Technolust

Ein Denk- und Forschungstabu bis heute: die entscheidende Rolle der Sexualität bei der Durchsetzung neuer Technologien

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Wenn der Krieg der Vater aller Dinge ist, wie Heraklit meinte, wer ist dann die Mutter? Wenn also technischer Fortschritt unter modernen Umständen zumeist im Dunstkreis des militärisch-industriellen Komplexes seinen Anfang nimmt - welche Kräfte steuern die anschließende Integration in den zivilen Alltag, die Entwicklung der neuen Technologien zur Marktreife, ihre Anpassung an die Bedürfnisse des durchschnittlichen Konsumenten? Zweieinhalbtausend Jahre nach Heraklit findet sich eine eindeutige Antwort auf diese Frage im Internet.

Die üppigste Ausstattung mit leistungsfähigen Servern, die fortgeschrittenste Software zur Bild- und Tonkomprimierung, die avanciertesten Datenbanken zur Bild- und Kundenverwaltung, die verbraucherfreundlichsten Verfahren zum Online-Geldeinzug - das alles prägt nicht die Webauftritte der staatlichen Verwaltungen oder Großkonzerne und erst recht nicht die Sites irgendwelcher Verteidigungsministerien. Wer etwa über eine durchschnittlich langsame Internetverbindung verfügt und sich schnell ein paar Bilder oder Videos ansehen möchte, wird - zumindest technisch - am besten bei Anbietern von Erotika bedient. Seit das Netz graphisch und damit populär wurde, investierten sie großzügig, entwickelten eigenständig neue Software und holten aus der bescheidenen Bandbreite heraus, was herauszuholen war. Auf den Wegen, die die Porno-Pioniere bahnten, folgten andere Anbieter erst mit Abstand.

Das natürlich war nicht immer so, denn wie die Kunst geht auch die Technik nach Geld, und bevor Durchschnittskonsumenten ihre Kreditkarten zücken, müssen neue Technologien erst einen gewissen Reifegrad erreichen. Dementsprechend waren die Anfänge von Computer und Internet erst einmal keine erotisch-vergnügliche, sondern eine ernste Angelegenheit. Einzig große hierarchische Organisationen verfügten bis in die siebziger Jahre hinein über das nötige Kapital und wissenschaftliche Knowhow, um Mainframes zu betreiben. Die Nutzung dieser millionenteuren Geräte war streng nach Effizienzkriterien reglementiert, Zugang hatte ausschließlich eine kleine Elite von hochqualifizierten Mathematik-Mandarinen und High-Tech-Hohepriestern in antiseptisch-weißen Kitteln.

Am Anfang aller Wissenschaft, die uns in die digitale Epoche katapultierte, standen so zweifelsfrei militärische Interessen, staatliche Förderungsgelder und Initiativen von Großunternehmen. Am vorläufigen Ende dominieren der Markt, das Massenvergnügen und eine Vielzahl ungeplant aus dem Boden schießender Angebote. Im Rückblick hätte die Umfunktionierung der Computertechnik kaum radikaler ausfallen können: von hierarchischer Kontrolle zu anarchischer Vielfalt, von asketischer Effizienz zu hedonistischer Verschwendung, von einem Machtmittel im militärischen und ökonomischen Überlebenskampf zu einem Objekt, das auf vielerlei Art befriedigende soziale Erfahrungen ermöglicht. Diese Metamorphose geschah jedoch nicht plötzlich, nicht durch gewaltsame Usurpation, sondern sehr allmählich, durch stete Unterwanderung.

Der PC erobert die erogenen Zonen

Bereits 1962 erfanden Hacker am Massachussetts Institute of Technology das erste Computerspiel. Sie ersetzten damit, wie es Alluquere Rosanne Stone in ihrer Studie "The War of Desire and Technology at the Close of the Mechanical Age" beschreibt, erstmals im Umgang mit den Rechnern die Arbeitsethik durch Spielethik, das ökonomische Effizienzprinzip der kollektiven Organisationen durch das luxurierende Lustprinzip des Individuums.

