Tattoo ist Verbrechen

Zeig mir Dein Tattoo und ich sag Dir, wer Du nicht bist!

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Auch ohne Fielmann-Brille können Menschen schön sein. Nichts anderes gilt für Tätowierungen. Nur scheint diese natürliche Ästhetik zwischenzeitlich etwas in Vergessenheit geraten zu sein. Gegenwärtig wird jedenfalls ein altes Menschheitswissen wiederbelebt, das Menschenhaut für die ideale Schmuck- und Einschreibfläche hält und jedes Make-up lässig überbietet.

Tätowierungen, beliebt wie zu Ötzis Zeiten, sind wieder der letzte Schrei nach der Nadel, nachdem die in die Jahre gekommenen Hippies und Punks mit gutem Beispiel, allerdings sehr viel expliziteren Motiven zwischen "Peace", "Love", "Hanf" und "Hate" vorangingen. Die neuen Nadelabhängigen scheuen sich nicht von Sucht zu reden, die schließlich auch noch die diskreten Körperteile, wenn sie nicht ohnehin aus erotischen Gründen als erste daran glauben mussten, bedeckt. Längst ist es nicht mehr jenes hochemotionale, reeperbahntaugliche "Erika in ewiger Liebe" nebst Amors unbeholfen graviertem Pfeil in der Kirmesherzgegend. Das alles im kläglichen Blau eines verwaschenen Kugelschreibers verzeichnet, der den Träger unwiderruflich dem Proll- oder Knastmilieu überschreibt.

Unter der Haut geht's weiter

Inzwischen wuchern die bunt spritzigen, im metallischen Blau, feurigen Rot und gefährlichem Grün auf Gänze des Körpers gehenden Tattoos auf unzähligen Hautwerbeflächen, deren Ansicht niemand wirklich entgehen kann, so wenig wie früher tätowierten Maori-Körpern, die auf europäischen Jahrmärkten zur Attraktion wurden, nachdem Capitän Cook bleichen Europäern den ersten Polynesier 1774 präsentierte. In deutschen Städten wird offensichtlich tätowiert, gepierct, "gebrandet", was das Zeug hält, genauer: der Körper aushält.

Maori

Wer nichts wird, wurde früher Wirt - heute kann er vorzugsweise ein Tattoo-Studio aufmachen, da inzwischen angeblich schon zwei Millionen Deutsche im kreativen Hautornat herumlaufen und kein Ende der Sticheleien in Sicht ist. Seit 1689 der Franzose Thevenot vielleicht zum ersten Mal die Tätowierungsmethode beschrieb, hat sich die kutane bis subkutane Zunft allerdings erheblich entwickelt. Ganz anders, als es Franz Kafka in der Strafkolonie erzählt, wo dem Delinquenten die Strafe buchstäblich in die Haut eingeritzt wird, bis er qualvoll daran stirbt. Heute reicht die krachbunte Palette von Kiosk-Abziehbildchen bis zur Nadel für blutige Fortgeschrittene, von Bio-Tattoos, Temp-Tattoos, Airbrush-Tattoos, Bodypainting bis hin zu anderen ewigen Brandzeichen der Liebe oder des Hasses in diversen Anstrich- bis Einstich-Arten für die wandelnde Ego-Littfasssäule. Tattoos sind Schnittstellen zur äußeren Welt. Checkpoint Aufmerksamkeit: Achtung, Sie verlassen jetzt ihren Körper!

Tattoos sind historisch wohl auf mehr oder weniger schöne Narben zurückzuführen, die in jenen Zeiten mit erhöhten Verletzungsgefahren den ästhetischen Sinn der Menschen anregten, aus der ungnädigen Zufallsmarmorierung des Schicksals ein ästhetisch ansprechendes Muster zu stechen. Tattoos sind so multifunktional, dass jede Aufzählung unvollständig bleiben muss: Magie, politischer Protest, Schmuck, Kosmetik, Medizin, Trauerzeichen, Kriegeremblem, Stigmata, Lebensabschnittsmarkierung, Identity-Card, Eigentumszeichen, Zeichen starker sozialer und/oder religiöser Bindungen, deren Unverbrüchlichkeit durch die relative Unauslöschbarkeit der Zeichen bescheinigt wurde.

