Terrorismus in Lateinamerika

Eine Frage der Definitionsmacht

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Während die medial gesteuerte Öffentlichkeit seit dem 11. September die USA und den mittleren Osten fokussiert, wirkt sich die weltpolitische Eskalation auch auf ganz andere Regionen und Konflikte aus, die im Westen eher marginal wahrgenommen werden. In Lateinamerika beispielsweise sehen sich MenschenrechtsaktivistInnen, soziale Bewegungen und DissidentInnen des Neoliberalismus seit neuestem schnell mit einem pauschalen Terrorismusverdacht konfrontiert. Ein genauerer Blick nach Kolumbien, Ecuador und Mexiko wirft allerdings die Frage auf, ob es nicht vielmehr die bestehende Ordnung ist, die mit terroristischen Mitteln aufrechterhalten werden soll.

"Das, woran man die Stadt immer erkennt, woran man sich erinnert, wenn man den Hautpilz und die Hitze schon lange vergessen hat, sind die Flammen, das Feuer über der Raffinerie, das unruhige Züngeln in Orange, gelb und blau hoch über den Dächern. Die Erdölfackeln tauchen weit vor den vier- oder fünfstöckigen Hotels im Zentrum, den Bohrtürmen, Tanks und Militärposten auf, die an den Einfallstraßen zu sehen sind. ... Die Ortschaft, die nur aus einstöckigen Baracken zu bestehen scheint, liegt im Halbdunkel, trotz ihrer angeblich 400 000 Einwohner und der größten Raffinerie im Land. In vielen Vierteln kein Strom, weil das Kraftwerk zu klein oder unterversorgt ist oder die Leitung wieder einmal unterbrochen. ... Der Bus schaukelt unruhig. Man sieht die schwingenden Glühbirnen der Billardsalons, die dunkle, vom Schweiß glänzende Haut der Passanten, die kleinen Pulks vor den Kneipen, den cantinas, und spürt, dass das eine Begegnung st, ein nervöser Zusammenstoß, die Wiederkehr einer Leidenschaft, die man einfach nicht los wird. Diese Stadt ist Barrancabermeja."

Barrancabermeja, hier beschrieben von Raul Zelik in seinem Roman La Negra, ist die Heimatstadt von Ana Rueda und Pablo Arenales. Ana Rueda arbeitet für die Frauenbasisorganisation Organización Femenina Popular (OFP), bei der seit Anfang des Jahres insgesamt 45 Todesdrohungen eingegangen sind, und die für ihr Engagement im Oktober den deutschen UNIFEM-Preis des Frauenentwicklungswerks der Vereinten Nationen erhalten hat. Der 29jährige Pablo Arenales ist bei CREDHOS aktiv, einer Menschenrechtsorganisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, GewerkschafterInnen, StudentInnen, Jugendliche und andere soziale Aktivisten gegen staatliche und parastaatliche Angriffe öffentlich zu verteidigen. Bisher sind seit Gründung der Organisation 1987 sieben MitarbeiterInnen von CREDHOS ermordet worden. Einmal war Arenales selbst bereits in der Gewalt von Paramilitärs, er konnte nur durch einen Zufall entkommen, dem er vermutlich sein Leben verdankt.

Denn Barranca, wie die KolumbianerInnen sagen, liegt in einem der am härtesten umkämpften Gebiete im seit über vierzig Jahren andauernden Bürgerkrieg, und verzeichnet Rekordraten an politischen Morden. Dies liegt vor allem daran, dass die Stadt sich auch in einer der reichsten Regionen des Landes befindet: Neben Erdölreserven beherbergt der Magdalena Medio die drittgrößte Goldmine der Welt, umfangreiche Kohlevorkommen, die wichtigste Wasserstraße des Landes, Viehzucht, eine große Biodiversität und auch Anbauflächen für Koka. Bis vor zwei Jahren gehörte Barrancabermeja zum Einflußgebiet der zweitgrößten Guerilla des Landes (Ejército de Liberación Nacional - ELN), bevor diese sich aufgrund massiver Angriffe paramilitärischer Gruppen zurückziehen musste. Diese privaten Milizen, meist unter der Hand von Großgrundbesitzern oder großen Unternehmen finanziert, sind in Kolumbien für die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. (zur Situation in Barranca)

Seitdem die ELN zurückgedrängt wurde, ist die Region extrem militarisiert, und Polizei und Soldaten prägen auch das Straßenbild von Barrancabermeja. Allerdings bedeutet die verstärkte Präsenz der Staatsmacht alles andere als mehr Sicherheit für die Bevölkerung. Denn neben den Uniformierten üben auch Paramilitärs eine engmaschige soziale Kontrolle aus. Pablo Arenales vergleicht: "Als es in der Stadt noch bewaffnete Auseinandersetzungen mit der Guerilla gab, starben bei Angriffen auf Militärkonvois oder Kasernen leider auch unbeteiligte Zivilisten. Doch seitdem die Paramilitärs hier das Sagen haben, hat sich die Zahl der Toten verdoppelt: allein im letzten Jahr sind in Barranca 573 Menschen ermordet worden, das entspricht einem Toten alle 16 Stunden."

