Taliban gleichen "einfachen Knechten in den bayerischen Bergdörfern vor hundert Jahren"
Der ehemalige Militärarzt Reinhard Erös kritisiert den Nato-Einsatz und baut lieber Mädchenschulen in Afghanistan
Reinhard Erös ist Arzt, Soldat und ein barocker Bayer, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Wenn es um Afghanistan geht, kann Erös stundenlang und ohne Pause reden wie aus der Pistole geschossen. Widerspruch duldet er allerdings nicht und bis zum nächsten Wutanfall ist es bei ihm nie weit.
Erös war Oberstarzt bei der Bundeswehr, bevor er sich 2002 aus Protest gegen den Afghanistan-Einsatz in den vorzeitigen Ruhestand versetzen ließ. Er ist bis heute kein Pazifist und grüne Politiker, die keinen Wehrdienst geleistet haben, gehören zu seinen Lieblingsfeinden. Aber als langjähriger Kenner des Landes hält er den Nato-Einsatz für unmoralisch, unchristlich und kontraproduktiv. "Mit ausländischem Militär kann man Afghanistan nicht stabilisieren", ist seine Überzeugung. "Die Afghanen wollen keine ausländischen Soldaten."
Seit 25 Jahren ist Erös immer wieder in Pakistan und Afghanistan tätig. 1987 ließ er sich vom Dienst bei der Bundeswehr befreien, um von Pakistan aus eine Hilfsorganisation für Afghanistan zu leiten. Mit vier kleinen Kindern zog die Familie damals nach Peschawar. Erös erlebte die russischen Angriffe auf die Zivilbevölkerung und litt, weil er nicht immer helfen konnte. Er behandelte Schwangere und unterernährte Kinder in abgelegenen Bergdörfern, flickte verletzte Mudschaheddin-Kämpfer wieder zusammen. In dieser Zeit verlor die Familie Erös aber auch eines ihrer eigenen Kinder. Der kleine Junge starb, bevor er das rettende Schwabinger Klinikum in München erreichte.
1998 gründete Erös zusammen mit seiner Frau Annette, einer Lehrerin, die Kinderhilfe Afghanistan. Im besonders gefährlichen Südosten des Landes, in der Hochburg der konservativen Paschtunen, aus denen sich die Taliban rekrutieren, hat die Familieninitiative Mädchenschulen, ein Waisenhaus, eine Mutter-Kind-Klinik und eine Solar-Werkstatt aufgebaut, die junge Afghanen zu Solar-Elektrikern ausbildet.
26 Schulen mit rund 55 000 Schülerinnen können ausschließlich aus privaten Spendengeldern finanziert werden. Mit staatlichen Geldern hat Erös nichts am Hut, obwohl sie ihm inzwischen angeboten werden, denn das Entwicklungshilfeministerium sucht händeringend nach Nicht-Regierungsorganisationen, die sich am Hindukusch engagieren. Bei den großen Hilfsorganisationen stört sich Erös an der Bürokratie und schwerfälligen Entscheidungsprozessen. Als Privatmann ist er niemandem verpflichtet und kann tun und lassen, was er will. "Das kommt an in Deutschland", sagt Erös. Koordiniert wird die "Kinderhilfe" im Haus der Familie in Mintraching im Landkreis Regensburg. Wie in einem Familienbetrieb helfen alle mit, aber es ist klar, dass Erös die Nummer Eins ist. Die beiden erwachsenen Mädchen sind in der Buchhaltung eingespannt, die Jungs begleiten den Vater auf seinen gefährlichen Reisen ins Land. Erös und seine Frau fahren jedes Jahr mehrmals nach Afghanistan, bringen Spendengelder und beraten sich mit den einheimischen Projekt-Mitarbeitern.
Alle Projekte in Afghanistan kommen ohne ausländische Mitarbeiter und ohne Schutz durch ausländische Militärs aus
Bevor eine Schule entsteht, wird verhandelt. Mit Dorfbürgermeistern, den Maliks, mit Mullahs und natürlich auch mit den Taliban. Mit den gefürchteten Gotteskriegern hat der ehemalige Militärarzt ständig zu tun. Die deutschen Debatten, ob man mit ihnen reden könne, kommen ihm abstrus vor. Wenn er mit den "Religiösen", wie er sie nennt, zu tun hat, verschweigt der Bayer nicht, dass er Christ ist. "Die Taliban wissen genau, dass ich Katholik bin", sagt der 62-Jährige. "Ich diskutiere oft mit ihnen. Sie fragen mich dann, warum kommst du als Christ hierher, um uns zu helfen?" Das verstehen die Taliban zwar nicht, aber sie kennen den Arzt und wissen, dass er nicht missionieren will. Probleme hatte er wegen seines Glaubens noch nie. "Probleme gibt es eher, wenn man wie manche aus der Bundeswehr hinkommt und sagt, Religion ist doch was für Doofe, ich bin Atheist." Das versteht niemand in Afghanistan, dann gibt es keine Basis für eine Verständigung.
