"The Substance": Der Body und der Horror

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Der Horrorfilm des Jahres? Frauenfeindlich? Ein feministisches Meisterwerk? Bullshit. Über einen Film, der spaltet.

Das wahre Geheimnis der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare.

Oscar Wilde

Nadeln, die Adern durchstechen; Augen mit mehreren Iris; Leiber, die sich in zwei Hälften teilen, um dann grob wieder zusammengetackert zu werden; Leiber, aus denen ein zweiter hervorschlüpft; Finger, die brechen; Eingeweide, die sich auf den Boden ergießen; Gliedmaßen, die sich monströs verdrehen oder monströs altern, deformierte und kaputte Leiber.

Die französische Regisseurin Coralie Fargeat wählt in ihrem zweiten Spielfilm ausdrücklich das Genre des "Bodyhorror", das vor allem vom Kanadier David Cronenberg seit den Siebzigerjahren im Kino und in der visuellen Kunst etabliert worden ist.

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Bestätigung des Jugendwahns

Sie tut dies, weil sie sich sehr viel vorgenommen hat. Fargeat möchte untersuchen, das macht ihr Film "The Substance" klar, wie sich die Mythen in unserer Gesellschaft verändert haben, in der die weibliche Schönheit seit jeher eine Schöpfung männlicher Wünsche und Erwartungen ist, in der der Kult des äußeren Bildes, die Suche nach der Perfektion des Körpers wie ein Virus eine Gesellschaft des Spektakels nährt.

Eine Welt, in der diese Konstellation aber zuletzt scheinbar in die Kritik geraten und infrage gestellt worden ist.

Es ist die paradoxeste vieler paradoxer Erfahrungen beim Sehen dieses Films, dass ausgerechnet dieser Film, der vehement die Schönheitsideale und den Jugendwahn in Medien und Kulturindustrie, der der Gesellschaft als Ganze in Griff hält, anzuklagen und infragezustellen beansprucht, diese so vehement wie wenige andere bestätigt.

Aber worum geht es? Was will "The Substance"?

Die Henne und das Ei

Ganz am Anfang sieht man im allerersten Bild ein rohes Ei. Eine gummibehandschuhte Hand setzt eine Spritze an und spritzt eine undefinierte Substanz in das Eigelb. Es dauert ein paar Sekunden, dann kommt es zu einer rapiden Zellteilung und ein zweites perfektes Eigelb ploppt aus dem ersten heraus.

Danach wechselt das Bild und man sieht auf dem Walk of Fame einen Oscar-Stern mit dem Namen der Hauptfigur: Elizabeth Sparkle. Dieser Stern wird dann, während die Anfangsfilmcredits zu sehen sind, im Schnelldurchlauf "altern"; über die Jahre hinweg zeigt er Risse, es landet Dreck auf ihm, die Leute laufen darüber hinweg und benehmen sich zunehmend achtlos.

Genau genommen ist das, was mit dem Stern passiert, genau das, was der Film mit seiner Hauptfigur macht. Er missachtet und beschädigt sie.

Demi Moore spielt diese Hauptfigur. Eine Frau, die als ehemalige Hollywood-Schauspielerin im Herbst ihrer Karriere im Fernsehen eine Aerobic- und Körper-Ertüchtigungssendung macht, zunehmend aber feststellt, dass – Überraschung! – die Jugend nicht ewig währt.

Ausgerechnet an ihrem 50. Geburtstag erlebt sie den schlimmsten Tag ihres Berufslebens, als sie durch Zufall erfährt – Frauen sollten vielleicht öfter Herrenklos besuchen –, dass sie der mächtige böse Harvey (Dennis Quaid), der Chef des Senders, abservieren und durch eine deutlich Jüngere ersetzen will.

Kurz darauf entdeckt sie durch Zufall eine Anzeige:

Haben Sie jemals von einer besseren Version Ihrer selbst geträumt? Jünger, schöner, perfekter? Eine einzige Injektion entriegelt Ihre DNA und setzt eine neue Zellteilung in Gang, die eine andere Version von Ihnen freisetzt. Dies ist die Substanz.

