Teile und herrsche
Wie Pakistan verhindern könnte, dass aus der "islamischen Bombe" eine "islamistische Bombe" wird
Pakistan entstand aus einer religiösen “Säuberung”. 1930, als sich das Ende der britischen Kolonialherrschaft langsam abzuzeichnen begann, formulierte der indische Islamist Sir Muhammad Iqbal, der in München über die Entwicklung der Metaphysik in Persien promoviert hatte, die Idee eines separaten islamischen Staates auf indischem Boden. Der Nietzsche-Experte und vehemente Gegner einer Trennung von Staat und Religion hielt den Islam für inkompatibel mit anderen Bekenntnissen.
Drei Jahre später schlug Choudhary Rahmat Ali in seiner Pakistan Declaration einen Namen vor, der sich aus den Anfangsbuchstaben der Gebiete Punjab, Afghanistan, Kaschmir, Sindh und der Tan-Endung für Belutschistan ergab. Darüber, ob das „I“ für den Iran stehen, oder ob es nur der bequemeren Aussprache dienen sollte, gibt es geteilte Ansichten. Unstreitig ist dagegen, dass der Name in Urdu und Farsi „Land der Reinen“ bedeutet.
Der Moslemführer Muhammad Ali Jinnah stand Iqbals Thesen erst skeptisch gegenüber, übernahm aber die Doktrin in der so genannten „Lahore-Resolution“ von 1940, in der die All India Muslim League Abschied von Ghandis Vorstellung eines einigen Indien nahm und die Gründung eines explizit islamischer Staates beschloss, der „Heimstatt“ für alle Moslems der Kronkolonie sein sollte. Jinnah begründete diesen Anspruch in seiner "Zwei-Nationen-Theorie":
„Hindu und Moslem hängen verschiedenen Religionen, Philosophien, Bräuchen und Schriften an. Sie heiraten nicht untereinander, essen nicht miteinander und gehören in der Tat zwei verschiedenen Zivilisationen an, die überwiegend auf sich widersprechenden Ideen und Begriffen basieren. Ihre Vorstellungen vom Leben und über das Leben sind verschieden [...]. Oft ist der Held der einen der Schurke der anderen und der Sieger des einen der Besiegte des anderen Das gemeinsame Einspannen zweier solcher Völker in ein Staatsjoch […] muss zu wachsender Unzufriedenheit und schließlich zur Zerstörung all dessen führen, was zur Regierung eines solchen Staates geschaffen wurde.“
Ghandi und die Kongresspartei plädierten dagegen weiter für einen säkularen Staat und lehnten die „Zwei-Nationen-Theorie“ vehement ab. Jinnah rief daraufhin am 16. August 1946 einen "Direct Action Day" aus, bei dem in der bengalischen Hauptstadt Kalkutta mehrere tausend Hindus von Moslems getötet wurden. Danach ließ sich die Kolonialmacht im Indian Independence Act auf die Vorstellungen Ali Jinnahs ein.
Die Erbsünde des pakistanischen Staatsgebildes
Am 14. August 1947 wurde der Staat Pakistan ausgerufen. Seine genauen Grenzen legte man erst kurz darauf fest. Während und nach der Staatsgründung wurden Millionen Hindus und Sikhs aus den Gebieten, die der neue Staat für sich beanspruchte, vertrieben. In die leeren Häuser zogen Moslems aus anderen Teilen Indiens ein, wo es als Reaktion auf die Vertreibung ebenfalls zu Gewaltakten kam. Im Punjab verliefen die Vertreibungen gewalttätiger und umfassender als im Sindh. Während dort kaum ein Hindu oder Sikh verblieb, überlebte im Sindh etwa ein Drittel der Hindus, ohne den Wohnort wechseln zu müssen. Die Zahl der durch den Vertreibungsterror ums Leben gekommenen liegt zwischen 200.000 und einer Million.