Jene Zeiten, in denen der Schmuck kaum je von der Magie zu trennen war, sind lange vorbei. Heute wird zur saisonal bedingten Ich-Konfession, was im Mittelalter von der Kirche verboten wurde, weil es als ketzerischer Eingriff in den von Gott geschaffenen natürlichen Körper galt. Heute dagegen kann sich kein echter Satanist durch noch sehr auf der Haut tobendes Höllenfeuer vor Luzifer auszeichnen, wenn sich selbst die "kiddies" den gothic-look im nächsten Schreibwarenladen besorgen (lassen). Wenn die Magie dieser diabolischen Tattoos so weit reicht wie ihre Ästhetik, besteht ohnehin die allergrößte Gefahr, dass die bösen Geister wieder ungehinderten Zugang zu diesen Körpern finden. Was früher als Ganzkörperamulett den Schutz vor dem Bösen gewährte und von den Japanern zum höchst vollendeten Gesamtkörperkunstwerk so gestaltet wurde, dass die Figuren zu tanzen, zu leben schienen, ist heute eher die verspielte Werbefläche der konsequent inkonsequenten No-Logo-Jugend (Am Anfang war das Logo). Die ästhetische Albernheit zwischen irregeleiteten Micky Mäusen, etwa gar kopulierend wie bei Janet Jackson, bis hin zu den Newage- und Fantasy-Tattoos setzen der Fantasie zumeist die üblichen Grenzen eines häufig angekitschten Kunsthandwerks - so unzweifelhaft es gravierte Körperpaläste gibt, die ihre Schöpfer als Künstler ausweisen.

Nicht wenige Ornamente flanieren heute durch die Straßen, die man keiner Tapete, keinem Duschvorhang und schon gar keiner Küchenschürze durchgehen lassen würde. Tattoos sind, mit Adolf Loos gesprochen, nicht weniger verbrechenstauglich als jene ornamental besudelten, vormals unschuldig weißen T-Shirts, die so unverwechselbar verwechselbar machen, wenn sie erst mal mit Brandzeichen entstellt wurden.

H.R.Giger-Motiv

Die Aufrüstungen höchst langweiliger bis banaler Körper werden zum fragwürdigen Erlebnisversprechen einer hochemotionalen oder lasziven Dschungelwelt. Gegenwärtig mutieren Zeitgenossen zu bizarren Schlangenmenschen, wenn sich so ein marmorierter Arm wie eine Anakonda aus dem angeschnittenen T-Shirt ringelt. Oder das alte Unbehagen an der Zivilisation macht sich ein wenig Luft, wenn einer als lebendiges H.R.Giger-Bild durch die Fußgängerzone wandelt.

Der fehlende Waschbrettbauch ist jetzt kein Thema mehr, wenn hier genügend visuelle Vor-Wände eine Attraktivität begründen, die man sich nicht mehr erarbeiten muss, sondern eben schlicht "removable" bis schmerzhaft eingravieren lassen kann.

Dr. Sommer rät allerdings: Es gibt keine "Bio-Tattoos". Die Haut vergisst nichts, zumindest ist sie auch dann oft noch nachtragend, wenn die Lebensabschnittsmarkierung längst wieder entschwunden sein müsste! Das mag indes zum wenigsten jene bekümmern, die sich ohnehin für das vollpenetrierende Tattoo-Kombinat mit masochistischen Piercing in jedes, wirklich jedes Körperteil entscheiden. Helge Schneider würde wohl sagen: Tat toot echt weh! So wird die erregbare Hautlandschaft zur echten Topografie der Schmerzen entfaltet.

Plattencover von Debbie Harry

Früher hieß es: Wer schön sein will, muss leiden. Heute mag eine kleine Nuancenverschiebung die neuen Schmerzensmänner und -frauen leiten: "Ich leide, also bin ich authentisch". Nicht nur mein Bauch, mein ganzer Körper gehört mir.

Traurige Tattoos

Menschen sind gegenüber vorzeitlichen Echsen mit ihren vermutlich bunten Schuppenpanzern und höckerigen Schildplatten ästhetisch höchst armselig ausgestattet. Die immer gleiche Oberfläche, hautfarben trivial nun mit oder ohne Sonnenbad. Das Tattoo verheißt dagegen ausdrücklich, was der natürliche Körper längst nicht versprechen kann: Ich bin ein Anderer, auch wenn ich nicht überall so aufregend aussehe wie mein erotisch explosives Tattoo aus dem Vorlagenbuch für jedermann/jederfrau. Lianen des Dschungels, Feuerzungen, Tribals, japanische Schriftzeichen etc. werden so zum Widerstand gegen Backfisch-Look oder verräterische Geek-Blässe.