Die Paramilitärs intervenieren vor allem gegen die politische und soziale Organisierung von Bevölkerungsgruppen für ihre eigenen Belange - denn die Erdölstadt Barrancabermeja hat auch eine lange Tradition sozialer Kämpfe. Während die Bevölkerung mithilfe von Bürgerstreiks (paros cívicos) z.B. die Gründung einer Universität und die Verbesserung der städtischen Dienstleistungen durchgesetzt hat, operieren die Milizen mit Einschüchterung und Terror, um künftig öffentliche Proteste im Keim zu unterbinden: "Immer wieder kommt es vor, dass sie Menschen vor den Augen ihrer Nachbarn und Angehörigen zerstückeln, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Sie dringen bis in die Privatsphäre der Leute ein, treiben z.B. Ehebrecherinnen nackt und mit einem Schild um den Hals durch die Straßen, oder zwingen Familien mit Waffengewalt, für sie zu kochen und Wäsche zu waschen", erklärt Ana Rueda.

Es gibt zahlreiche Hinweise für eine Komplizenschaft der offiziellen Sicherheitskräfte mit den Paramilitärs. Zum Teil ereignen sich die Morde und Entführungen direkt vor den Augen der Uniformierten, die sich jedoch weigern, einzugreifen, oder kurzfristig verhaftete Paramilitärs sofort wieder auf freien Fuß setzen. Wer nach Drohungen Anzeige erstattet oder die Polizei um Hilfe bittet, begibt sich in noch größere Gefahr, später ermordet zu werden. Auch Gesetze und Justizsystem bieten keinerlei Schutz. Pablo Arenales und Ana Rueda können ihre Menschenrechtsarbeit nur machen, weil sie rund um die Uhr von internationalen Beobachtern der Organisation Peace Brigades International begleitet werden, die durch ihre Anwesenheit den politischen Preis für ihren Kopf in die Höhe treiben. Ein Privatleben gibt es unter derartigen Bedingungen nicht.

Die Frauenorganisation OFP sucht einen offensiven Umgang mit der allgegenwärtigen Angst. Sie weigerte sich nicht nur, den Paramilitärs den Schlüssel zu einem ihre Gemeindezentren zu überlassen, als diese ihn forderten, sondern stellte das Haus vierzig Familien als Zuflucht zur Verfügung, die auf Grund von Drohungen ihre Hütten hatten verlassen müssen. Im vergangenen Sommer führte die OFP eine öffentliche Kampagne unter dem ungewöhnlichen Motto "Machen wir Liebe mit der Angst" durch (hagámosle el amor al miedo), in der sie die allgegenwärtige Angst als sinnvollen Schutzinstinkt, aber auch als Triebkraft für die Suche nach kollektiven, friedlichen Lösungen interpretierten. 5000 Frauen aus verschiedensten Ländern reisten an, um gemeinsam mit der OFP trotz wiederholter Drohungen von Seiten der Paramilitärs eine landesweite Bewegung von Frauen für den Frieden zu gründen.

Demonstration der Frauenorganisation OFP

Sowohl OFP als auch CREDHOS setzen sich für eine Verhandlungslösung des bewaffneten Konflikts in Kolumbien ein und fordern eine aktive Beteiligung der Zivilbevölkerung am Friedensprozess. Allerdings betont Pablo Arenales, dass "ein dauerhafter Frieden nur möglich sein wird, wenn auch soziale Gerechtigkeit hergestellt wird. Denn in Kolumbien befinden sich 60 Prozent aller produktiven Ländereien im Besitz von ganzen sieben Familien, während über die Hälfte aller Menschen unter der Armutsgrenze lebt."

Mit dem von der US-Regierung forcierten Plan Colombia ist die politische Verhandlungslösung, die Ana Rueda als "unsere einzige Hoffnung" bezeichnet, allerdings wesentlich unwahrscheinlicher geworden. Während die Verhandlungen mit den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) auf der Stelle treten, wird die zweitgrößte Guerilla ELN von der Regierung seit Jahren mit dem Versprechen hingehalten, im Magdalena Medio eine entmilitarisierte Zone zu schaffen, in der Verhandlungen unter Beteiligung der Zivilgesellschaft stattfinden könnten. Im Rahmen des Plan Colombia erhält die kolumbianische Regierung unterdessen modernstes Kriegsgerät aus den USA im Wert von 1,3 Milliarden Dollar, sowie Anleitung durch US-amerikanische Militärberater. Offiziell sollte dieses "Hilfspaket" zwar der Bekämpfung des Drogenhandels dienen, doch sind sich soziale und Menschenrechtsorganisationen einig, dass es in Wirklichkeit um die gewaltsame Durchsetzung des herrschenden ökonomischen Modells gegen bewaffnete Aufständische und Zivilbevölkerung geht. "Die weitere Militarisierung des Landes im Rahmen des Plan Colombia wird die Menschenrechtssituation nur noch verschlimmern und eine Verhandlungslösung erschweren", sind Rueda und Arenales sich einig.