Das Fürstentum Jammu und Kaschmir war, ähnlich wie der Punjab, religiös dreigeteilt: Jammu war mehrheitlich hinduistisch und Ladakh buddhistisch. Insgesamt bestand in dem an Pakistan grenzenden Fürstentum aber eine moslemische Bevölkerungsmehrheit. Obwohl der durch ein Eindringen paschtunischer Stammeskrieger aus Pakistan unter Druck gesetzte Maharadscha, dem die Kolonialverwaltung die Entscheidung überlassen hatte, für einen Verbleib bei Indien votierte, berief sich Pakistan auf den Präzedenzfall Junagadh (einem Duodezfürstentum, dessen moslemischer Herrscher trotz überwältigender Hindu-Bevölkerungsmehrheit für eine Zugehörigkeit zu Pakistan votiert hatte, was eine indische Invasion zur Folge hatte), machte einen Anspruch auf ganz Jammu und Kaschmir geltend und unterstrich dies mit einem Einmarsch. Seitdem hält Pakistan die Nordgebiete (Karakoram) und das "Azad Kashmir" besetzt, während Indien Jammu, den größten Teil Ladakhs, aber auch zahlreiche Gebiete mit moslemischer Bevölkerungsmehrheit kontrolliert. China besetzte 1962 Demchok, Aksai-Chin und das Shaksam-Tal - allesamt buddhistische Gebiete. 1965, 1971 und 1999 kam es zwischen Indien und Pakistan zu Kriegen, wobei es jedes Mal um Kaschmir ging.
Durch eine 1956 verabschiedete Verfassung wurde Pakistan eine „islamische Republik“ – mehr als 20 Jahre vor dem Iran. Diese „islamische Republik“ erlebte abwechselnd gewählte Regierungen und Militärdiktaturen. 1958 übernahm Muhammad Ayub Khan, ein Paschtune aus dem Tareen-Stamm, im Rahmen eines Militärputsches die Macht, die er 1969 an General Yahya Khan, einen Nachkommen persischer Kizilbasch weiter gab. Als bei den Wahlen 1971 die bengalischen Nationalisten die Mehrheit erlangten, weigerte sich Khan, das Ergebnis anzuerkennen, was schließlich zur Abspaltung des bengalischen Teil Pakistans unter dem Namen Bangla Desh führte.
Die „islamische Bombe“
1972 startete Pakistan ein Atomprogramm, dessen erfolgreicher Abschluss der Weltöffentlichkeit 1998 mit unterirdischen Tests demonstriert wurde. Experten vermuteten, dass Pakistan bereits seit den frühen 1980er Jahren über Kernwaffen verfügte, ohne dies jedoch bekannt zu machen. Die Verantwortung für den Bau dieser „islamischen Bombe“ trugen auch die USA. Sie hatten das Land seit den 1950er Jahren mit umfangreichen Finanz- und Militärhilfen ausgestattet, die auch nach dem Bekannt werden des Atomwaffenprogramms nicht angepasst wurden. Hintergrund war die Nutzung der „islamischen Bombe“ zur Abschreckung der Sowjetunion und ihres Verbündeten Indien.
Ein Staatsvolk von 8 %
Mit der Unabhängigkeit Bangla Deshs 1971 fiel die identitätsstiftende Grundlage des Vielvölkerstaates – eine „Heimstatt“ für die indischen Moslems zu sein – zum Teil weg. Faktisch waren die Moslems des Subkontinents jetzt zu fast gleichen Teilen auf drei Staaten verteilt. 1973 gab sich Pakistan eine föderale Verfassung: Neben den vier Provinzen Belutschistan, North Western Frontier Province (NWFP), Punjab und Sindh verblieben drei Gebiete, die nominell unter Bundesverwaltung standen: Die Hauptstadt Islamabad, der pakistanisch kontrollierte Teil Kaschmirs und die paschtunischen Stammesgebiete westlich der NWFP. Während die staatliche Kontrolle in der Hauptstadt gut und in den meisten Teilen Kaschmirs wenigstens leidlich funktionierte, war sie in den Stammesgebieten rein nominell.