Für den entscheidenden Entwicklungssprung sorgten dann jene jungen Männer, die in den Garagen von Silicon Valley den PC bastelten. Bis dahin hatte die Entwicklung der Computertechnik im Prinzip den autokratischen Vorgaben einzelner Geldgeber gehorcht, die das Wohl und den Gewinn des Staates oder anderer Großorganisationen im Kopf hatten. Nun folgte die Forschung immer stärker den Kräften des Marktes, den Interessen individueller Konsumenten. Die überraschendste, von keinem Futurologen vorhergesehene Wende kam schließlich mit der Bevölkerungsexplosion im Cyberspace, die das Internet von einem professionellen Kommunikationsmittel zum Unterhaltungsmedium werden ließ. Die größten Marktlücken, die sich dabei zuerst auftaten, lagen zweifelsfrei in den erogenen Zonen.

Neben Computer- und Fachfragen dominierte im wuchernden E-mail- und Wortwechsel der BBS- und Usenet-Diskussionsforen von Anfang an der Flirt und der Austausch über Sex; wobei zu den Wegbereitern neben generell Pubertätsgeladenen vor allem sexuelle Minderheiten gehörten, Homosexuelle und Lesben, S/M-Fans und Exhibitionisten, die in der Anonymität des Datenraums ihre soziale und geographische Isolierung überwinden konnten. Schnell auch wurde das Internet als das wohl effektivste Transportmedium für erotische Bilder erkannt, das der Homo sapiens entwickelt hatte, seit er die Wände seiner Höhlen mit pornographischen Szenen verzierte. Die sexuellen Sehnsüchte und Phantasien brachen sich naturwüchsig Bahn, lange bevor eine kommerzielle Nutzung einsetzte. Hobbyisten scannten Fotos aus Büchern und Magazinen ein und plazierten sie in diversen BBS, im Usenet und auf privaten Websites. Die gewerblichen Bilderhändler, vom häschen-harmlosen Playboy bis zu Hardcore-Lieferanten, zogen behende nach.

Das Internet bewährte sich jedoch nicht nur als gigantischer Speicher und überlegenes Distributionsmittel für vorhandene Erotika aller Arten. Seit den grauen ASCII-Vorzeiten der digitalen Kommunikation wurde es zugleich kreativ für lustbetonte Erfahrungen genutzt, wie sie außerhalb der Netze nicht möglich wären. Heute sind Cyberromanzen inklusive Netsex und bishin zu nachfolgenden Paarungen im Meatspace längst eine hunderttausendfache Selbstverständlichkeit. Bezeichnend für die kaum zu unterdrückenden sexuellen Interessen ist der Einfallsreichtum, mit dem die Teilnehmer selbst Umwelten, die dafür nicht geschaffen sind, sexualisieren. Dem japanischen "Habitat" zum Beispiel, entwickelt von einer Firma des Star-Wars-Regisseurs George Lucas und von Fujitsu betrieben, fehlte der Code für bestimmte sexuelle Stellungen. Das Designer-Team hinkte dem Liefertermin Monate hinterher und hatte nicht die Zeit, Praktiken wie die Missionarsstellung oder die A-tergo-Position einzuprogrammieren - ein Manko, das die 1,5 Millionen Cyberbürger von "Habitat" in praktischer Selbsthilfe bald kompensierten.

