The Long Boom?
Wired verspricht eine rosige Zukunft für alle. Ein Kommentar.
In der Juli-Ausgabe von Wired wollte die Avantgarde der digitalen Revolution sich wohl wieder einmal an die Front des Geschehens setzen. Rechtzeitig vor der Jahrtausendwende wendet man sich der Zukunft zu. Die digitale Revolution, so der Tenor der Cover-Story, wird weitergehen. Peter Schwartz und Peter Leyden, die Autoren des Beitrags, sagen The Long Boom voraus.
"Wir gehen einem Vierteljahrhundert Wohlstand, Freiheit und besserem Umweltschutz auf der ganzen Welt entgegen. Haben Sie damit ein Problem?"
Das ist eine gute Frage.
Das Land, die Welt braucht eine positive Idee, und Wired hat sie - ganz im Sinn der von Barbrook und Cameron beschriebenen kalifornischen Ideologie. Neu muß sie natürlich sein, etwas, was noch nie erfahren wurde. Nichts weniger als die Möglichkeit, allmählich ins grenzenlose Gelobte Land einzukehren, das die USA zwar schon einmal war, jetzt aber wieder als Motor der ganzen Welt sein wird, die, getrieben vom technischen Fortschritt, in "eine Periode anhaltenden Wachstums eintritt, das womöglich die Weltwirtschaft alle 12 Jahre verdoppeln und einen wachsenden Wohlstand für - ganz wörtlich - Milliarden von Menschen auf diesem Planeten mit sich bringen wird." Die Armut verschwindet, die Konflikte hören auf, man wird tolerant, schätzt die Vielfalt, schont die Natur und ist ansonsten fleißig, damit die gottgefällige Kette der Innovationen und des kontinuierlichen Wachstums nicht enden möge.
Kurz gesagt ist das Hauptrezept für das künftige Zeitalter: offen, gut. Geschlossen, schlecht ... Das ist die Gewinnerstrategie für Individuen, für Nationen, für die globale Gemeinschaft in den nächsten Jahren.
Den unbeirrbaren Optimismus, daß wir alles schaffen können, hat Amerika - der Traum der Welt - verinnert - vor allem an der Westküste. Amerikaner - die der USA selbstverständlich - kennen keine Grenzen, sie haben "ein grenzenloses Vertrauen in ihre Fähigkeit der Problemlösung." Fremde können an diesem Optimismus irre werden, aber ohne eine große Dosis an Optimismus geht es nicht, ohne "eine optimistische Vision dessen, was die Zukunft sein kann." Da sollte man auch nicht zu lange grübeln.
Während die Vorhut des amerikanischen Optimismus vor allem den Landsleuten erklärt, wo es lang geht, schließlich seien die USA "die große Nation der Innovation, der Inkubator neuer Ideen", übt sich unserereins, trotz aller Abmahnungen des deutschen Bundespräsidenten, endlich die Zukunft zu ergreifen, in verpönter Skepsis und thematisiert gar, eingesponnen in die Träume und Traumata der Alten Welt, die Große Müdigkeit - so ein Special in Telepolis -, auch wenn die amerikanischen Sendboten den Zaudernden erklären, daß gerade das Fehlen des Optimismus die Sklerose hervorrufe - und eine schwache Wirtschaft, eine geringe Innovationsrate sowie eine hohe Arbeitslosigkeit. Wer nicht mitmacht, wird bestraft und ist selber schuld.
Natürlich, sagen die Autoren, sei der lange Boom nur ein Szenario, es könne ebensosehr den Berg hinuntergehen gehen und im Chaos münden. Aber wir brauchen eben Zurede: "Ohne eine expansive Vision der Zukunft werden die Menschen leicht kurzsichtig und kleinkrämerisch und schauen nur auf sich selbst."
Aber was ist der Antrieb der grenzenlosen Wohlstandsdynamik für alle? Optmistische Visionen müssen komplexitätsreduzierend sein, daher sehen die Autoren der schönen, neuen Welt vornehmlich zwei Megatrends: den technologischen Wandel und einen Ethos der Offenheit, getragen durch die Globalisierung und gestützt durch den freien Markt und die daran offensichtlich gekoppelte liberale Demokratie. Fünf große Wellen technologischer Innovationen, bei denen natürlich die Amerikaner führend sind, tragen den Fortschritt: Computer, Telekommunikation und natürlich das Internet, Biotechnologie, Nanotechnologie und alternative Energien. Die Autoren wissen sogar immer schon, wann die Durchbrüche erfolgen werden. Es jagt eine futurologische Zahl die andere - und immer "explodiert" bei jeder Neuerung die Wirtschaft, stürzen alte Strukturen ein und entstehen durch Restrukturierung die neuen Wohlstandsmaschinerien.