Das eigentliche pakistanische Staatsvolk, die aus dem indischen Kernland übergesiedelten Muhadschir, denen auch der derzeitige Präsident Pervez Musharraf angehört, bildet nur eine Minderheit von 7-8% der Bevölkerung. Sie leben fast ausschließlich in den Städten, sind in den politischen und wirtschaftlichen Eliten überdurchschnittlich stark vertreten und sprechen die Amtssprache Urdu auch als Muttersprache. Dem Rest der Bevölkerung dient die in arabischer Schrift geschriebene Variante des zentralindischen Hindi lediglich als Verkehrssprache.
Die größte Volksgruppe in Pakistan sind die Punjabi, die etwa die Hälfte der Bevölkerung stellen. Unter ihnen ist das transnationale Gemeinschaftsgefühl mit ihren indischen Nachbarn, die zwar die gleiche Sprache sprechen, aber mehrheitlich Sikhs und Hindus sind, wenig entwickelt..
In allen anderen Gruppen gibt es dagegen mehr oder weniger erfolgreiche Unabhängigkeitsbewegungen. Unter den Sindhi, die etwa 15 % der Bevölkerung ausmachen, fordern Nationalisten mit friedlichen Mitteln ein unabhängiges Sindhu Desh. Eine ähnliche Forderung, aber mit anderen Mitteln, stellen östlich des Sindh die Belutschen - ein in Stämme gegliedertes iranisches Volk mit etwa drei Prozent Bevölkerungsanteil. In Belutschistan kam es 1948, 1958 und 1973-77 zu separatistischen Aufständen. Seit 2005 führt die "Belutschische Befreiungsarmee" einen Guerillakrieg gegen die Zentralregierung.
Wie die Belutschen sind auch die Paschtunen nicht dem indischen, sondern dem persischen Kulturkreis zuzurechnen. Beide Völker sprechen iranische Sprachen, sind in Stämme gegliedert und leben auch in großer Zahl jenseits der Grenzen im Iran und in Afghanistan. Vor allem bei diesen beiden Völkern spielt eine nationale pakistanische Identität neben religiösen, Stammes- und Volksidentitäten kaum eine Rolle.
Von den insgesamt 33 Millionen Paschtunen, die auf Urdu „Pathan" und auf Farsi „Afghan“ heißen, leben nur etwa 13 Millionen in Afghanistan (wo sie mit 40% die größte Einzelgruppe sind), aber mindestens 20 Millionen in Pakistan, vor allem in der NWFP, in den Stammesgebieten („Federally Administered Tribal Areas“ - FATA) und im Norden Belutschistans. Die Briten teilten ihr Siedlungsgebiet, das "Pakhtunkhwa" 1893 mit der Durand-Linie, die 1947 durch das pakistanische Staatsgebilde perpetuiert wurde. Die Existenz der Stammesgebiete ist eigentlich eine Armutserklärung des pakistanischen Staates, der dort lediglich ein "failed state" ist und über den Geheimdienst ISI einen zweifelhaften Einfluss ausübt, von dessen „Gewaltmonopol“ in den FATA aber sonst nichts zu spüren ist.