Kolumbianische Elitesoldaten

Seit dem 11. September hat sich die Rhetorik noch verschärft, mit der Aktivistinnen in Kolumbien zu Freiwild erklärt werden. Denn drei der fünf lateinamerikanischen Organisationen, welche die USA in die seit den Anschlägen von Washington und New York handlungsleitende Kategorie des "internationalen Terrorismus" einstufen, sind kolumbianisch: Die beiden größten Guerillaorganisationen FARC und ELN, sowie immerhin auch die AUC, der landesweite Dachverband paramilitärischer Gruppen. Für Pablo Arenales ist die Einstufung der beiden Guerillabewegungen als "terroristisch" nicht nur besorgniserregend, weil das Label nun auch auf Menschenrechts- und andere soziale Aktivistinnen ausgedehnt werden kann. Denn in Kolumbien "ist es bereits gefährlich, von sozialer Gerechtigkeit nur zu sprechen. Hier werden Menschen, die ein Leben in Würde fordern, schnell mit den Aufständischen gleichgesetzt." Die neue Terrorismus-Rhetorik wertet Arenales auch als weiteres Anzeichen dafür, dass kolumbianische und US-Regierung zunehmend auf die militärische Karte setzen.

Auch im südlich an Kolumbien angrenzenden Nachbarland Ecuador häufen sich in letzter Zeit Todesdrohungen gegen MenschenrechtsaktivistInnen, GewerkschafterInnen, JournalistInnen und andere. Alexis Ponce, der Sprecher der ständigen Menschenrechtsversammlung Ecuadors war der erste, der einen Drohbrief von einer Gruppe namens Legión Blanca (weiße Legion) erhielt. "Was die 55 Leute, die bisher Drohungen erhalten haben, verbindet,", so Ponce, "ist daß sie gegen den Plan Colombia Stellung beziehen, und gegen die Politik unserer Regierung, die Washington zu Diensten ist." Ein Journalist wurde bereits ermordet.

In Mexiko an der Nordgrenze des lateinamerikanischen Subkontinents sieht die Lage nicht besser aus: Auch hier beginnen Politiker, Dissidenten und Aufständische im Fahrwasser des 11. September als Terroristen zu bezeichnen und ihnen so jegliche soziale Legitimität abzusprechen. Der Senat mußte jüngst in einer Stellungnahme richtigstellen, dass die zapatistische EZLN sich seit 1996 an das mit der Regierung unterzeichnete Friedensabkommen halte und deshalb nicht als terroristisch zu bezeichnen sei. Allerdings, so der Historiker und Anthropologe Andrés Aubry, ist "der Friedensprozeß mit der EZLN so festgefahren wie noch nie." Nach dem 11. September schreite die Militarisierung voran, im Bundesstaat Chiapas seien zivile Behörden wie die Migrationsbehörde und bestimmte Ministerien von Militärs übernommen worden. Ein portugiesischer Tourist, der sich in San Cristobal de las Casas einer Gruppe näherte, die Plakate gegen den Krieg im mittleren Osten klebte, wurde im Oktober aufgrund von "Terrorismusverdacht" unverzüglich deportiert.

Dabei sind es auch in Mexiko ganz andere Gruppen, die auf offenen Terror zurückgreifen, um ihre Interessen durchzusetzen: Am 19. Oktober wurde in der Hauptstadt die renommierte Menschenrechtsanwältin Digna Ochoa erschossen in ihrer Kanzlei aufgefunden. Die Täter hatten weitere Drohungen gegen die Organisation hinterlassen, für die Ochoa zuletzt gearbeitet hatte. Der Mord sorgte für internationales Aufsehen, weil es sich um das erste politische Verbrechen seit dem Machtwechsel im vergangenen Jahr handelt, der nach über 70 Jahren Herrschaft der Partei der Institutionalisierten Revolution PRI Hoffnungen auf eine Demokratisierung geweckt hatte. "Der Verdacht fällt auf Paramilitärs und Militärs", so Andrés Aubry. "Denn Digna Ochoa verteidigte vor allem indianische und bäuerliche Aktivisten, die militärischer Verfolgung ausgesetzt waren. Der Mord zeigt, dass die alten Machtstrukturen noch fortwirken, obwohl die Gesichter vordergründig ausgetauscht worden sind."