Die glorreichen Helden des langen Wired-Booms sind Ronald Reagan, Margaret Thatcher und Michael Gorbatschow, der schließlich mit Glasnost und Perestroika den Kalten Krieg beendet und die Stichworte des Aufbruchs gegeben habe. Der Wohlfahrtsstaat muß natürlich weg. Die neoliberalen Formeln - Deregulierung, Privatisierung, Öffnung für ausländische Investoren, Reduzierung des Haushaltsdefizits - gelten als Heilsmechanismen. Wenn die (vernetzte) Wirtschaft boomt, werden trotz aller Reduzierung des Staates die Steuern wieder ansteigen. Dann darf die Regierung - aber welche: die nationalen Regierungen oder die Weltregierung? - wieder ein bißchen ihre Zurückhaltung aufgeben. Zusammen mit den wohlhabenden Menschen erzeugt das die Stimmung, die Armut aus der Welt zu verbannen. Schließlich könnte man dadurch noch ein wenig reicher werden und hat gleichzeitig das schlechte Gewissen gebannt. Arbeit wird es für jeden geben, selbst Afrika, der dunkle Horizont der Globalgesellschaft, wird dank der neuen Großzügigkeit endlich von der Armut befreit. Eine Renaissance der Ausbildung findet statt, die Frauen kommen an die Macht, bemannte Raumfahrten vereinen die ganze Menschheit, mit Wasserstoff betriebene Autos belasten die Umwelt nicht mehr, die Kultur der Kulturen beginnt.
Im Jahr 2020 ist die Informationstechnologie in jede Ecke des Planeten vorgedrungen. Sprachübersetzung in Echtzeit ist verläßlich. Die große wechselseitige Befruchtung von Ideen, das weiter gehende, niemals endende globale Gespräch hat begonnen. Daraus werden die neuen Kreuzungen aller Kulturen, wird die neue Kultur entstehen. ... Wir erreichten einen Rahmen, in der alle Kulturen der Welt nebeneinander existieren und gedeihen können.
Die Autoren vergleichen den künftigen Boom mit der industriellen Revolution am Ende des letzten Jahrhunderts - manchmal auch mit dem nach dem zweiten Weltkrieg, als die USA gegen das Reich des Bösen die unterlegenen Staaten Japan und Deutschland ins Reich des Wirtschaftswachstums und zur Demokratie geführt hat. Daß die USA ebenso während des Kalten Krieges auch genügend Diktaturen unterstützt hat, verschweigt man gerne, natürlich auch, daß die digitale Revolution und ein großer Bestandteil des Booms sich dem militärisch- industriellen Komplex verdankten. Die neuen Transport- und Kommunikationstechnologien haben vor 100 Jahren - nannte man dies nicht auch die Zeit des Kolonialismus? - die Welt verbunden. Man glaubte, um nicht vom Kommunismus zu sprechen , daß demnächst eine bessere Welt unter Bedingungen der Gleichheit entstehe. Aber alles endete in einer Katastrophe, da die Führer der Welt nur nationalistische Ziele verfolgten - und natürlich der Kommunismus die heiligen Prinzipien des Marktes verletzt haben. Mehr an Analyse hören wir freilich nicht. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg ging es wieder aufwärts. Und jetzt ist, bis China aufholt, die USA militärisch, technisch, wissenschaftlich, wirtschaftlich und mental das mächtigste Land auf der Erde und Lehrer aller übrigen Nationen. Schließlich habe, als gäbe es nichts zuvor, die USA die Idee einer "offenen Gesellschaft" in diesem Jahrhundert eingeführt: "Die USA sind die Heimat der zentralen wirtschaftlichen und politischen Werte, die im 20. Jahrhundert entstanden sind - der Ökonomie des freien Marktes und der Demokratie."
Man darf bei optimistischen Visionen nicht viele Begründungen erwarten. Da offen gut ist, wird, wenn man sich an diese Ideologie des freien Flusses hält, ein Mechanismus selbstorganisierend - die berühmte unsichtbare Hand, die schon ein wenig vor der digitalen Revolution und Reagan/Thatcher erfunden wurde - das gute Offene erzeugen.