Tabu der Technikgeschichte

Umgekehrt proportional zur starken und in der Regel positiven Bedeutung des Verschmelzens von Sexualität und Technologie für Zigmillionen von Cyberbürgern verhält sich die veröffentlichte Wahrnehmung dieses Phänomens; sowohl in den Massenmedien wie in der Forschung. Während sich der populäre Journalismus auf spektakuläre Fälle von Kinderpornographie oder andere Ausnahmeverbrechen an der extremen Peripherie der Online-Sexwelle kapriziert, blieben wissenschaftliche Studien zum engen Verhältnis von Technik und Sexualität selten. Von Siegfried Giedions bahnbrechendem Buch "Mechanization Takes Command" (1948) bis zu Carroll Pursells "The Machine in America" (1995) - in der Technikgeschichtsschreibung herrscht verschämtes Schweigen. Dabei stellt die aktuelle Umfunktionierung digitaler Technik zu lustvollen Zwecken keineswegs eine Ausnahme dar. Spätestens seit der industriellen Revolution und der Ausbildung einer Konsumentenökonomie ist der sexuelle Gebrauch vielmehr die Regel.

"Die Straße entdeckt eigene Wege, die Dinge zu nutzen", schreibt William Gibson. Welche Basisinnovation des 19. oder 20. Jahrhunderts man nimmt: Von der Vulkanisierung ("Gummirevolution") über Fotografie und Film bis zu Phonograph oder Auto - praktisch jede Neuerung wurde, oft gegen den Widerstand selbsternannter Moralapostel, von den Konsumentenmassen zum sexuellen Vorteil genutzt und erst dadurch zum großen Geschäft. Das vielleicht schönste Beispiel für die sexuelle Adaptation von Techniken, die zu anderen Zwecken geschaffen wurden, bietet das Telefon. Vorgesehen war es für Geschäftstelefonate und die Übermittlung wichtiger Nachrichten, nicht für privaten Klatsch, Tratsch oder gar Sexgeflüster - all die Dinge also, die bald den privaten Gebrauch prägten. In den zwanziger Jahren widmeten sich ganze Benimm-Kolumnen den Gefahren akustischer Intimität: War es schicklich, mit einem Mann zu flirten, während man selbst im Bett lag oder nicht vollständig bekleidet war? Damit Telefonsex im eigentlichen Sinne möglich wurde, brauchte es allerdings die Selbstwählanlage, die das mithörende Fräulein vom Amt beseitigte. Die ersten kommerziellen, noch auf Vorkasse und Rückruf basierenden Angebote tauchten Anfang der achtziger Jahre in New York auf. Den letzten Stand stellen heute interaktive "Telefonwelten" dar, die mit computergesteuerten Anlagen operieren und in denen die Kunden sowohl mit professionellen Partnern wie untereinander dem Telefonverkehr huldigen können.

"Maschinen, Männer, Frauen - wir sind alle Teil des gewaltigen technischen Entwicklungsprozesses, den wir Realität nennen", sagt Sadie Plant, Autorin von "Zeroes and Ones: The Matrix of Women and Machines". Und diese Realität gehorcht mit zunehmendem Wohlstand immer unverhohlener dem Lustprinzip. 75 Prozent aller bespielten Kassetten, die Ende der siebziger Jahre verkauft wurden, als Videorecorder die Haushalte zu erobern begannen, waren sexuellen Inhalts. Ohne Pornographie, erkannten die Experten post festum, hätte sich das Medium genausowenig durchgesetzt wie später die Laserplatte, für die es auf Beschluß von Sony und Philips, den Unterhaltungskonzernen, die die Technologie kontrollierten, eben keine erregende Software gab. Sony scheint daraus gelernt zu haben und arbeitet für das neue interaktive DVD-Format eng mit der acht Milliarden Dollar Umsatz erzeugenden US-Pornoindustrie zusammen, berichtet Frank Rose in Wired: "Das sollten sie auch besser tun, da niemand sonst bislang einen überzeugenden Verwendungszweck für multiple Kameraperspektiven gefunden hat."

Die Tech-Sex-Symbiose

Der zwangsläufige Zusammenhang zwischen der kommerziellen Durchsetzung innovativer Technologien und sexuellen Bedürfnissen ist selbstverständlich niemandem vertrauter als den Sex-Unternehmern selbst. "Neue Technologien werden immer von dem Interesse der Verwerter an Sex vorangetrieben", sagt Bob Guccione, Herausgeber von Penthouse. "Das ist ganz natürlich."

