Technologie in unseren Schulen schadet mehr, als sie nützt
Ralf Lankau, Professor für Mediengestaltung und Medientheorie an der Hochschule Offenburg, über die Petition "Schulpakt Digital ist ein Irrweg der Bildungspolitik - denn Digitaltechnik an Schulen schadet mehr, als sie nützt"
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Sie haben zusammen mit anderen Wissenschaftlern einen offenen Brief an die Kultusminister verfasst mit dem Tenor "Technologie an Schulen schadet mehr, als sie nützt" - und dazu eine Unterschriftenaktion gestartet. Wieso gerade jetzt?
Ralf Lankau: Im Oktober 2016 hat Bundesbildungsministerin Johanna Wanka den Digitalpakt#D angekündigt. Was zunächst positiv klingt - 5 Milliarden Euro für Schulen -, erweist sich als Trojanisches Pferd, denn dieses Geld darf ausschließlich für Hardware ausgegeben werden.
Am 1. Juni 2017 hat nun die Kultusministerkonferenz den "Schulpakt Digital" verabschiedet und ordnet sich den Berliner Vorgaben komplett unter. Eine falsche Entscheidung, werden doch nur Partikularinteressen der IT-Wirtschaft und der Arbeitgeberverbände bedient. Auch wird damit die grundgesetzlich verankerte Methodenfreiheit der Lehrenden missachtet. Und vor allem ist es weder pädagogisch noch bildungspolitisch zu begründen, Geräte der Unterhaltungsindustrie verpflichtend in den Unterricht zu integrieren.
Woran machen Sie fest, dass Digitaltechnik im Unterricht keinen Nutzen hat?
Ralf Lankau: Dazu gibt es viele Studien, angefangen von der OECD- über die PISA-Studie 2015 bis zu John Hatties Meta-Studie "Visible Learning".1 Oder nehmen wir das kürzlich veröffentlichte Gutachten "Bildung 2030" des Aktionsrats Bildung der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft.
Was steht in dem Gutachten drin?
Ralf Lankau: Auf Seite 78 von "Bildung 2030" wird eine Studie zitiert, der zufolge hiesige Grundschulkinder, die mindestens einmal wöchentlich Computer im Unterricht nutzten, in den Domänen Mathematik und Naturwissenschaften sogar statistisch signifikant niedrigere Kompetenzen aufwiesen als diejenigen, die seltener als einmal pro Woche mit dem Computer hantierten.2
Gilt das auch für simple Lernaufgaben?
Ralf Lankau: Hans W. Giessen, Professor an der Universität des Saarlandes, hat bei einem Experiment zum Vokabellernen festgestellt, dass traditionelle Lernformen zu deutlich besseren Ergebnissen führen als das Lernen am Monitor. Selbst Andreas Schleicher, Direktor des Direktorats für Bildung der OECD, schlussfolgert daher in einem Interview mit einer australischen Zeitung: "Wir müssen es als Realität betrachten, dass Technologie in unseren Schulen mehr schadet als nützt." Vor diesem Hintergrund sind die immensen Anschaffungs- und Folgekosten für die Digitaltechnik, deren Produktion übrigens auch aus ökologischer Sicht mit Problemen verbunden ist, besonders kritisch zu sehen.
Finanziell werden die Schulen de facto handlungsunfähig
Wie weit reichen die vom Bundesbildungsministerium versprochenen 5 Mrd. Euro?
Ralf Lankau: Nach Berechnungen von Andreas Breiter und Kollegen (Uni Bremen) für die die Bertelsmann-Stiftung reicht dieses Geld für gerade einmal 18 Prozent der tatsächlichen Kosten für das Szenario, dass sich fünf Schulkinder im Unterricht einen Rechner teilen müssen, und für nur sieben Prozent, wenn jeder Schüler ein Notebook oder Tablet gestellt bekommt. Demnach müssten die Schulen aus ihrem Budget mehrere 10.000 € bzw. einige 100.000 € in Digitaltechnik investieren - pro Jahr wohlgemerkt. Dadurch werden die Budgets der beteiligten Schulen für Jahre im Voraus für Digitaltechnik verplant - und stehen damit für nicht technikbasierte pädagogische Konzepte nicht zur Verfügung. Die Schulen werden de facto handlungsunfähig.