"Du bist die Matrix"

Elizabeth erliegt der Versuchung, sich die titelgebende Substanz einzuverleiben – mit dem Ergebnis, dass sich aus ihr eine junge Frau von großer erotischer Verführungskraft herausschält wie zu Beginn das zweite Eigelb aus dem ersten: Sue (Margaret Qualley).

Sue ist Elizabeths bessere Version von sich selbst: jung und schön, robust und begabt.

Aber: "You are the Matrix" wird der Moore-Figur einmal gesagt: Sie ist die Eigentliche, die andere bleibt Hülle.

Anfangs geht das vermeintlich gut: Sue macht Blitz-Karriere im Showbiz und übernimmt Elizabeth' Sendung.

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Bald aber erklimmt der Horror um den Body, den Elisabeth zuvor mit allen anderen Menschen, teilte, die das Glück haben, älter als 50 zu werden, völlig neue Dimensionen.

Mit dieser "Substanz" hat es nämlich eine weitere Bewandtnis: Beide, nun parallel in abwechselndem "Wach"-"Schlaf"-Rhythmus anwesende Körper müssen sich gegenseitig ernähren, um im Gleichgewicht gehalten zu werden.

Wenn das nicht passiert, verfällt der "eigentliche" Körper, der inaktive "Wirtskörper", jeweils ein klein wenig und das unnatürlich schnell und nicht revidierbar. Dieser körperliche Zerfall wird im Film im Detail abgebildet.

Das hat im Kino nicht zuletzt deswegen seinen Charme, weil eben Demi Moore die Hauptrolle spielt. Also – das nur ganz nebenbei – jene Demi Moore, die tatsächlich im Herbst 62 Jahre alt wird, hier aber eine gerade 50-Jährige spielt.

Moores Auftritt allerdings könnte man einschließlich der großzügigen Zurschaustellung ihrer reifen Physiognomie als mutiges Selbstporträt betrachten, auch in der unangefochtenen Überzeugung und Power ihrer Figur.

Mit großer visueller Lust wandert die Kamera über Sues perfekt schlanke Formen wie später über die versehrten Gestalten der Monster-Kreatur, die schließlich aus dem Experiment auftaucht: Diese Grobheit, dieser Bombast verhüllen jeden Diskurs – falls es je einen gab.

Falsche Ideale?

Der Film verfällt nicht nur damit selbst dem Schönheits-, Jugend- und Oberflächenwahn, den er vermeintlich moralisierend beklagt. Er wird selbst Teils des Wahns.

Das offene Bekenntnis des Films zum Exzess verdeckt die Anmaßungen und Widersprüche und Irrtümer seines Diskurses nicht auf Dauer.

Aus einer solchen offensichtlichen und nur im Offensichtlichen liegenden Handlung kann man alle die soziokulturellen Überlegungen ableiten, die man daraus ableiten möchte.

Der Film legt nichts besonders nahe und weist nichts zurück; er ist einfach ungemein beliebig.

Man kann erstens die durch Männerfantasien in der Unterhaltungsindustrie erzeugten Stereotypen und ihre schädlichen Folgen für viele Frauen hinterfragen. Man kann zweitens darüber nachdenken, wie das männliche Begehren das Modell einer idealtypischen und geradezu künstlichen Schönheit entwirft, der die Realität nicht standhalten kann. Wie sich die Menschen durch solche falschen (??) Ideale gezwungen fühlen, gegen den Lauf der Zeit anzukämpfen.

Man kann schließlich argumentieren, dass der Film auf populäre Weise die unschöne Altersdiskriminierung anprangert.

Ein "frauenfeindlicher Film"?

"Das ist ein frauenfeindlicher Film" meinten nicht wenige Kinobesucherinnen direkt nach Ansehen der Premiere von "The Substance" von der Französin Coralie Fargeat beim Filmfestival von Cannes im Mai dieses Jahres.

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Dies ist ein feministischer Film, argumentierten aber noch mehr, auch viele Männer, aus dem gleichen Anlass.

