Teure Senioren

Die Europäer werden immer älter. Das hat man inzwischen auch in Brüssel erkannt und das Thema auf die Agenda des EU-Gipfels im März gesetzt

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Es war bezeichnenderweise der EU-Rat für Wirtschaft und Finanzen, der sich in dieser Woche in Brüssel mit der demografischen Entwicklung in Europa beschäftigte. Überraschend ist das jedoch nicht. Denn die Alterung der Europäer ist für die Finanzminister vor allem ein wirtschaftliches Problem.

Dies sehen die europäischen Kassenwarte durch einen Bericht bestätigt, der unmittelbar vor ihrer Tagung am Dienstag veröffentlicht wurde. Penibel werden in der von EU-Kommission und Wirtschaftsauschuss erarbeiteten Analyse die finanziellen Folgen einer wachsenden Überalterung auf dem Kontinent aufgelistet. Quintessenz: Bei einer "unveränderten Politik" werden sich die Wachstumsraten in der EU bis 2030 nahezu halbieren und die öffentlichen Finanzen durch höhere Ausgaben für Renten, Gesundheit und Pflege massiv unter Druck geraten.

Auf dem EU-Gipfel im März soll nun über Rezepte zur Kostendämpfung beraten werden. Wie diese aussehen werden, lässt sich ahnen. Schließlich lobte die Ministerrunde ausdrücklich die Rentenreform, die Verlängerung der Lebensarbeitszeit, in Deutschland.

Bis 2025 wird die Bevölkerung in EU-Europa nur noch leicht anwachsen - und dies vor allem durch Zuwanderung. Danach geht die Zahl der Europäer laut Prognose des im vergangenen Frühjahr von der EU-Kommission vorgelegten Grünbuchs zum demografischen Wandel konstant zurück: Leben derzeit noch 458 Millionen Menschen auf dem "alten Kontinent", werden es 2025 geschätzte 469,5 Millionen sein. Fünf Jahre später, so prognostizieren die Experten, sind es schon fast eine Million weniger.

Aber weniger diese Entwicklung bereitet Brüssel Sorge, sondern vor allem der dramatische Rückgang der "Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter" und die damit verbundene wachsende Zahl der Pensionäre: In der Gruppe der 15 bis 64-Jährigen sehen die Demografen zwischen 2005 und 2030 einen Rückgang um 20,8 Millionen voraus; gleichzeitig wird bis zum Jahr 2050 die Zahl der Menschen über 80 Jahre um 180 Prozent wachsen.

Bereits heute leben in den EU-Ländern über 70 Millionen Menschen mit einem Alter von 60 und mehr Jahren - etwa ein Fünftel der Gesamtbevölkerung. Schätzungen zufolge wird es im Jahr 2020 allein in Westeuropa etwa 20 Millionen Menschen über 80 Jahren geben; die Gruppe der über 65-Jährigen wir um 17 Millionen wachsen. Zugleich nimmt die Altersgruppe der 20 bis 29-Jährigen um elf Millionen ab. Zwar gibt es für die 2004 in die EU aufgenommen zehn ost- und südeuropäischen Staaten noch keine analogen fundierten Prognosen. Aber angesichts der Tatsache, dass die Geburtsrate in fast allen Regionen der neuen Mitgliedsländer seit Ende der 1990er Jahre rückläufig ist, dürfte sich an der generellen Tendenz kaum etwas ändern.

Problemlösungen sind nicht wirklich in Sicht

Trotz dieser - absehbaren - Entwicklung konnten sich die EU-Länder bisher nicht auf eine gemeinsame, nachhaltige und vor allem umfassende Strategie zugunsten der Senioren und zur Sicherung der Sozialsysteme einigen. Allerdings wurden auch kaum ernsthafte Versuche dazu unternommen. Mit dem Grünbuch hatte die EU-Kommission eine europaweite Diskussion angeschoben, wie die Folgen der demografischen Disproportionen abgefangen werden können. Gefordert wurde vor allem "Solidarität zwischen den Generationen". Wie diese Worthülse zu füllen ist, war aber offensichtlich auch der EU-Zentrale nicht ganz klar: Staatliche und nichtstaatliche Institutionen wurden aufgerufen, ihre Vorstellungen für einen "Generationenvertrag" zu unterbreiten.

Die Positionen auf staatlicher Ebene wie auch in den Wohlfahrtsverbänden dürften für Brüssel jedoch ernüchternd gewesen sein. So begrüßte der deutsche Bundesrat in einer Stellungnahme zwar, dass endlich eine europaweite Diskussion über die demografische Entwicklung stattfindet.. Eine Verstärkung der "Vergemeinschaftung" der Politik in diesem Bereich wird aber abgelehnt. Auch der Deutscher Caritasverband sprach sich dafür aus, die Probleme der Überalterung in erster Linie im nationalen Rahmen anzugehen.

Die Furcht, die EU könnte sich stärker einmischen, ist allerdings unbegründet. Brüssel verfügt in Sachen Renten- und Seniorenpolitik ohnehin nur über eingeschränkte Kompetenzen. Die Gesetze und Regelungen in diesen Bereichen legen die Mitgliedsstaaten auf in eigener Kompetenz fest. Aber obgleich ein direktes "Hineinregieren" in die nationale Renten- und Seniorenpolitik kaum möglich ist, heißt das noch nicht, dass die EU nicht massiv darauf Einfluss nimmt. Im Gegenteil: Die Aushöhlung staatlicher Rentensysteme geht zumindest zum Teil direkt auf politische Vorgaben der EU-Staats- und Regierungschefs zurück. Den Rotstift bei Renten und Sozialleistungen anzusetzen, führt aber nicht nur zu weiteren Belastungen der Senioren, zu Armut und Ausgrenzung. Es ist zugleich für die dauerhafte Sicherung der Renten völlig untauglich. Nicht die Beschneidung von Leistungen sichert die Zahlungsfähigkeit der Rentenkassen, sondern höhere Einzahlungen. Und die leisten bekanntlich die abhängig Beschäftigten.

Die auf dem Lissabonner Gipfeltreffen im März 2000 angenommene EU-Strategie zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sieht vor, bis 2010 eine Beschäftigungsquote von 70 Prozent (nach Brüsseler Diktion "Vollbeschäftigung") in der Gemeinschaft zu erreichen. Im Grünbuch zum demografischen Wandel werden diese Ziele, trotz der offensichtlichen Unerreichbarkeit, nochmals bekräftigt. 20 Millionen neue Arbeitsplätze sollen entstehen, darunter fünf Millionen für ältere Arbeitnehmer. Damit könnte eine Erwerbstätigenrate von 50 Prozent in dieser Altersgruppe erreicht werden.

"Gelingt es, die Ziele von Lissabon zu realisieren und das Beschäftigungswachstum über 2010 hinaus fortzusetzen, dann lässt sich bis 2050 der Anstieg der staatlichen Rentenausgaben (in Prozent des Bruttoinlandsproduktes) um ein Drittel verringern", konstatierte der im September 2003 vorgelegte Gemeinsame Bericht der Kommission und des Rates über angemessene und nachhaltige Renten. Der EU-Rentenbericht wird alle vier Jahre vorgelegt.

Die Fakten jedoch sehen ganz anders aus: Über 15 Millionen Menschen sind derzeit in der Europäischen Union offiziell arbeitslos registriert, die Zahl ändert sich seit Jahren kaum. Und auch bei den älteren Arbeitnehmern liegt die 50-Prozent-Marge in weiter Ferne. Die Beschäftigungsquote beträgt hier gerade einmal 38,5 Prozent.