Befürworter von Digitaltechnik in Schulen weisen aber darauf hin, dass wir unsere Kinder auf das Leben neben und nach der Schule vorzubereiten hätten. Daher sei es fahrlässig, sich der Computerisierung des Unterrichts zu widersetzen.
Ralf Lankau: Hier wird nicht nur übersehen, dass Digitaltechnik im Unterricht nachweislich "mehr schadet als nützt", um noch mal Andreas Schleicher von der OECD zu zitieren. Auch kann es nicht Aufgabe von öffentlichen bzw. staatlichen Bildungseinrichtungen sein, Kinder und Jugendliche den Gebrauch von Geräten der Unterhaltungselektronik beizubringen - das können sie schon - oder den medialen Konsum zu fördern. Sie nutzen digitale Endgeräte bereits mehrere Stunden täglich - und gewöhnen sich an die Fremdbestimmung durch Algorithmen, Apps und Avatare.
Das primäre Ziel von Schule aber ist - neben der Sozialisierung in der Gemeinschaft - die Vermittlung von Wissen und Fachwissen, von Können und Fertigkeiten als Basis der Entwicklung ihrer Persönlichkeit. Dazu müssen sie die Dinge, mit denen sie sich beschäftigen, auch im Wortsinn begreifen, was mit einer Welt hinter der Mattscheibe von Display und Touchscreen nicht gelingen kann.
"Wer Bildungsprozesse ermöglichen will, verzichtet möglichst lange auf Bildschirmmedien"
Der Untertitel Ihres neuen Buches "Kein Mensch lernt digital", das im November erscheinen soll, lautet: "Über den sinnvollen Einsatz neuer Medien im Unterricht". Sprich, ist es nicht ein Unterschied, ob ich nur ein digitales Smartboard in der Klasse stehen habe oder gleich die ganze digitale Bandbreite mit Smartboard und Tablet für jedes Kind in jeder Schulstunde?
Ralf Lankau: Man muss differenzieren, aber auch Dinge zu Ende denken. Smartboards sind der Türöffner für Digitaltechnik. Dazu kommen dann der Beamer und kurz darauf das Tablet. Entscheidend ist der psychologische Effekte für Lehrkräfte und Schüler/innen. Nicht mehr das Unterrichtsgespräch, der Dialog, steht im Mittelpunkt, sondern ein Gerät. Unterricht heißt hier, der Lehrer oder die Lehrerin macht als erstes den Rechner an und holt Material aus dem Netz. Das können dann die Kinder auch selbst, zumal eine Software berechnet, wer gerade was lernen soll. Der Knackpunkt ist, dass hier eine Medientechnik in den Mittelpunkt rückt, die für das Unterrichten gar nicht notwendig ist.
In Bezug auf das Smartboard wird aber mitunter vorgebracht, dass hier die Stifthaltung die gleiche sei wie bei der Kreidetafel.
Ralf Lankau: Wer das behauptet, hat weder an der Kreidetafel noch am Smartboard gearbeitet. In der Tat ist der Unterschied in etwa so groß wie beim Entwerfen auf Papier oder dem Arbeiten an einer Glasscheibe, also einem Touchscreen. Werkzeug und Material haben immer Auswirkung auf den Gestaltungsprozess. Zeichnen oder Schreiben am Smartboard hat einen anderen sinnlichen Charakter. Die Schrift und ihr Charakter ändern sich. Das kennt jeder ausprobieren, der mit Bleistift, Füllfederhalter oder Pinsel schreibt oder zeichnet. Der Strich ändert sich und damit eine wesentliche Dimension des Ausdrucks. Das Gleiche gilt für das Zeichnen und Malen. Werkzeug und Material haben eigen Qualitäten. Das gilt auch für das Arbeiten an Boards und Touchscreens.
Wann wäre der Einsatz von digitalen Medien dann aus Ihrer Sicht sinnvoll?