Eine Woche lang führte dieser Film den – allerdings angloamerikanisch dominierten – "Jury Grid" an, die traditionelle Kritikerabstimmung des Festivaldailys bei Screen International. Erst an den letzten zwei Tagen des Festivals wurde er von drei anderen Filmen noch übertrumpft.

Kein Film in diesem Cannes-Jahr war ein ähnlicher Aufreger, wie dieser.

"Der Film wird das Kino verändern"

Viele, auch sehr geschätzte und geachtete Menschen und Kollegen konnten diesem Film viel abgewinnen und verteidigten ihn vehement in Diskussionen, adelten ihn mit philosophischen Argumentationen und rückten ihn in die Nähe großer Meister(werke) des Kinos.

Sie glaubten wirklich für ein paar Tage lang, hier etwas gesehen zu haben, das das Kino verändern würde und die gesellschaftliche Debatte um Schönheitsideale in eine neue Richtung bewegen.

Es ging nicht mehr nur um Qualität und Geschmacks, es ging um Weltanschauungen. Es war eine andere Form von Debatte, als dass man nur verschiedener Ansicht war, aber im gleichen Orbit sich befindet. Hier prallten Welten aufeinander.

Die Kritiken in Deutschland überschlagen sich: Es muss für Demi Moore gleich "die Rolle ihres Lebens" sein? Der Film muss nicht weniger zeigen, als "was es heißt, eine Frau zu sein"?

Aber sie besprechen den Film nur für seine Thesen und Behauptungen, die sie goutieren. Sie zitieren Fargeat: Schönheitsideale seien "ein Gefängnis, das die Gesellschaft um uns errichtet hat und das zu einem gewaltigen Instrument der Kontrolle und der Beherrschung geworden ist".

So ein Bullshit!

Der Film tut all das, aber eben auch sein Gegenteil: Er erklärt ganz direkt, dass es in Ordnung ist, Körper lustvoll anzusehen, besonders die Körper von jungen Menschen. Und er tut es selbst. Er beutet aus, und suhlt sich in der Exploitation.

Zeigen, wie die Bilder aussehen

Das alles wäre bislang aber eine rein inhaltistische, unterkomplexe Betrachtungsweise. Ist dieser Film wirklich nur ein Thesenfilm?

Es genügt nicht, über die Aussagen des Films zu sprechen – zumal diese höchst widersprüchlich sind und sich letztlich selbst gegenseitig aufheben – und seine Sympathien oder Antipathien über dessen Geschichte und Figuren kundzutun.

Um wirklich über den Film zu sprechen – und nicht darüber, was wir gerne in ihm sehen würden – muss man über dessen Inhalte hinausgehen und über seine Formen sprechen, zeigen, wie seine Bilder aussehen, wie sein ästhetisches Design und sein narrativer Rahmen sind, also wie Körper gefilmt und Räume dargestellt werden.

In all seinen Hässlichkeiten fotografiert wie ein Werbefilm

Der ganze Film in all seinen Hässlichkeiten ist fotografiert wie ein Werbefilm. Alles ist zu schön, zu ausgeleuchtet, zu glatt. Zunächst entspricht das – wie man verteidigend einwenden könnte –, der minimalistischen Fabel, die dieser Film ist. Einer Fabel, in der alles kalt und chirurgisch rein erscheint.

Der Film gefällt sich selbst aber auch in dieser Glätte. Er wird einem aber gerade dadurch zunehmend zuwider.

Auf eine gewisse Weise möchte "The Substance" gory und schmutzig sein. Und dann in all seiner Ekeligkeit und in allem vermeintlichen Bodyhorror plötzlich doch unglaublich sauber und clean und glatt so wie die Frauen in diesem Film.

Nach etwa zwei Stunden verwandelt sich dann die glatte Fabel in einen makabren Albtraum, in dem die schlanken Frauenkörper zu Monstern eines Francis Bacon-Gemäldes mutieren und die Frauen in so viel Blut gebadet werden, dass man Gedanken an das Ende von Brian De Palmas "Carrie" nicht vermeiden kann.