Stattdessen herrschen Stammesfürsten und die offiziell verbotenen Jirga-Räte. Das Recht, dass sie sprechen, ist nicht vom pakistanischen Parlament gesetzt, sondern orientiert sich an der Scharia und am Paschtunwali, einem Stammesgesetz, ähnlich dem gegischen Kanun. Die Stämme sind häufig miteinander verfeindet – was aber nicht heißt, dass gegenüber Eindringlingen von Außen keine Abwehridentität greifen würde. Ein paschtunisches Sprichwort lautet:
„Ich kämpfe gegen meinen Bruder. Mein Bruder und ich kämpfen gegen unseren Vetter. Mein Vetter, mein Bruder und ich kämpfen gegen den anderen Stamm. Der andere Stamm, mein Vetter, mein Bruder und ich kämpfen gegen die Fremden.“
Wahabismus durch die hanafitische Hintertür
In Pakistan leben fast ausschließlich Moslems. Neben den im Sindh verbliebenen Hindus, gibt es in den Städten etwa 1,5 % Christen. Vor allem Hindus, aber auch Christen sind regelmäßig Übergriffen ausgesetzt, die häufig nicht geahndet werden. Ebenfalls einem steigenden Verfolgungsdruck ausgesetzt sind die etwa 15 % Schiiten, die vor allem in den Nordgebieten und in den Großstädten leben.
Der weitaus größte Teil der pakistanischen Bevölkerung hängt der größten der vier sunnitischen Rechtsschulen an, dem Hanafismus. Doch der ist dort keineswegs eine Einheit, sondern spiegelt die ethnische Zerrissenheit des Landes wieder: Die zahlenmäßig bedeutendste sunnitische-hanafitische Gruppe sind die Barelwis, eine Mischung aus hanafitischer Rechtsschule und Sufismus. Sie dominieren im Sindh und im Punjab.
Die Gegner der Barelwis sind die Deobandis, eine Art inoffiziell wahabitische Version des Hanafismus: Anders als die Barelwis betrachten die Deobandis die Gräber- und Heiligenverehrung als un-islamisch und orientieren sich in der Auslegung des Koran stark an der Welt des 7. Jahrhundert. Ihre stärkste Basis haben sie unter den Paschtunen. Ahmed Rashid zufolge trieben die fast ausschließlich paschtunischen Taliban diese Tendenz des Deobandismus ins Extrem, wobei sie paradoxerweise wahabitischer als die eigentlichen Wahabiten wurden und die Religion so auslegten, dass unter anderem Filme, Fernsehen, Kameras und Internet „haram“ waren.
In den paschtunischen Gebieten ist der radikale Deobandismus ungleich stärker als in den anderen Landesteilen. Die islamistischen Parteien, die sich zum Bündnis Muttahida Majlis-e-Amal (Vereinigte Aktionsfront; MMA) zusammenschlossen, sind nur in Belutschistan und in der Nordwestprovinz wirklich erfolgreich. In Belutschistan haben sie im paschtunisch besiedelten Norden ihre breiteste Basis, in der Nordwestprovinz, in der die Paschtunen die Bevölkerungsmehrheit stellen, gelangten sie 2002 durch Wahlen an die Macht.
Im pakistanischen Militär und im Geheimdienst ISI sind die Paschtunen stark vertreten, was einen Militärputsch immer auch zu einem besonderen Risiko macht. Dieses Risiko könnte Pakistan eindämmen, wenn es sich zu einem späten Akt der Entkolonialisierung entschließen würde.
Während eine Entlassung Belutschistans in die Unabhängigkeit einen Verzicht auf Gasvorkommen bedeuten würde, wäre eine Entlassung der Paschtunengebiete in die Unabhängigkeit nichts anderes als eine Anerkennung der normativen Kraft des Faktischen. Und es würde den Einfluss der radikalen Islamisten sowie ihren potentiellen Zugriff auf Kernwaffen mit einem Schlag zurückdrängen.
Die wichtigsten pakistanischen Atomanlagen (Kahuta, Khusab und das Pinstech in Rawalpindi) befinden sich nämlich im Punjab. Bei einer Entlassung der Paschtunengebiete in die Unabhängigkeit könnte sich Pakistan also auf relativ einfache Weise eines großen Teils seiner radikalen Islamisten entledigen, ohne auch sein nukleares Arsenal aus der Hand geben zu müssen. Die Sowjetunion machte bereits vor, wie so etwas relativ reibungslos vonstatten gehen kann.