Ralf Lankau: Der größte Nonsens der Digitalstrategie der Kultusminister ist zu propagieren, Digitaltechnik sollte unterschiedslos in allen Schulformen, allen Altersstufen, allen Fächer zum Einsatz kommen. Wir müssen stattdessen differenzieren und genau unterscheiden, über welche Schulform wir gerade reden, wie alt die Schülerinnen oder Schüler sind, welches Fach unterrichtet wird - und auch von wem. Grundsätzlich kann gesagt werden: Wer Bildungsprozesse ermöglichen will, verzichtet möglichst lange und vor allem in der Grundschule auf Bildschirmmedien.
Wie kann das "analoge" Unterrichten dazu beitragen, diese Bildungsprozesse bestmöglich zu gestalten?
Ralf Lankau: Mathematik- und Musikunterricht zum Beispiel sollten ausgebaut werden. Dort lernen Kinder mit logischen, abstrakten Systemen zu arbeiten und zu denken. Um es pointiert zu formulieren: Wer mathematisch denken lernt, findet sich in jedem technischen System zurecht - und kann bei Bedarf und Interesse auch programmieren lernen. Wer hingegen gleich Programmieren lernt - bei Kindern heißt das: fertige Bausteine am Rechner zusammenschieben -, kann später bestenfalls programmieren - oder auch da nur fertige Bausteine am Rechner zusammen schieben, weil es mit Bibliotheken und Templates immer mehr "Fertigbauteile" gibt. Das schließt nicht aus, in speziellen Fächern wie Informatik Computer ganz gezielt einzusetzen. Im Übrigen ist eine Forderung unserer Petition, dass die einzelne Lehrkraft entscheidet, mit welchen Medien sie unterrichtet. Nur dann ist es authentisch.
Wie sieht ein spannender Unterricht aus, der praktisch gar nicht den Wunsch aufkommen lassen würde, Digitaltechnik dazuzuholen?
Ralf Lankau: Von Haus aus bin ich Kunstpädagoge, da ist es erfahrungsgemäß einfacher. Wenn man mit echtem Material, mit Farben und Stoffen, arbeitet, ein Thema bespricht, eine Geschichte erzählt, ist alles Digitale schnell flach und langweilig. Das gleiche gilt für Werken und Musizieren. Den Kindern fehlt im Unterricht nicht nur Bewegung, sondern oft auch das manuelle Arbeiten und die Sinnlichkeit. Das heißt, dass man auch im Mathe- oder sogar IT-Unterricht mit sinnlichen und haptischen Objekten arbeitet.
Für den IT-Unterricht kann man sich bei dem Projekt "Computer Science Unplugged" von Tim Bell, einem Informatikprofessor aus Neuseeland, Inspirationen holen. Dabei geht es um IT-Unterricht ohne Bildschirm. Ziel ist es, das Verständnis für diese heute so dominante Technik zu vermitteln, ohne dass Kinder am Bildschirm sitzen müssen. Ähnliches gilt für andere Fächer, nicht nur in der Grundschule. Dabei kann man etwa auch die Handschrift wieder zum Thema machen oder das Entwerfen von Geschichten in Form eines Storyboard, also eines gezeichneten Drehbuchs. Wenn ich begeistern kann und das Manuelle Arbeiten anbiete, ziehen nicht nur Grundschulkinder mit. Entscheidend ist aber immer die mentale Präsenz der Lehrkraft, das Fachwissen und die Zugewandheit. Kinder merken, ob man ihnen etwas beibringen will.
"Die intensive Nutzung digitaler Endgeräte verstärkt die digitale Spaltung"
In den Anfangszeiten des Netzes wurde aber viel vor dem "digital divide" gewarnt, also davor, dass Kinder aus bildungsfernen Familien abfallen könnten gegenüber sozial besser gestellten Kindern, weil sie nicht rechtzeitig an Digitalmedien herangeführt würden. Spricht das nicht für einen breiten Einsatz von Digitaltechnik im Unterricht?
Ralf Lankau: Nein. Im Grunde ist es sogar so, dass die intensive Nutzung digitaler Endgeräte die digitale Spaltung verstärkt. Denn die Verwendung der digitalen Geräte, die Medienbedienkompetenz, ist heutzutage mehr oder weniger selbsterklärend und wäre selbst für kleine Kinder relativ mühelos erlernbar. Entscheidend ist aber "Medienmündigkeit" - ein Begriff, dem Paula Bleckmann, Professorin für Medienpädagogik, besondere Aufmerksamkeit schenkt. Damit ist die Fähigkeit gemeint, Medien gezielt nach und nach für eigene Interessen einzusetzen.