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Nur sind da noch all die anderen, viel zu viele, viel zu widersprüchlichen Verweise, mit denen Fargeat spielt und ihren Film aufpeppt. Ein Mittel, sich durch angebliches Augenzwinkern und komplizenhafte Anspielungen für die Genre'-Gemeinde interessant machen: Hitchcocks "Vertigo" und die gespaltene Frau gehört dazu; die falschen, perversen Träume von David Lynchs "Inland Empire", und natürlich David Cronenbergs "The Fly".

Auf dem intellektuellen Niveau eines Kindergartens

Handwerklich bleibt das aber schwach gemacht: Das beginnt damit, dass es plausible Räume in diesem Film nicht gibt. Die Figuren gehen vielmehr immer wieder völlig unplausible Wege. Die Aufeinanderfolge der Bilder und Szenen ist abrupt und blitzartig, dominiert von einer selbstverliebten Montage, die um jeden Preis noch für den dümmsten Zuschauer sichtbar sein will.

Es gibt auch keine Charaktere oder Figuren im ganzen Film, sondern nur Stereotypen oder grobschlächtige Karikaturen, bei denen selbst die schlechtesten Karikaturisten vor Scham erröten müssten.

Alle Männer auf der Leinwand erscheinen ohnehin als hassgetriebene Grotesken.

Dialoge gibt es kaum, und die Dialoge, die wir hören, bewegen sich auf dem intellektuellen Niveau eines Kindergartens.

Ein Film, der seine eigenen Regeln nicht befolgt

Die Hauptschwäche von "The Substance" ist aber die behauptete Konkurrenz zwischen den beiden Frauen, bzw. zwischen der Demi-Moore-Figur und ihrem jüngeren Abbild. Dabei sollen sie doch eins sein, beziehungsweise die eine der Avatar der anderen.

Zunehmend wird der ganze Film so immer weniger schlüssig. Spätestens sind sie beiden Identitäten dann im letzten Viertel des Films nebeneinander existieren, ist es einfach nur noch ein großer Unsinn.

"The Substance" ist ein Film, der seine eigenen Regeln nicht befolgt, und der in sich total inkonsistent ist. Egal, ob man den Film nun mag oder nicht – aber wenn schon, dann macht es nur Sinn, dass man Prämissen installiert, wenn man sie in irgendeiner Weise dann auf den Figuren austragen will und durch diese Regeln mit ihnen etwas machen möchte.

Man kann eine künstliche Welt bauen, aber wenn diese künstliche Welt dann nicht nach den Regeln funktioniert, die der Film zuvor eine Stunde lang erklärt hat, dann macht das alles keinen Sinn.

Es gibt viele solcher Brüche mit den eigenen selbst gesetzten Regeln in diesem Film. Der wichtigste ist der, dass plötzlich beide Hälften der Hauptfigur gleichzeitig am Leben sein können.

Da hebt "The Substance" vollkommen ab und wird eigentlich irre. Man kann natürlich immer sagen: Das ist ein reiner Albtraum, den die Figur von Demi Moore träumt. Auch das müsste vom Film irgendwann gesetzt werden.

Unglaublich sauber, clean und glatt

Dann entsteht noch ein großes Monster, das beide Frauen in sich vereint (oder in sich verschmelzen lässt?) – warum und wieso? Und wie kommt dieses am Ende auf die Bühne?

Das letzte Viertel des Films ist nur noch eine große offene Farce: Als wäre man im "Crazy Horse" gelandet, sieht man – nichts dagegen – barbusige Mädchen tanzen, wie einst die Chorus-Line in "Showgirls" und kleine Kinder im Publikum dürfen nackte Brüste sehen – weil das in den USA niemand darf, fällt damit auch noch das bisschen kritischer Bezug zur US-Gegenwart weg.

Auch die gottgleiche, männliche Stimme ohne Gesicht, die "Substance" vertritt, hämmert uns Zuschauern ein: "Die Grenze muss respektiert werden. Also respektiere sie!"

Das gilt auch für den Film selbst.