Tödlicher Frost
In Osteuropa sterben die Armen, die mit dem Wandel nicht klar kamen oder auf der Strecke blieben
Die Nachricht dürfte für die meisten Menschen in Osteuropa für Erleichterung sorgen. "Die Temperaturen steigen", heißt es in den aktuellen Wetterprognosen osteuropäischer Medien, auch wenn von Entspannung immer noch keine Rede sein kann. So fällt zum Beispiel im ostpolnischen Bialystok das Thermometer in der Nacht immer noch auf – 7 Grad Celsius, begleitet von heftigen Schneefällen. Doch im Vergleich zum letzten Wochenende, als in manchen Regionen Polens in der Nacht noch bis zu – 30 Grad Celsius gemessen wurden, schon eine Verbesserung.
Die Erleichterung der Menschen über die angekündigte Wetterentspannung ist nicht grundlos. Das sibirische Hoch "Cooper" hat zwar ganz Europa im Griff, doch nirgendwo sind so viele Menschenleben zu beklagen wie in Osteuropa. In Russland forderte die extreme Kälte bisher 215 Tote, in Polen sind nach offiziellen Angaben 99 Menschen durch die Frosttemperaturen ums Leben gekommen und in der Ukraine 135. Wobei die Zahl der ukrainischen Kälteopfer noch größer sein könnte, da die Behörden seit Dienstag vergangener Woche keine Angaben mehr veröffentlichen. Viele Todesopfer forderte die Kälte auch in Tschechien, Rumänien, Bulgarien und anderen ostmitteleuropäischen Staaten.
Die vielen Todesopfer, die Osteuropa zu beklagen hat, sind jedoch nicht allein ein Ergebnis kältesten Winters seit 70 Jahren, den beispielsweise Russland in den letzten Wochen erlebt hat. Vielmehr sind die vielen Toten ein Nebeneffekt der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformationszeit, die der ehemalige Ostblock seit 1989 durchlebt hat. Durch den Frost starben vorwiegend die Menschen, die in den letzten 20 Jahren mit dem Wandel nicht klar kamen oder auf der Strecke blieben. Es starben jene Menschen, die die osteuropäischen Staaten aufgrund nicht ausreichender beziehungsweise ganz fehlender Sozialsysteme nicht versorgen können. Kurz: Es starben die Armen.
So hat Russland besonders viele Todesopfer in den südlichen Regionen des Landes zu beklagen. Bis auf die Ausnahme Sotschi, wo 2014 die Olympischen Winterspiele stattfinden werden, sind dies die besonders strukturschwachen Gebiete Russlands. Bestes Beispiel dafür ist die von der diesjährigen Kälte besonders geplagte Kaukasus-Republik Dagestan, die zu den ärmsten Regionen des Landes gehört und wo die wirtschaftliche Situation mit ein Grund ist für den seit Jahren andauernden Terrorkrieg, den der russische Staat in Dagestan und den anderen Republiken des Nordkaukasus führt (Der Terror in Moskau kommt aus dem inneren Ausland.
Die Armut in Russland beschränkt sich jedoch nicht nur auf den Nordkaukasus. So droht nach Meinung von Natalja Tichonova, der stellvertretenden Direktorin des Soziologischen Instituts an der Russischen Akademie der Wissenschaften, der Hälfte der russischen Bevölkerung der Absturz in die Armut, auch wenn die Armutsstatistik in den letzten 10 Jahren nach offiziellen Angaben rückläufig ist.
Dramatisch ist auch die Lage in der Ukraine, wo es durch die extreme Kälte besonders viele Menschenleben zu beklagen gibt. In dem Gastgeberland der diesjährigen Fußballeuropameisterschaft lebt mittlerweile ein Viertel der fast 46 Millionen Ukrainer unterhalb der Armutsgrenze. Besonders betroffen sind Rentner, die trotz jahrzehntelanger Arbeit von einem angemessenen Lebensabend nur träumen können, und die Landbevölkerung. Und wie wenig sich der Staat um die Lebensbedingungen der Armen kümmert, zeigt die Sozialpolitik der aktuellen Regierung von Nikolaj Asarow. Im November und Dezember vergangenen Jahres protestierten Überlebende der Tschernobyl-Katastrophe wochenlang gegen Rentenkürzungen, welche die Regierung auf Druck des Internationalen Währungsfonds beschlossen hat.
Die Geldknappheit des ukrainischen Staates macht sich aber nicht nur bei den Rentenkürzungen bemerkbar. Viele Kindergärten, Schulen und Wohnhäuser könnten viel besser beheizt sein, wenn die Wärmedämmung der Häuser besser wäre. Doch für die Investitionen hat der Staat nicht nur kein Geld, sondern auch kein Interesse. Denn diese würden auch die politisch einflussreichen Oligarchen verprellen, die sich durch Gasimport und den Betrieb von Wärmekraftwerken eine goldene Nase verdienen.
Trotz Wirtschaftswachstum bleibt die Armut in Polen
Wie tödlich Armut und mangelnde staatliche Investitionen im sozialen Wohnungsbau bei extremer Kälte sein können, zeigt auf gravierende Weise auch das EU-Mitglied Polen. Denn von den 99 Menschen, die dort seit dem Beginn der Froststemperaturen ums Leben kamen, starben 47 an einer Kohlenmonoxydvergiftung. Allein im Februar mussten 508 Personen wegen einer Kohlenmonoxydvergiftung ärztlich behandelt werden. Doch die vielen Vergiftungsopfer sagen alles über die Ungleichheit auf dem polnischen Wohnungsmarkt aus. Wer eine sanierte beziehungsweise komfortable Wohnung haben möchte, dem bleibt nicht anderes übrig, als sich eine Wohnung zu kaufen. Diejenigen, die sich das nicht leisten können, leben in seit Jahrzehnten nicht mehr sanierten Miethäusern oder erbärmlichen Sozialwohnungen.
Nicht passen will dieses Bild zum Ruf Polens als EU-Wirtschaftswunderland, in dem die Armut von allen europäischen Ländern am schnellsten schrumpft, wie die ausländische Presse in der vergangenen Woche jubelte.
Doch ein Blick hinter die Fassade des Wirtschaftswunders sorgt eher für Ernüchterung. Die Arbeitslosigkeit ist im Dezember vergangenen Jahres auf 12.5 Prozent gestiegen. Und auch ein Arbeitsplatz bedeutet wegen der niedrigen Löhne in Polen kein sorgenfreies Leben. Deswegen muss man die Daten von Eurostat, die hier für Euphorie gesorgt haben, auch anders lesen. Zwischen Oder und Bug leben immer noch 14.2 Prozent der Bevölkerung in Armut, während in der restlichen EU es durchschnittlich 8 Prozent sind. Eine Diskrepanz, die sich in dem diesjährigen kalten Winter tödlich bemerkbar machte.