Der "digital divide" wird sich also fortan nicht in einer Trennung von smarten Nutzern und dummen Nichtnutzern zeigen, sondern in einer Spaltung zwischen denjenigen, die als Datensklaven an ihren Endgeräten hängen, und denen, deren Eltern die Nutzung der Endgeräte auf verantwortungsvolle Art limitieren und reglementieren und dafür sorgen dass "analoges Programm" mit Vorlesen von Büchern, Verabredungen, freiem Spiel oder sportlicher Betätigung im Zentrum steht.
Wie werden die Menschen zu Datensklaven?
Der Politikwissenschaftler Andre Wilkens schreibt in seinem Buch "Analog ist das neue Bio", dass die Großmeister im Silicon Valley schon längst um diesen neuen "digital divide" wüssten, weshalb sie ihre Kinder auf analoge Schulen ohne Digitaltechnik wie Smartboards und Laptops schicken. Trifft das wirklich auf den Großteil der Manager von Google & Co zu?
Ralf Lankau: Es trifft zumindest für die Manager zu, die darüber sprechen. Steve Jobs etwa hat seinen Kindern Smartphones und Tablets verboten. Das sei Unterhaltungselektronik für Erwachsene und Zeitverschwendung. Bill und Melinda Gates reglementieren die Nutzung ihrer schon älteren Kinder zeitlich und inhaltlich. Ein Smartphone gibt es zum Beispiel erst mit 14 Jahren und auch nur mit festen Regeln über Nutzungsinhalte und -dauer - also kein Gerät beim Essen und im eigenen Zimmer, und nachts sind die Geräte ausgeschaltet. In der Tat ist es so, dass viele Eltern, die in Tech-Firmen arbeiten, dafür sorgen, dass die eigenen Kinder in der Kita und zumindest in der Primary School, also in der Grundschule, nicht schon am Bildschirm sitzen müssen.
Wie werden die Menschen - die User - durch Digitaltechnik autoritätsgläubig und unmündig und letztlich zu den von Ihnen erwähnten "Datensklaven"?
Ralf Lankau: Was hier abläuft, ist so genanntes Nudging, also die fürsorgliche Bevormundung und Entmündigung durch unablässige Gängelung per App und Web. Das Smartphone weiß, wo es den besten Kaffee gibt, wen ich anrufen sollte - und wen nicht -, es erinnert an Geburtstage usw. Apps werden zu "unverzichtbaren" Helferlein und steuern uns, das zu tun, was den Monopolen nutzt. Facebook beeinflusst, was wir im Newsfeed sehen und manipuliert versuchsweise unsere Stimmung. Google hat gerade eine Strafe von 2,42 Mrd. € von der EU bekommen, weil die "Such-"Maschine vor allem Google-Produkte angezeigt hat usw. Das System ist einfach: Hilfsdienste, die uns so lange helfen, bis wir es nicht mehr alleine können, etwa Straßenkarten lesen, wenn das Navi ausfällt, als schrittweise Entmündigung durch Bequemlichkeit. Wenn Erwachsene das mit sich machen lassen, so ist dies schlimm genug. Denn Demokratie und Sozialgemeinschaften funktionieren nur mit selbständig denkenden und agierenden Individuen. In der Schule aber werden bereits Kinder durch Software regelrecht systematisch zur Abhängigkeit und Hörigkeit erzogen.
Wie kann so etwas in der Praxis konkret ablaufen?
Ralf Lankau: Zum Beispiel so, wie es der Kulturwissenschaftler Fritz Breithaupt mit seiner "Talking Method" beschreibt. Dabei werden bereits Fünfjährige alleine an einen Rechner gesetzt, was dann mit Kamera und Mikrofon aufgezeichnet wird. Ein Algorithmus verarbeitet nicht nur die Eingaben, sondern bewertet auch emotionale Gesichtsausdrücke oder die Körperhaltung usw. Eine synthetische Computerstimme "spricht" dann mit dem Kind, gibt Anweisungen, tröstet etc. Das Ziel ist, Kinder möglichst früh an das isolierte Arbeiten am Bildschirm zu gewöhnen. Sozial isolierte Menschen sind besonders einfach zu manipulieren und zu steuern. Im Endergebnis richtet man Kinder ab, das zu tun, was eine Computerstimme ihnen sagt.
