafghanistans oder Ahmad Wali Karzai, der Halbbruder vom afghanischen Präsidenten, sowie Burhanuddin Rabbani, ein Ex-Mudschaheddin, Gründer des Islamischen Staats Afghanistans und von 1992 bis 2001 Präsident des Landes, bei Anschlägen getötet. Deshalb stehen wir höchstwahrscheinlich heute schon kurz vor einem neuen Bürgerkrieg.