Charles Darwin hätte ihm vermutlich zugestimmt. Denn er wußte, daß die natürliche Selektion, das Überleben des Stärkeren, mit dem sein Name unwiderruflich verbunden wird, den Prozeß der Evolution nur zum Teil erklärt. Wenn allein die Stärkeren überleben, warum gibt es dann voluminöse Pfauenschweife, die ihre Träger zu einfachen Opfern für die natürlichen Gegner machen? Und warum gibt es die menschliche Nacktheit, die nur Nachteile im Überlebenskampf bot?

Die Evolution schuf eine Vielzahl von Charakteristika, die im direkten Widerspruch zur natürlichen Selektion standen. Um sie zu erklären, ergänzte Darwin 1871 in "The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex" sein Diktum von der natürlichen Selektion, vom kämpferischen "survival of the fittest", durch ein zweites, allemal so mächtiges Prinzip: die sexuelle Selektion. Sie besagt, daß im Binnenverhältnis sozialer Gruppen Attraktivität allemal so wichtig ist wie Stärke. Pfauen mit großen Schweifen zum Beispiel pflanzen sich ihren Schwächen im physischen Überlebenskampf zum Trotz hervorragend fort, weil Pfauenweibchen bunte Schweife mögen und ihre Träger gegenüber Männchen mit weniger spektakulären Schweifen bevorzugen. Ähnliche Präferenzen, nahm Darwin an, beförderten den Verlust des menschlichen Fells. Er brachte, wie Timothy Taylor in seiner "Prehistory of Sex" schreibt, einen Zuwachs an "sexueller Haut".

Entscheidend aber wurde die sexuelle Selektion für die Evolution des Menschengeschlechts mit dem aufrechten Gang. Er gab die Hände frei für Werkzeug- und Waffenproduktion, und er schuf in Brustkorb und Lunge die Voraussetzungen für kompliziertere Lautfolgen, für die Entwicklung von Sprache und damit von Literatur und Kunst. Der physischen Attraktivität gesellte sich nun die kulturelle hinzu. Technik und Handwerk korrigierten die schiere Natur. Kleidung und Kosmetika, die primäre Geschlechtsmerkmale teils verführerisch verhüllten, teils demonstrativ hervorhoben, rechnet Taylor zu den ersten menschlichen Produkten. Mit ihnen begann, was bis heute die Durchsetzung von PCs und Internet bestimmt: Technologien, künstliche Ausweitungen der körperlichen Möglichkeiten des Homo sapiens, gingen mit seiner Sexualität eine symbiotische Beziehung ein.

Wer intelligent und geschickt war, ob er nun gut jagen oder wertvolle Gegenstände basteln konnte, ob rechnen, musizieren oder Geschichten erzählen, erlangte sexuelle Vorteile. Den kulturellen Kriterien der sexuellen Selektion entsprechend, wuchs in den ersten 1,4 Millionen Jahren, die Hominiden aufrecht verbrachten, das Gehirn kontinuierlich, bis es vor 150 000 Jahren die gegenwärtige Maximalgröße erreichte. Dieser Zusammenhang der sexuellen Selektion mit Kunst und Technik hat sich bis heute nicht verloren, im Gegenteil: In der entwickelten Konsumgesellschaft, die materielle Not und physischen Überlebenskampf wie noch nie in der Menschheitsgeschichte beseitigt hat, setzt sich das Streben nach Lust ungehemmter denn je durch. Immer weniger steuert der Staat die technische und künstlerische Entwicklung, immer stärker regieren der Markt und das unverstellte Interesse der Käufermassen. Sie erwerben und genießen, was über Hunderttausende von Jahren evolutionäre Vorteile verschaffte - alles, was sexuell attraktiv ist oder macht.

