Tödliches Afghanistan
Zweifel an den Angaben über zivile Opfer von UNAMA
Vergangene Woche veröffentliche die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) zum siebten Mal ihren Jahresbericht zu zivilen Opfern im Land. Demnach wurden im Jahr 2016 fast 11.500 Zivilisten (3.498 Tote und 7.920 Verletzte) in Afghanistan getötet oder verletzt. Rund ein Drittel der Opfer sind Kinder gewesen. Laut der Organisation handelt es sich bei der Anzahl um einen Höchststand seit Beginn der Zählung im Jahr 2009.
Laut UN sind aufständische Gruppierungen wie die Taliban für rund zwei Drittel der Opfer verantwortlich. Währenddessen haben regierungstreue Akteure rund ein Viertel der zivilen Opfer auf ihr Konto. Dies betrifft hauptsächlich die afghanische Armee sowie Milizen, die Regierungsmitgliedern nahestehen.
Auch die Opfer des sogenannten "Islamischer Staat Khorasan", die seit Anfang 2015 bestehende Zelle des IS in Afghanistan, werden im Bericht erwähnt. Der Fokus liegt in diesem Kontext vor allem auf schiitischen Muslimen, die Opfer des IS wurden - laut UN mindestens 209 Tote und 690 Verletzte.
Kritik lässt sich im Bericht auch an den Luftangriffen der afghanischen Armee sowie ihren Verbündeten, den NATO-Truppen, finden. Mindestens 250 afghanische Zivilisten wurden 2016 durch Luft-Angriffe getötet und 340 verletzt. Die Anzahl der Opfer durch Luftangriffe hat sich demnach im Vergleich zu Vorjahr verdoppelt. Im Großen und Ganzen werden allerdings - wie in den Jahren zuvor - den stationierten NATO-Truppen nur sehr minimale "Kollateralschäden" zugerechnet.
Vor allem dieser Umstand wird regelmäßig von einigen Beobachtern des Konflikts kritisiert. "Viele Opfer von Luftangriffen und Bombardements werden nicht berücksichtigt. Oftmals ist ja nicht einmal bekannt, wie viele solche Angriffe stattfinden. Obwohl UNAMA eine wichtige Arbeit in Afghanistan leistet, gibt es deshalb auch Kritikpunkte", meint etwa Nazar Mohammad Mutmaeen, ein politischer Analyst aus Kabul.
Jemand, der mit seiner Kritik an UNAMA regelmäßig deutlicher ist, ist Afghanistans Ex-Präsident Hamid Karzai. Im vergangenen September meinte er mir gegenüber, dass die UN als "westliche Institution" vor allem ein Interesse daran habe, die Schuld des Westens reinzuwaschen. "Ich traue solchen Berichten nicht, weil ich weiß, wie sie zustande kommen. Die Fakten sehen oftmals anders aus", so Karzai.
Vieles bleibt im Dunklen
UNAMA arbeitet hauptsächlich von Kabul aus. Tatsächlich sind viele Gebiete des Landes, in denen seit Jahren Krieg geführt wird und die regelmäßig Schauplatz von Bombardements und Drohnen-Angriffe sind, für Mitarbeiter von Menschenrechtsorganisationen praktisch unzugänglich. Selbiges gilt auch für Journalisten. Demnach steht auch die Methodik von UNAMA in der Kritik. Laut der Organisation sind mindestens drei verschiedene Quellen für die Bestätigung eines einzelnen Falles notwendig. Über viele Kriegsgeschehnisse in Afghanistan wird allerdings kaum berichtet. Sie bleiben schlichtweg im Dunkeln. Kritiker gehen davon aus, dass viele Opfer dadurch untergehen.
So wichtig die Zählung auch ist, verzerrt sie den Krieg in Afghanistan auch auf eine andere Art und Weise. Die NATO führt nämlich nicht erst seit 2009 Krieg im Land, sondern bereits seit Ende 2001. Vor allem in den ersten Jahren des Afghanistan-Einsatzes tobte der Krieg am heftigsten - und brachte dementsprechend viele Opfer hervor, über die heute kaum jemand spricht.
Die Verantwortlichen wissen das, doch sie schweigen weiterhin - auch zu aktuellen Massakern. Allein in der vergangenen Woche wurden zwischen achtzehn und zweiundzwanzig Zivilisten in der südlichen Provinz Helmand durch US-Luftangriffe getötet. Achtzehn zivile Opfer wurden mittlerweile auch von UNAMA bestätigt. Die Angriffe fanden in der seit Monaten heftig umkämpften Stadt Sangin statt.
Das US-Militär kündigte an, den Vorfall zu untersuchen. Die Vergangenheit hat jedoch nur allzu oft deutlich gemacht, dass derartige Untersuchungen im Nichts enden. Hinzu kommt in diesem Kontext die Tatsache, dass die afghanische Regierung nach derartigen Geschehnissen oftmals die Narrative der US-Regierung unterstützt und ebenfalls darauf beharrt, dass lediglich "Terroristen" getötet wurden.
Die Kritik am UNAMA-Bericht bezüglich der Rolle von US-Luftangriffen hat sich in den letzten Tagen zusätzlich erhärtet. Eine vor kurzem veröffentlichte Recherche der "Military Times" hat nämlich deutlich gemacht, dass das US-Militär über Jahre hinweg Zahlen zu Luftangriffen im Irak, in Syrien und in Afghanistan zurückgehalten hat. Demnach waren zahlreiche der monatlich veröffentlichten Zahlen des US-Verteidigungsministeriums zu Bombenabwürfen in den jeweiligen Ländern falsch. Allein im Fall von Afghanistan wurden mindestens 456 Luftangriffe nicht in die Statistik aufgenommen. Besonders besorgniserregend: Das Datenleck besteht schon seit 2001, sprich, seit den ersten Tagen des "Kriegs gegen den Terror" (Fake News aus dem Pentagon).