The Innocents: Verurteilt zu 3.220 Jahren

Dank DNS-Tests kamen in den Vereinigten Staaten bislang 140 unschuldig Verurteilte wieder frei - Portraits von Menschen, die in kafkaeske Szenarios verstrickt wurden

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Besorgt sieht er aus, der rothaarige Mann mit der Flinte. Auf den ersten Blick scheint er in einer Wiese voller Klatschmohn zu sitzen. Tatsächlich hockt er in einem Scherbenhaufen. Rings um ihn die Reste unzähliger Tontauben. Leuchtend rote Scherben, neben denen der rote Schopf von Tim Durham fast ein bisschen blass wirkt. Keine glückliche Farbkombination, denn das rotorange Haar von Durham beißt sich geradezu mit dem rot-durchsetzten Hintergrund. Ein beklemmendes Bild, das die Geschichte von Tim Durham auf eindrucksvolle Weise zusammenfasst: Durham wurde verurteilt für eine Vergewaltigung, die er nicht begangen hat. Sein rotes Haar machte ihn zum Hauptverdächtigen. Dabei war er zum Zeitpunkt des Verbrechens viele hundert Kilometer entfernt vom Tatort beim Tontauben-Schießen. Trotzdem wurde Tim Durham verurteilt. Zu sage und schreibe 3.220 Jahren.

Tag für Tag werden Menschen verurteilt, die von Augenzeugen via Lichtbild und/oder Gegenüberstellung als Täter identifiziert wurden. Dabei ist längst erwiesen, dass auf visuelle Erinnerungen kein Verlass ist. Vor allem, wenn es um die Identifikation vermeintlicher Täter geht. Die Folgen so genannter Falschidentifikationen sind fatal: von ein paar Jahren über lebenslänglich bis hin zur Todesstrafe ist für die unschuldig Verurteilten alles drin. Die erschreckende Bilanz eines FBI-Agenten: in rund 25 Prozent der untersuchten Fälle passt die DNS des Verdächtigen nicht zu den Spuren, die am Tatort gefunden wurden. Erschreckend ist diese Quote deshalb, weil sie Rückschlüsse zulässt auf die Zahl der unschuldig Verurteilten, die in den Gefängnissen der Vereinigten Staaten sitzen. Unschuldig Verurteilte wie Tim Durham, der inzwischen wieder auf freiem Fuß ist. Weil ein verspäteter DNS-Test ergab, dass Durham nicht als Täter in Frage kam.

Um aufmerksam zu machen auf das Schicksal dieser Unschuldigen, beauftragte das New York Times Magazin die Fotografin Taryn Simon im Jahre 2000, Portraits zu machen von jenen Menschen, die zum Opfer der Justiz geworden waren. Entstanden sind 45 Portraits, die die Befreiten an Orten zeigen, die von besonderer Bedeutung waren für das kafkaeske Szenario, in das sie urplötzlich verstrickt waren: der Ort der Falschidentifikation und Verhaftung, der Tatort, die Alibi-Location, der Gerichtssaal, die andere Seite des Gefängniszauns, das neue Zuhause. Meist sind sie allein, manchmal stehen ihnen Freunde und Verwandte zur Seite, in einigen wenigen Fällen ist das ursprüngliche Opfer oder ein Angehöriger des Opfers mit im Bild. Diese Bilder sind besonders anrührend, weil sie deutlich machen, dass niemandem damit gedient ist, die Falschen zu verurteilen. Ergänzt werden die Aufnahmen von kurzen Fallschilderungen sowie von Kommentaren der Betroffenen. Zu sehen sind sie aktuell in Berlin - oder im hervorragenden Katalog zur Ausstellung.

Als Fotografin interessierte sich Taryn Simon insbesondere für das Phänomen der Falschidentifikation. Mal manipulierte die Polizei die Bilder, die den Augenzeugen zu Identifikationszwecken vorgelegt wurden, mal täuschten sich die Opfer selbst. Wie es dazu kommen kann, beschreibt Jennifer Thompson, die von Taryn Simon zusammen mit ihrem vermeintlichen Vergewaltiger Ronald Cotton abgebildet wurde:

Ich wählte Rons Foto, weil es in meiner Vorstellung dem Mann ähnelte, der mich attackiert hatte. Tatsächlich jedoch ähnelte es vor allem dem Phantombild, das mit meiner Hilfe entstanden war, und nicht dem tatsächlichen Angreifer. Als es dann zur Gegenüberstellung kam, [...] wählte [ich] Ronald, weil er in meiner Vorstellung dem Foto ähnelte, das wiederum dem Phantombild ähnelte, das wiederum dem Angreifer ähnelte. Alle diese Bilder verschmolzen zu einem Bild, und dieses Bild wurde zu Ron, und Ron wurde mein Angreifer.

Ausführlich dokumentiert und analysiert wird die Geschichte dieser Falschidentifikation bei PBS. Eines der Hauptprobleme in diesem Fall war die unterschiedliche Hautfarbe von Täter und Opfer: Untersuchungen belegen, dass es in solchen Fällen überproportional häufig zu Fehl-Identifikationen kommt.