Welche Abläufe im Gehirn gerade auch von Kindern sind es, die bei der (intensiven) Nutzung von Tablets oder Smartphones das Potenzial bergen, eine Sucht hervorzurufen bzw. zu steigern?
Ralf Lankau: Wenn ich es vereinfacht ausdrücken darf: Wir haben ein körpereigenes Belohnungssystem, das bei positiven Erlebnissen körpereigene Hormone wie Dopamin ausschüttet. Lernprogramme und Computerspiele sind so programmiert, dass wir auf diese kurzfristige Belohnung hinarbeiten, kleine Rückmeldungen bekommen, Bestätigungen und Feedback. Das freut uns, das bekommen wir in kurzen Abständen. Ziel der Programme und Spiele ist es, uns möglichst lange am Bildschirm zu fesseln und dabei Benutzerdaten aufzuzeichnen. Ob wir dabei tatsächlich etwas lernen oder nur Zeit verplempern, ist völlig egal.
Die Methoden sind bei Spielen, Lernprogrammen und im Consumerweb identisch. Der Begriff dafür ist "User Experience Design". Und die Frage lautet: Wie müssen Oberflächen und Anwendungen gestaltet sein, damit sie uns möglichst lange online halten? Die Theorien und Modelle dafür kommen aus der Werbepsychologie und der Verhaltensforschung. Ziel ist immer, das wir tun, was dem Anbieter von Diensten oder Medien am meisten nutzt.
Wie können Eltern hier am besten vorsorgen?
Ralf Lankau: Dazu muss man wissen, dass die Mediennutzung von Kindern primär von den Eltern und dem engen Familienkreis geprägt wird. Das hat auch die Studie "BLIKK-Medien 2017" gezeigt, die kürzlich von der Drogenbeauftragten der Bundesregierung, Marlene Mortler (CSU), vorgestellt wurde.
Kinder machen schlicht nach, was ihre Eltern ihnen vormachen. Das gilt erfreulicherweise nicht nur für digitale Geräte, sondern etwa auch für Bücher. Wenn Eltern regelmäßig selbst Zeitung und Bücher lesen und vor allem ihren Kindern vorlesen, ist das der Grundstein für das eigene "Lesen wollen". Wenn die Eltern hingegen selbst vor allem Fernsehen und/oder an ihren Smartphones hängen, halten Kinder das für "normal" und übernehmen dieses Verhalten. Erleben Kinder dann noch, dass diese Geräte offenbar wichtiger sind als sie selbst, weil sich Eltern mehr mit ihren Smartphones beschäftigen als mit ihnen, ist der Weg in die eigene Fehlnutzung und Abhängigkeit abzusehen. Konkret wissen wir: Je gebildeter Eltern sind - was oft mit einer sozial höheren Stellung einhergeht -, desto später erlauben Sie in der Regel ihren Kindern die Nutzung digitaler Geräte, und das in der Regel nur unter Aufsicht und begleitet.
"Skandalöse Geldverschwendung"
In den USA soll die Digitaltechnik in Schulen sogar seit einiger Zeit wieder auf dem Rückzug sein.
Ralf Lankau: Ja, die Laptopklassen in den USA und übrigens auch in Australien werden wieder aufgelöst, obwohl dafür Milliarden Dollar ausgegeben wurden. Bereits 2007 wurde darüber berichtet, dass US-Schulen die Laptops wieder abgeschafft haben, nachdem man feststellen musste, dass sie oft ablenkten und didaktisch keinen Nutzen hatten.
Drei Jahre später berichtete zum Beispiel auch die SZ über den "Laptop-Flop" an so mancher US-Schule. Und vergangenes Jahr sammelte John Vallance, Direktor einer der teuersten Privatschulen Australiens, die Laptops an seiner Einrichtung wieder ein. Seiner Auffassung nach seien die 2,4 Mrd. Dollar, die der Staat für die Bestückung von Schulen mit den digitalen Geräten ausgegeben hatte, eine "skandalöse Geldverschwendung", nicht zuletzt weil die Schüler/innen alles Mögliche mit den Laptops gemacht hätten - nur nicht gelernt. Die Kinder überlisten die Internetsperren und spielen Computerspiele im Netz oder vertrödeln ihre Zeit mit YouTube-Videos. Darunter leiden sowohl die Schulleistung als auch die Sozialkontakte.