Was im Inneren jugendlicher Körper so mild pubertär bis postpubertär tobt, will raus, sucht Ausdruck, um Eindruck zu machen. Doch Elfen, die über den Rücken krabbeln, machen aus der Trägerin längst noch keine. Die Erregungskurven laufen zwar jetzt häufig über Tattoos, die schnurstracks den Weg zum Unterleib weisen, vielleicht im mehr oder minder bewussten Wissen, dass die Tätowierung von alters her bei Prostituierten beliebt war. Doch die Uniformierung der wilden Natur holt den Versuch, individuell, etwas wirklich Besonderes zu sein, gar sinnlich zu sein, schnell ein. Tattoos sind nicht weniger Uniform als die üblichen Premium-Klamotten von Prada bis Adidas mit eingebauter Narziss-Garantie. Tattoos sind das Accessoire für jede Szene von Pop und Pyro über Punk und Proll bis hin zum Büro-Schick sprießender Mauerblümchen geworden.

Die Kids folgen artig ihren zerstochenen Promis, die wie etwa Cher gegen den Abzug von Aufmerksamkeit zu kämpfen haben und nicht zuletzt deshalb wohl an allen möglichen bis unmöglichen Körperstellen heldenhaft wider das welke Fleisch kämpfen. Ein Tattoo macht noch keine Persönlichkeit, es ist nicht mal das Billet für die SM-Szene oder das Vereinsabzeichen des Biker-Girls, sondern verspricht regelmäßig nicht mehr als einen voyeuristisch genussreichen Sommer im Freibad mit bedingt tauglicher Verruchtheitsgarantie.

Tattoo-Branding

Es gibt Tattoo-Süchtige und mitteilungsfreudige Zeitgenossen, die als wandelnde Moritatenwände ihrer eigenen Lebensgeschichte umherziehen. Mein Körper wird zum Tagebuch, wie es Knackis seit je am eigenen Leibe praktizieren, indem sie etwa blassblauen Knasttränen hier und da und dort von sich abperlen zu lassen. Darin liegt der schmerzbesiegelte Aufschrei gegen die Gefangenschaft. Und das hat transethnische Dimensionen in der Gesellschaft der Freunde des Verbrechens bzw. der Tattoos: Etwa jener martialische, in Japan verpönte Yakuza-Look, der als Absage an gesellschaftliche Normen interpretiert wird und - einige Tausend Pikser später - selbst zur Norm der zerstichelten Verbrecher wird. So wird man Mitglied in weniger ehrenwerten Gesellschaften, in dem man sich als Verbrecher in vorauseilendem Gehorsam selbst stigmatisiert, obwohl doch die ehrenwerte Gesellschaft das ohnehin schon aus eigenem Antrieb besorgen würde.

Yakuza

Diese eigenartige Ambivalenz des Tattoos zwischen Selbsterhöhung und Erniedrigung wurde vielleicht nirgendwo deutlicher als in der faschistischen Körpereinschreibungspraxis. Konzentrationslagerinsassen wurden etwa mit dem Davidsstern tätowiert, nummeriert, abgestempelt wie Vieh. Auch das hat historische Vorläufer. In Japan wurden bis weit in das 19. Jahrhundert hinein Verbrecher tätowiert, um ihre prädigitale Kennzeichnung und Verbannung sicherzustellen. Doch die SS gravierte ihren Mitgliedern Blutgruppenbezeichnungen in die linke Achselhöhle, um gerade die exklusive Zugehörigkeit zum Totenkopforden zu dokumentieren. Eine Prozedur, die etlichen "prisoners of war" erst hinterher die wahre Pein bereitete, wenn sie die verräterischen Insignien mit stumpfen Messern noch rechtzeitig vor der alliierten Leibesvisitation zu entfernen versuchten.

So ein Tattoo ist mithin ein eigenartiges Ding: Zwingt man es Menschen auf, wird es zum Kainszeichen, zur Bestrafung, zur Folter. Lassen sie sich freiwillig stechen, gibt es ihnen den Ego-Kick, den die Persönlichkeit auf anderem Wege weniger gut zu Stande bringt.

Tattoo-Barbie & Tattoo-Tyson

Was für eine Lust, unter so viel alltäglichen Superstars leben zu dürfen! Selbst Barbie gibt es inzwischen tätowiert, und wem das neben Mike Tyson, dem martialisch tätowierten Ohrenabbeißer, noch nicht reicht, der kann sich seine Tätowierung auch in elbischer Sprache besorgen lassen, denn Übersetzungen spielen bei diesem polyglotten Medium die geringste Rolle.

Wer wie wir alle der Matrix entkommen will (Matrix Refused), muss ohnehin dem weißen Kaninchen folgen, das Neo als Tätowierung auf der Schulter der Gefährtin Danny erscheint: "Komm schon, es wird dir gefallen. Ich versprech's dir." Hoffentlich hält das Tattoo auch, was es seinen Trägern so alles verspricht.