Nicht zuletzt in diesem Fall wäre eine DNS-Analyse während der Ermittlungen angebracht gewesen. Leider stand die entsprechende Technik Mitte der 80er Jahre, als Ronald Cotton angeklagt wurde, noch nicht zur Verfügung. Auch heute noch werden längst nicht alle Urteile durch DNS-Analysen gestützt. Sei es, weil keine DNS-Spuren gesichert werden konnten, sei es, weil Strafverfolger und Gericht die Durchführung entsprechender Analysen verhindern. Besonders groß ist der Widerstand bei nachträglichen DNS-Tests. Inhaftierte, die ihre Unschuld mittels moderner Verfahren beweisen wollen, werden systematisch abgeblockt. Weil ein verspäteter Freispruch Fragen aufwirft. Fragen nach der Glaubwürdigkeit von Zeugen, nach der Zuverlässigkeit des amerikanischen Rechtssystems und nach der Verantwortung von Staat und Gesellschaft gegenüber jenen, die zum Teil mehrere Jahrzehnte hinter Gittern saßen für Verbrechen, die sie nicht begangen haben.

Durham verbrachte 3,5 Jahre im Gefängnis. Das ist verhältnismäßig wenig verglichen mit den meisten der 139 anderen unschuldig Verurteilten, die wie Durham dank nachträglicher DNS-Analysen freigesprochen wurden. 10, 15, 20 und mehr Jahre hinter Gittern sind keine Seltenheit. Viele der Unschuldigen waren zum Tode verurteilt, bei Ron Williamson kam der Freispruch ganze fünf Tage vor der geplanten Hinrichtung. Unterstützt werden die Hilfesuchenden nicht zuletzt von einer Initiative namens The Innocence Project, die sich speziell für jene Häftlinge einsetzt, die mittels nachträglicher DNS-Analysen ihre Unschuld beweisen wollen. Der Rechtsbeistand ist kostenlos, weil Jura-Studenten der Benjamin N. Cardozo School of Law den Löwenanteil der Arbeit leisten - unterstützt von zahlreichen Experten. Das Geld für die DNA-Tests jedoch müssen die Verurteilten selbst aufbringen.

Für Peter Neufeld, einen der Gründer von 'The Innocence Project', liegen die Vorteile nachträglicher DNS-Tests auf der Hand:

Es ist ein einfacher Test; er ist billig. Wenn man den falschen eingesperrt hat, spart der Staat Geld. Man korrigiert einen Fehler. Man kann sogar herausfinden, wer der wahre Täter ist. Trotzdem sind 50 Prozent der Staatsanwälte, mit denen wir zu tun haben, gegen nachträgliche DNS-Tests.

Für Neufeld eine vollkommen irrationale Haltung, die er sich nur damit erklären kann, dass niemand Verantwortung übernehmen will. Aus demselben Grund gebe es starken Widerstand gegen die finanzielle Entschädigung von unschuldig Verurteilten. Weil so eine Entschädigung eine Art Schuldbekenntnis seitens des Staates wäre; das Eingeständnis, dass Fehler gemacht wurden. Nur 17 Bundesstaaten leisten finanzielle Entschädigung, die Beträge rangieren von maximal 5000 Dollar (unabhängig von der Haftdauer) bis theoretisch unendlich. Wobei es den Betroffenen weniger um das Geld an sich als um die Wiederherstellung ihres guten Rufes geht.

Zumal der ausbezahlte Betrag - und sei er noch so stattlich - niemals wieder gutmachen kann, was das Unschuldigverurteiltsein angerichtet hat: die gestohlenen Jahre, die zerstörte Gesundheit, die ewigen Alpträume, die zerbrochenen Familien, die verhinderten Karrieren und das erschütterte Vertrauen in Recht und Justiz sind mit keinem Geld der Welt wieder wettzumachen. Um einer erneuten unrechtmäßigen Verurteilung vorzubeugen, führen einige der Freigesprochenen peinlich genau Buch über jeden Schritt. Durham erwägt gar, eine Art Pager zu entwickeln, der jede Bewegung aufzeichnet. Das Ergebnis wäre die elektronische Selbstüberwachung. Ein Szenario, dass bei Bürgerrechtlern und Datenschützern helles Entsetzen hervorrufen dürfte.

Brisant ist nicht nur die Frage der finanziellen Entschädigung, sondern die Tatsache, dass nur wenig dagegen unternommen wird, zukünftige Fehler zu vermeiden. Nach über zehn Jahren Arbeit am 'The Innocents Project' weiß Neufeld: zu Unrecht verhängte Urteile sind nicht das letzte Glied in einer Kette unglücklicher Zufälle, sondern vielmehr das Ergebnis zahlreicher Manipulationen. Besonders anfällig sind überambitionierte Polizisten: Zeugenaussagen werden aufgebauscht, Zeitangaben verdreht, Polizeiberichte verändert. Hauptsache, es kommt zu einer Verurteilung. In jedem einzelnen Fall, der vom Innocence Project wieder aufgerollt wurde, sei es zu Manipulationen gekommen. Und zwar nicht nur seitens der Polizei, auch Strafverfolger und Labore trugen ihren Teil dazu bei, die Wahrheit zu vertuschen. Mit anderen Worten: Der Fehler liegt im System. Deshalb können trotz neuester DNS-Verfahren auch weiterhin falsche Urteile gefällt werden; Schlampereien im Labor, verschollene oder gar vertauschte DNS-Proben, unterdrücktes oder unbrauchbar gemachtes entlastendes Material - es gibt nach wie vor unzählige Fehlerquellen und Möglichkeiten der Manipulation. Vor Schadenersatz-Klagen seitens der Betroffenen brauchen sich die Übeltäter übrigens nicht zu fürchten: Sie genießen Immunität; nur im äußerst unwahrscheinlichen Fall, dass ihnen Mutwilligkeit nachgewiesen werden kann, hat die Klage Aussicht auf Erfolg.