"Persönlichkeit und kritisches Denken brauchen immer ein konkretes Gegenüber"
Selbst Leute wie Christian Füller, immerhin Chefredakteur der Wochenzeitung Freitag mit linksliberalem Selbstverständnis, halten "die Digitalisierung der Pädagogik" für überfällig, denn sie ermögliche es, "das kritische Denken der Schüler, das Zusammenarbeiten, die Kommunikation und Kreativität [zu] fördern". Laut Füller werde beim Lernen mit digitalen Geräten "aus dem tiefen Verstehen und der Persönlichkeitsbildung eines Wilhelm von Humboldt copy, paste, remix und share."
Ralf Lankau: Was so alles publiziert wird… Das sind im Wortsinn sinnfreie Vokabeln, die ein vermeintlich modernes Verständnis von Pädagogik nur behaupten, aber nie einlösen können. Der Pädagoge - von griechisch paidagogós - ist vom Wort her "der Führer der Jugend". Diese Begrifflichkeit mag im Deutschen historisch negativ besetzt sein, das Wort "Führung" hoffentlich nicht. Denn Eltern und Lehrkräfte haben Führungsaufgaben und Verantwortung.
Pädagogen zeigen seit der Akademie von Sokrates und seiner "Hebammenkunst des Lernens durch Fragen" der Jugend den Weg in die Welt, und zwar durch das Gespräch und den Dialog. Nur dieser Dialog, sprich die Reflexion über das Gelernte, das Formulieren und Argumentieren in eigenen Worten, führt zum Verständnis einer Sache oder eines Sachverhalts und damit auch zum kritischen Denken. Persönlichkeit und kritisches Denken brauchen immer ein konkretes Gegenüber. Copy und Paste, Remix und Share sind oberflächliche Methoden mit austauschbaren, unwichtigen Inhalten. Es gibt viel Unsinn zum "digitalen Lernen", weil nicht verstanden wird, was der eigentliche Bildungsprozess ist. Er beginnt, wo angelerntes Faktenwissen endet und eigene Verknüpfungen aufgebaut werden.
Füller verweist auf eine Schule in Finnland, in der es seit einigen Jahren "Tablet-Computer gibt, die sich quer durch alle Fächer ausgebreitet haben". Laut deren Schulleiterin würden die tragbaren Geräte "den Schülern mehr Freude am Lernen" bereiten. Auch würde "das Lernen kooperativer, und mit Tablets teilen die Schüler ihr Wissen besser miteinander". Sogar "die Sportlehrerin nutzt ein Tablet als Filmkamera, um Schülerinnen ihre Übungen auf dem Schwebebalken vorzuspielen. Oder in Erdkunde setzen die Schüler die Geräte bei der Exkursion in die Eiszeit als Kamera, Tonbandgerät und E-Book-Generator ein." Macht dies nicht die Vorteile von Unterricht mit Digitaltechnik sichtbar?
Ralf Lankau: Nein, wieso? Dazu müsste man als erstes Kontrollklassen einrichten, in denen "rein analog" unterrichtet wird. Das wird aber nicht gemacht. Und letztlich wird zwar immer das gleiche behauptet, nämlich dass Digitaltechnik mehr Spaß, mehr Kommunikation und bessere Lernerfolge bringt - doch belegt ist davon wissenschaftlich nichts.
Im Übrigen erschöpft sich der "Spaß" beim Umgang mit digitalen Geräten schnell, wenn die Schüler/innen in jeder Unterrichtsstunde am Display wischen und tippen. Auch merken Kinder schnell, dass sie im Unterricht zwar medial bespaßt, aber nicht wirklich unterrichtet werden.