Ein Einwand gegen die These, die sexuelle Selektion stecke hinter der Durchsetzung von Technik, liegt auf der Hand: Ein Großteil der Verfahren und Waren dient nicht der Fortpflanzung. Das stimmt für Kontrazeptionsmittel oder für pornographische "Onanievorlagen". Der Einwand jedoch übersieht die Besonderheit menschlicher Sexualität: den "Sex for Fun", wie der Evolutionsbiologe Jared Diamond formuliert. Die überwiegende Mehrheit aller sexuellen Kontakte dient unserer Spezies nicht zur Reproduktion, sondern zum Vergnügen. Und auch das hat seinen evolutionären Sinn.

Die Größe menschlicher Gehirne erfordert die Frühgeburt des Nachwuchses, der erst außerhalb des Mutterleibs zur Lebenstüchtigkeit reift. Bei Jägern und Sammlern lag die Stilldauer bei vier Jahren - eine lange Zeit, in der es für Männer, die an der Verbreitung ihrer Gene interessiert waren, wenig Sinn machte, bei Frau und Nachwuchs auszuharren. Der in der Tierwelt einzigartige "Sex for Fun" war das Lockmittel, das die Unterstützung des Mannes bei der Aufzucht des Nachwuchses sicherte. Insofern standen und stehen auch jene Techniken im Kontext der sexuellen Selektion, die nicht direkt der Fortpflanzung dienen, aber das sexuelle Zusammenleben stabilisieren - ob nun Kondome oder die Pille, ob Brustimplantate, Dildos, Vibratoren oder Penisstimulatoren, ob lasergesteuerte vaginale Verjüngungstherapien, gefühlsechte High-Tech-Silikon-Sexpuppen wie Realdoll, "der Rolls Royce unter den Sex Toys", oder eben das Internet, diese Mischung aus globalem Balzplatz und Supermarkt sexueller Spezialitäten.

Von der Peep- zur Geek-Show

Die Berichte von Ehepaaren, die sich in Chatrooms kennen- und liebenlernten, gehören derweil genauso zur Cyberfolklore wie die Erfolgsgeschichten der Sex-Selfmade-Millionäre. Neben Tausenden von "normalen" Internethändlern, die wesentlich von der Liebe leben - Blumenläden, Grußkartenversender, Juweliere -, haben sich erotische Dienstleister en Gros etabliert. Es gibt Super-Dating-Services wie match.com mit 1,3 Millionen zahlenden Mitgliedern, und es gibt Krauter wie Jens Rosenthal, der Gehemmten die Qual des Liebesbriefes abnimmt. Es gibt Hochzeitsausstatter wie theknot.com, und es gibt vor allem die Anbieter von pornographischen Bildern und Videos.

Mit dieser Billigware werden im Netz die drittgrößten Umsätze erzielt, nach Online-Trading und E-Handel, der ja Computer, Unterhaltungselektronik und andere hochwertige Wirtschaftsgüter umfaßt. Populäre Sites wie "Hard Drive" der Ex-Stripperin Danni Ashes verzeichnen drei Millionen und mehr Hits pro Woche. "Der Videorecorder veränderte die Porno-Industrie so radikal, wie es niemand vorhersehen konnte, indem er ein gewaltiges Bedürfnis für ein ganz neues Produkt kreierte. Das Web ist dabei, genau dasselbe zu tun", sagt Christophe Pettus, Präsident des Eroscan Index, einer Suchmaschine, die gerne das Yahoo der Sexindustrie werden möchte. Vielversprechende Anfänge sind gemacht. Allein die kalifornische Pornoindustrie erwirtschaftete 1998 über fünf Milliarden Dollar, davon 875 Millionen Dollar bereits online.