Mit ihren Schulen will die Familie Erös vor allem die Mädchenbildung fördern und so dem fundamentalistischen Treiben der Islamisten Aufklärung entgegensetzen. "Die Bauern kommen zu uns und sagen, wir wollen eine Schule haben", erklärt Erös den üblichen Ablauf. Er arbeite aber nur dort, wo die Taliban damit einverstanden sind, dass auch Mädchen zur Schule gehen. Man setzt sich zu stundenlangen Beratungen zusammen, wie es in Afghanistan üblich ist. Dann versucht Erös ihnen zu erklären, dass es Ärztinnen brauche, um Frauen zu behandeln. Die könne es aber nur geben, wenn Mädchen auch zur Schule gehen. Er lässt sich damit auf die islamistische Gedankenwelt ein, in der Frauen nicht von männlichen Ärzten behandelt werden dürfen. "Sagen die Taliban nein, wird die Schule nicht gebaut". In 70 Prozent der Fälle bleiben sie ablehnend, bleiben noch 30 Prozent, in denen sie sich überzeugen lassen.
Der Arzt setzt auf Lernprozesse auch bei den Fundamentalisten. Die Taliban mit ihrer engstirnigen Sicht auf die Welt und den Islam kommen ihm manchmal vor wie "einfache Knechte in den bayerischen Bergdörfern vor hundert Jahren". So wie sich die bayerischen Bergdörfer entwickelt haben, können auch die Taliban dazu lernen, selbst wenn sie heute ein Synonym für Rückständigkeit sind.
An einem Tag wie Mutter Theresa, am anderen Tag wie Rambo
Erös war schon so oft in Afghanistan, dass ihm die Perspektive der Afghanen auf den Westen und ihre Armeen nebst den zivilen Helfern vertraut ist. Er spricht nicht nur Paschtu, eine der Landessprachen. Viele kennen ihn und seine Familie seit langem, wissen, dass er schon zur Zeit der Russen vielen Menschen helfen konnte und selbst ein Kind verloren hat. In einer personenbezogenen Kultur wie der afghanischen zählt das mehr als alle Papiere irgendwelcher Organisationen. Erös kann die Kritik der Afghanen am Militäreinsatz des Westens nachvollziehen. "Am Montag kommen die Westler zu uns wie Mutter Theresa und bauen in einem Dorf ein Kinderheim oder eine Schule", erzählt er und erhebt seine Stimme zu einem gewaltigen Donnern. "Am Dienstag benehmen sie sich wie Rambo und bombardieren das Nachbardorf."
Erös bringt noch ein aktuelles Beispiel. Am gleichen Tag, als das Titelbild des "Time Magazine" mit einer von den Taliban grausam verstümmelten Afghanin im Internet zu sehen war (Afghanistan im Medienkrieg), haben die Amerikaner ein Dorf ganz in der Nähe seines Aufenthaltsortes bombardiert. Drei Frauen starben im Bombenhagel. "Da war nicht nur die Nase weg, da war alles weg", poltert Erös. An diesen Widersprüchen scheitere der Afghanistan-Einsatz, dessen Ziel es für Erös nie war, Frauenrechte im Land durchzusetzen, wie das "Time Magazine" glauben machen möchte.
Alles Reden von Menschenrechten und Chancen für Frauen, die die Nato gegen die Taliban schützen müsse, hält er für vorgeschoben. "Der Westen schütze doch die Falschen, nämlich die dünne, korrupte Elite um Karsai und seine Clique", sagt er hitzig, "die Drogenchefs und Warlords, die ihr Geld in Dubai und Abu Dhabi angelegt haben." Das Leben der meisten Afghanen würde sich kaum verändern, wenn die Nato abzieht, denn sie sind ohnehin mit dem täglichen Kampf ums Überleben beschäftigt. Die "Kinderhilfe Afghanistan" hält sich jedenfalls ganz bewusst von der Bundeswehr und den anderen Nato-Armeen fern.
Seine Meinung speist Erös mit einer gewissen Penetranz in die deutsche Öffentlichkeit ein. Inzwischen ist er prominent genug, um gehört zu werden. Er hat den Marion-Dönhoff-Förderpreis der "Zeit" bekommen und das Bundesverdienstkreuz. Am 18. September verleiht die FDP-nahe "Bayerische Stiftung für die Freiheit" ihm den Thomas-Dehler-Preis.
Der Arzt und seine Frau lieben das Land und seine Menschen. Sie haben die überschwängliche Gastfreundschaft der Afghanen kennen gelernt. Sie sind beeindruckt, wie diese ihr einfaches Leben genießen können, trotz Armut und Unsicherheit. In Afghanistan "zählt die Weisheit des Alters wenigstens noch", schwärmt Erös und ist gleich wieder auf Hundertachtzig. Der ganze Zirkus um Anti-Aging und ewige Jugend in Deutschland, der rege ihn wirklich auf.