Unterricht an Schulen wird ja auch dadurch interessant, dass nicht alle Lehrerinnen und Lehrer den gleichen Unterricht machen und die gleiche (Medien-)Technik einsetzen. Nach den Forderungen der Kultusministerkonferenz zum Digitalpakt Schule sollen aber alle Lehrkräfte für alle Schulen und alle Fächer Digitaltechnik einsetzen müssen. Dabei wird übersehen: Lehrer/innen müssen einfach unterrichten wollen - und dafür brauchen sie Fachwissen und eine für die Lehrpersönlichkeit authentische Methodik, nicht Zwangsdigitalisierung und Zwangsstandardisierung über Fachinhalte hinweg. Unterricht wird fachlich, didaktisch und altersangemessen vorbereitet und gehalten. Medientechnik kommt ganz zum Schluss.
Es geht darum, Technik zu verkaufen
Ex-Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) ist dennoch voller Euphorie. So heißt es in seiner Broschüre "Digitalisierung und du": "Noch nie war Bildung so leicht zugänglich. Und noch nie hat Bildung so viel Spaß gemacht. Tablets im Unterricht, Webinare, virtuelle Workshops, Onlinekurse. Bildung ist oft nur einen Mausklick entfernt."
Ralf Lankau: Man muss nicht alles kommentieren, was Gabriel von sich gibt. Sein technisches Verständnis kenne ich nicht, sein pädagogisches Verständnis ist, nun ja, unterbelichtet. Bildung per Mausklick ist nicht mal als Werbebotschaft glaubwürdig. Aber vielleicht sieht er seine Aufgabe als Wirtschaftsminister darin, Werbung für IT-Unternehmen zu machen.
Die erwähnte BLIKK-Medien-Studie 2017 zieht das Fazit: Die intensive Nutzung digitaler Medien kann bei Kindern etwa zu Sprachentwicklungs- und Konzentrationsstörungen führen. Die Würzburger Medienpsychologin Astrid Carolus etwa relativiert die Ergebnisse dieser Studie. Hier würden nur statistisch signifikante Zusammenhänge zwischen der Nutzung digitaler Medien und bestimmten gesundheitlichen Folgen nachgewiesen, nicht aber eine klare Beziehung zwischen Ursache und Wirkung. Wird mit der BLIKK-Studie nur Panikmache betrieben?
Ralf Lankau: Fakt ist: Kinderärzte beobachten weltweit in ihren Praxen zunehmend mehr verhaltensauffällige oder -gestörte Kinder. Durch die Befragung der Eltern im Rahmen der BLIKK-Studie ist die zu frühe und lange Nutzung von Bildschirmmedien als eine mögliche Ursache identifiziert. In dieser Untersuchung wurde von den verantwortlichen Ärzten selber explizit darauf hingewiesen, dass ihre Studie statistisch signifikante Korrelationen, also mögliche Zusammenhänge, zeigt, aber keine eindeutige Kausalität belegt. Hier braucht also niemand eine Frau Carolus.
Um die Kausalität, also einen echten Ursache-Wirkungs-Zusammenhang, zu belegen, müssten die Kinder und Eltern in einer zweiten Studie über die nächsten zwei Jahre weiter geführt werden. Diese Längsschnittstudie ist beantragt, aber noch nicht bewilligt. Es ist also keine Panikmache der Kinderärzte, wenn sie methodisch und statistisch sauber argumentieren. Vielmehr sehen wir hier vermutlich wieder eine typische Abwiegelungsstrategien von Digitalbefürwortern, um sich nicht mit möglichen Folgen beschäftigen zu müssen.
Wenn Digitaltechnik in Schulen didaktisch und lernpsychologisch unnütz bis kontraproduktiv ist und dabei auch enorme Geldressourcen verschlingt - warum lehnen sich die Eltern dann nicht dagegen auf, geht es hier doch um die Ausbildung des Wertvollsten, was sie haben, nämlich die ihrer Kinder?
Ralf Lankau: Da sind ausgeklügelte Verkaufsstrategien und Angstmache am Werk. Seit fast 30 Jahren wird von der Politik im Verbund mit der IT-Wirtschaft und auch von vielen Presseorganen penetrant wiederholt, dass Schülerinnen und Schüler unbedingt an den jeweils aktuellen technischen Geräten arbeiten müssten, um Berufschancen zu haben. Das war schon so bei den ersten Computern im Jahr 1980 genau wie 1990 bei den - gescheiterten - Laptopklassen und auch im Jahr 2000 mit den Onlinerechnern und Web 2.0; und es ist auch heute so mit den Tablet- oder Smartboard-Klassen. Dabei geht es, da darf man sich nichts vormachen, letztlich um eines: Es soll Technik verkauft werden. Die pädagogischen Folgen sind nachrangig. Der Türöffner, um dies durchzusetzen, ist die Angst der Eltern.