So paradox es vor diesem Hintergrund klingen mag: Dass Durham und all die anderen von Taryn Simon Portraitierten unschuldig verurteilt waren für Kapitalverbrechen wie Mord und Vergewaltigung war letztlich Glück im Unglück. Denn Mörder und Vergewaltiger hinterlassen sehr viel häufiger ihre DNS als Erpresser, Diebe und Betrüger, sei es in Form von Blut, Haaren, Sperma, Speichel oder Hautfetzen; beziehungsweise werden bei Mord und Vergewaltigung entsprechende Spuren eher gesichert als bei Diebstählen. Nicht zuletzt deshalb sind Experten wie der amerikanische Verfassungsrechtler Jim Liebman überzeugt davon, dass die dank DNS-Tests Freigesprochenen nur die Spitze des Eisbergs sind. Mangelhafte oder unterlassene DNS-Tests während des ursprünglichen Verfahrens waren schließlich nicht der einzige Grund dafür, dass die unschuldig Angeklagten im Gefängnis landeten. Unfähige Rechtsanwälte, erzwungene Geständnisse, falsche Anschuldigungen, fehlerhafte Blut- und Haaranalysen, und Verfahrensfehler aller Art spielten ebenfalls eine Rolle.

Totales Systemversagen

Schon vor Jahren diagnostizierte Peter Neufeld mit Blick auf die amerikanische Justiz totales Systemversagen: Schlimm genug, dass es zu Fehlurteilen komme, unfassbar sei jedoch, dass die wenigsten Richter und Strafverfolger herausfinden wollen, was falsch gelaufen ist. Man stelle sich vor, so Neufeld, Flugzeuge fielen vom Himmel oder Autos explodierten: es gäbe eine Untersuchung und anschließend einen Bericht, in dem alle Erkenntnisse festgehalten werden. Damit so etwas nie wieder geschieht. Im Rechtssystem passiere nichts dergleichen: der Richter beendet die Haft, und das war's. In Großbritannien haben Staat und Justiz ganz anders reagiert: nach den Fehlurteilen in Sachen Guilford Four und Birmingham Six, durch die Unschuldige viele Jahre im Gefängnis saßen, wurde 1997 die Criminal Case Review Commission (CCRC) ins Leben gerufen. Zwar konnten Urteile bereits vor 1997 angefochten werden - allerdings wurde die Prozedur erheblich erleichtert: wer nach Ende des Appellations-Verfahrens weiterhin an seiner Unschuld festhält, kann die Kommission anrufen, und diese leitet den Fall möglichst rasch an die entsprechenden Gerichte weiter. Bis Ende Oktober 2003 wurden insgesamt 5663 Anträge bearbeitet, 160 Fälle kamen erneut vor Gericht, davon wurden 104 Urteile revidiert, 50 bestätigt und 6 vertagt.

Inzwischen geht es auch in den Vereinigten Staaten voran: Anfang November wurde im Kongress das 'Gesetz zum Schutze Unschuldiger' (Innocence Protection Act (IPA) verabschiedet. Es ist Teil eines größeren Gesetzespakets mit dem Namen 'Advancing Justice Through DNA Technology Act' (Gesetz zur Förderung der Gerechtigkeit mittels DNS Technologie). Jetzt liegt es am Senat, die Chancen für zu Unrecht Inhaftierte zu verbessern. Tritt das Gesetz in Kraft, wird zugleich das Kirk Bloodsworth Postconviction DNA Testing Program bewilligt - ein Programm, das 25 Millionen US-Dollar zur Verfügung stellt, um nachträgliche DNS-Analysen zu ermöglichen. Benannt ist dieses Programm nach Kirk Bloodsworth - dem ersten Todeskandidaten, der dank nachträglicher DNS-Analyse freigesprochen wurde im Dezember 1993 und seit seiner Entlassung für die Rechte unschuldig Verurteilter kämpft.

In Deutschland kommt die öffentliche Diskussion nur langsam in Gang. Während in den Vereinigten Staaten Berichte über unschuldig Verurteilte die Zeitungen füllen und ganze Dokumentarfilmserien ins Leben rufen, schaffen es deutsche Justizopfer nur selten und wenn dann - wie Vera Brühne und Hans Arbogast - häufig erst mit großer Verzögerung ins öffentliche Bewusstsein.