"Die Popularität der Internet-Pornographie", sagt Mark Kernes, ein Porno-Aktivist, der gegen gesetzliche Einschränkungen streitet, "sorgt ganz wesentlich dafür, daß bestimmte Technologien so weit wie möglich entwickelt werden, zum Beispiel Live-Video." Mit seiner positiven Sicht spricht er einer klaren Mehrheit der Online-Bevölkerung aus dem heißen Herzen. Denn MSNBC-Umfragen ergaben, daß nicht nur die meisten männlichen Cybernauten, sondern ebenso die gute Hälfte aller Frauen, die online sind, regelmäßig Sexsites besuchen. Dieselbe Umfrage verrät allerdings auch, daß 75 Prozent aller Surfer dazu neigen, ihre Sexsuche vor Freunden, Kollegen und Verwandten geheim zu halten. Das zeugt von schlechtem Gewissen, ändert aber nichts an den ökonomischen Konsequenzen.

Die Langsamkeit der realexistierenden Verbindungen und die ihr geschuldete Zuckeligkeit der nicht lupenreinen, sondern lupenkleinen Videos legt allerdings nahe, daß es kaum die technische Qualität des Internetangebots ist, die es so populär macht. Neben der relativen Anonymität des Zugangs und der Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit besteht der zentrale Reiz in der Möglichkeit zur Interaktion - glauben jedenfalls die Gurus der Branche. Ihr Ziel ist folgerichig eine Erhöhung der Bandbreite bis zu einem Punkt, der die Übertragung der Fotos und Videos in TV-Qualität erlaubt und gleichzeitig das Potential zur Interaktion erhöht.

Schon heute können bei Live-Shows die Kunden mit den strippenden oder kopulierenden Personen kommunizieren, via Chatsoftware oder Telefon. Wer zahlt, hat dabei das Sagen, welche Hüllen fallen und welche Körperteile in Großaufnahme gezeigt werden. In naher Zukunft soll darüberhinaus telematisch möglich sein, was bislang nur Sex-CD-Roms und DVDs bieten: die Freiheit der Kunden, Kameraperspektiven und Positionen zu kontrollieren, die Möglichkeit also, sich je nach Lust das befriedigendste Erlebnis zusammen zu montieren.

Die Objekte solcher Cyberbegierden können professionelle Pornodarsteller sein oder Amateure und Gleichgesinnte, die sich über audiovisuelle Verbindungen an entsprechenden Treffpunkten versammeln. Daß diese exhibitionistische Sehnsucht weltweit besteht, dafür lieferte vergangenes Jahr ausgerechnet Microsoft den Beweis. Um den Marktanteil seiner Netmeeting Videokonferenzsoftware zu erhöhen, verteilten Gates' Marketender reichlich Gratiskopien und stellten auf den firmeneigenen Servern Treffpunkte zur Verfügung. Das Ergebnis war jedoch keineswegs eine Flut virtueller Geschäftskonferenzen, sondern "eine vierundzwanzigstündige internationale Sexorgie, deren Gastgeber Microsoft ist", wie Andrew Leonard seine Erfahrungen in Salon beschrieb.

Daß Microsoft augenscheinlich die radikale Umfunktionierung der neuen Technik für sexuelle Zwecke nicht erwartet hatte, zeugt von Blauäugigkeit. Schon Tim Dorcey, einer der Programmierer der frühen CU-SeeMe-Software, klagte: "Die Herausforderung, der wir uns gegenübersehen, besteht darin, daß die enthusiastischsten Erstanwender dieser Sorte von Technologie primär an sexuellen Inhalten interessiert sind." Und John Becker, Ex-Student der Cornell Universität, in deren Labors CU-SeeMe entwickelt wurde, erinnert sich gut an jene Nacht 1994, als sich vor den Augen der versammelten Wissenschaftler die Kluft zwischen der rational-ökonomischen Planung von Eliten und der erotisch-verschwenderischen Nutzung durch die Normalmenschheit auftat: Ein japanisches Paar loggte sich ein, entkleidete sich und begann sich zu lieben. Ohne jede wissenschaftliche Relevanz und bar irgendeines Geschäftsmodells, einfach nur so zum Spaß.