Wenn die Welt das offene Modell übernimmt, ..., setzt ein circulus vitiosus ein: Offene Gesellschaften wenden sich nach außen und wollen sich in die Welt integrieren. Diese Offenheit gegenüber dem Wandel und von neuen Ideen führt zu größerer Innovation und größerem Fortschritt. Das führt zu steigendem Wohlstand und sinkender Armut. Das führt zu einer wachsenden Toleranz und Wertschätzung der Vielfalt, die eine noch offenere Gesellschaft und stärker integrierte Welt schaffen.
Man könnte vermuten, daß hinter dem so forsch aufgesetzten Optimismus, der trotz aller Offenheit und Globalität, durchaus nationalistische Züge hat, eine verborgene Angst steckt. Nur kurz streifen die Autoren das Szenario, daß zwar die Weltwirtschaft wachsen und Amerika gedeihen könnte, aber die Mehrzahl der Menschen immer ärmer werden und die Umwelt der große Verlierer ist. Tatsächlich scheint hinter dem Optimismus eine pure Verlängerung des gegenwärtigen Wachstums zu stehen, das große Börsengewinne und sinkende Arbeitslosigkeit in den USA geschaffen hat. Schon mehren sich die Stimmen, daß der Boom an der Börse mit einer Zuwachsrate bis zu 50 Prozent gegenüber dem Wirtschaftswachstum mit lediglich 4 Prozent irgendwann einknicken wird. Daß der spekulative Reichtum nicht ewig tragen kann. Spätestens dann, wenn die alternde Gesellschaft die frei schwebenden Wertpapiere wieder in reales Geld umsetzt, weil anders die Alterssicherung nicht möglich ist, könnte eine Stagnation erfolgen.
Daß Wirtschaftswachstum mit der Bildung neuer Jobs einher geht, mag nur ein kurzes Zwischenspiel sein, zumal ein großer Teil der Mittelschicht nach unten abrutscht, die Löhne nicht steigen, die Arbeitsverhältnisse unsicherer werden, eine steigende Anzahl von Menschen mehreren Jobs nachgehen muß und die Produktivität mit den neuen Technologien noch weiter steigen wird, was Arbeitsplätze kostet. Immerhin ist die Produktivität in den USA während der letzten 20 Jahre nur um 25 Prozent gestiegen, in Deutschland aber um 100 Prozent. Überdies hat sich in den USA und weltweit die Wohlstandverteilung kontinuierlich zugunsten einer immer kleineren Schicht verändert. Das untere Fünftel ist real immer ärmer geworden.
Die gepriesene Offenheit des amerikanischen Vorbilds scheint gleichzeitig mit dem Bau von neuen Mauern und Verbunkerungen einherzugehen. Nicht nur die Technik boomt, sondern auch die Sicherheits- und Überwachungsbranche. Der Trend zur Biotechnologie und zur Patentierung von allem und jedem wird zudem nicht für eine größere Offenheit sorgen, sondern zusammen mit der steigenden Produktivität durch den Einsatz von digitaler Technik auch in der Landwirtschaft, von der weltweit noch immer die meisten Menschen ihr oft kümmerliches Einkommen erzielen, für einen weiteren Schub an Arbeitslosen sorgen, den die berühmte Dienstleistungsgesellschaft, die allmählich erst in die Phase ihrer Automatisierung kommt, nicht auffangen können wird. Das muß auch nicht unbedingt eine Katastrophe sein, wenn es möglich wäre, den gesellschaftlichen Reichtum umzuverteilen. Dem aber steht die ganze neoliberale und individualistische Ideologie entgegen. Zudem tendiert die "offene und globale" Gesellschaft zur Konzentration wirtschaftlicher Macht, die, transnational agierend, die Strukturen der liberalen und demokratischen Gesellschaft aushebeln könnte. Ein technischer und wirtschaftlicher Determinismus, der glauben läßt, daß die frei gesetzten Kräfte schon alles gut machen werden, ist nichts weiter als ein Glaube, daß man alles so weiterlaufen lassen kann, und ein Eingeständnis, daß eine wirklich demokratische und politische Steuerung nicht mehr möglich ist. Und daß Globalisierung der Märkte und globale Kommunikation - das "große Gespräch" - mehr Freiheit und Toleranz schaffen, ist angesichts der fortschreitenden Balkanisierung ein naives Ammenmärchen.