"Wir müssen Kindern beibringen, was kein Rechner kann"
Wie wird diese Angsttür geöffnet?
Ralf Lankau: Es ist die Angst der Eltern davor, dass ihre Kinder benachteiligt sein könnten, wenn sie die Bedienung von Computern nicht gelernt hätten. Die Basis für diese Angst ist die Gewissheit, dass aktuell die erste Generation heranwächst, die keine sicheren Arbeitsplätze mehr haben wird und deren Eltern selbst befürchten müssen, sozial abzustürzen. Die Gesellschaft bricht sozial auseinander und insbesondere der Mittelstand kann seinen Kindern keine sichere Zukunft bieten. Das macht anfällig für - falsche - Versprechen.
Was müssten sich Eltern also besonders bewusst machen?
Ralf Lankau: Ich sage es mal ganz direkt: Alles, was man am Rechner lernen kann, um seinen Job zu machen, kann auch ein Rechner "lernen", um meinen Job zu machen. Daher müssen wir Kindern beibringen, was kein Rechner kann: freies, assoziatives Denken, Kreativität, Gemeinschaftsgefühl, Verantwortung für sich und andere. Und ja, den Deutschen fehlt das Gen zum Widerstand. Aber wenn es um die eigenen Kinder geht, wird man sich doch wohl aufraffen und wehren?
Was raten Sie Eltern, die den Digitalhype bei der Bildung kritisch sehen?
Ralf Lankau: Das erste und wichtigste ist: Schließen Sie sich zusammen. In Deutschland ist es leider üblich zu versuchen, kritische Eltern, Lehrkräfte oder Bürger zu diskreditieren und persönlich anzugreifen. Diskutieren Sie miteinander und mit den Lehrkräften an der Schule ihrer Kinder. Klar ist, dass viele Junglehrer/innen heute auch schon angefixt sind, wenn auch nicht alle.
Klar ist ebenso, dass bei Bewerbungen für Schulleitungen an öffentlichen Schulen in der Regel vom Schulamt nur solche Personen ausgewählt werden, die digitalaffin sind und versprechen, Digitaltechnik an der Schule durchzusetzen. Gehen Sie daher auch mit den Rektor/inn/en und Elternvertretern in den Clinch, die Digitaltechnik in die Schulen drücken wollen. Denn ein Elternteil, der sich widersetzt, reicht, um die Zwangsdigitalisierung zu verhindern.
Inwiefern?
Ralf Lankau: Zunächst empfiehlt es sich, sich in die Thematik einzulesen. Ein Vorteil des Internet ist ja, dass viele Studien und Aufsätze online zur Verfügung stehen. Dabei gilt es aber, relevante Studien von industriefinanzierten Studien zu unterscheiden. Als nächstes sollte man nach den Datenschutzrichtlinien und deren Umsetzung fragen.
Nach dem aktuellen Stand sind Daten von Schülerinnen und Schülern an deutschen Schulen nicht ausreichend geschützt. Die Schulen müssten regulär alle vom Netz. Allein, es fehlt der Kläger. Die Daten der Schülerinnen und Schüler an deutschen Schulen dürften rein rechtlich schon heute nicht getrackt, also nicht aufgezeichnet und ausgewertet werden. Hier gilt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Es dürfen, ohne Einwilligung der Eltern, auch keine Lernprofile von Minderjährigen erstellt werden. Nur lässt sich das mit Daten im Netz weder einhalten noch kontrollieren.
Daher sollten Eltern sich als erstes für ein deutsches COPPA stark machen, einen Children's Online Privacy Protection Act. Damit kann man die Daten seiner minderjährigen Kinder zumindest rechtlich so schützen, wie es amerikanische Eltern tun, und kann bei Verstoß dagegen klagen. Damit stört man zwar das Geschäftsmodell der IT-Monopole - aber das ist weder ein pädagogisches Problem noch das Problem von Eltern mit Schulkindern.