Tokio auf Talfahrt

Akute Rezessionsgefahr und ein Berg von Altlasten offenbaren die Hilflosigkeit der Fukuda-Regierung

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Nach sechs Jahren Wachstum nähert sich auch in Japan der Konjunkturzyklus seinem Ende. Wie die Regierung in Tokio mitteilte, reduzierte sich das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) im zweiten Quartal 2008 gegenüber dem Vorquartal um 0,6%. Sollte diese Entwicklung anhalten, ergäbe sich auf das gesamte Jahr gerechnet eine Schrumpfung um 2,4%. Wichtigste Gründe waren der Bank of Japan zufolge die hohen Rohstoff- und Energiepreise sowie der Einbruch beim Export. Die Ausfuhr von Gütern und Dienstleistungen ging erstmals seit Anfang 2005 zurück und war um 2,3% niedriger als zu Jahresbeginn, was auf die schwindende Nachfrage aus Europa und den USA zurückzuführen ist. (Die USA sind mit 20,1% Hauptabnehmer japanischer Waren.) Zugleich sank der ohnehin schwache Binnenkonsum und nahmen angesichts hoher Rohstoffkosten und schlechter Konjunkturaussichten auch die privaten Investitionen ab.

Um die Rezessionsgefahr zu bannen und die Wirtschaft zu stabilisieren, verabschiedete die aus der Liberaldemokratischen Partei und der Neuen Komeito bestehende Regierung unter Ministerpräsident Yasuo Fukuda am Freitag ein Soforthilfeprogramm im Umfang von 11,7 Billionen Yen (72,5 Mrd. Euro) an. Vorgesehen sind dabei Subventionen vor allem für Bauern und Fischer, die ihren Energieverbrauch reduzieren, niedrigere Mautgebühren und Finanzhilfen für kleine und mittlere Unternehmen bei der Kreditaufnahme. Hinzu kommt ein Sammelsurium unterschiedlicher Maßnahmen zur Gewährleistung der Lebensmittel- und Erdbebensicherheit. Noch ungeklärt ist das Finanzvolumen des Konjunkturpakets und die Frage, ob zu diesem Zweck die Neuverschuldung des Staates erhöht wird. Dafür hatte insbesondere der vor wenigen Wochen zum Generalsekretär der (LDP) ernannte Taso Aso plädiert.

Die Reaktionen von Analysten und Kommentatoren fielen vernichtend aus. Der Chefvolkswirt der US-Bank Morgan Stanley in Tokio, Robert Feldman erklärte:

„Ich habe den Eindruck, dass die Wirkung dieses Paktes relativ gering sein wird. Das ist eine Reflexreaktion auf schwierige wirtschaftliche Zeiten.“ Ähnlich fällt das Urteil seines Kollegen von der japanischen Niederlassung der Schweizer UBS; Akira Maekawa, aus: „Das wird den Rückgang etwas abschwächen, aber nicht zu einem höheren Wachstum führen.“

(„Financial Times“ 29.8.2008)

Die „Frankfurter Allgemeine“ hatte bereits nach den ersten Ankündigungen am 18.August geschrieben: „All dies wirkt hilflos. Fukudas Fokus richtet sich darauf, die verängstigten Japaner zu befrieden und den Konsum zu stärken.“ Das werde allerdings nicht gelingen solange mittelfristig eine nachhaltige Mehrwertsteuererhöhung drohe, die derzeit nur 5% beträgt. Nach Ansicht der FAZ würde der beginnende Abschwung „so nicht verkürzt, sondern verlängert“. Die „Neue Zürcher Zeitung“ sieht es ähnlich: „Im Kern geht es um ein paar Subventionen hier und ein paar Subventionen dort. Mit solchen Placebos wird das Wachstum nicht gestärkt werden, im Gegenteil.“ (NZZ 14.8.2008)

Die mangelnde Begeisterung ist verständlich. Immerhin handelt es sich um das fünfzehnte Paket zur Stimulierung der japanischen Wirtschaft in 16 Jahren. Auch aus diesem Grund spricht man von den 90er Jahren als dem „verlorenen Jahrzehnt“.

Gründe für die Misere

In der gegenwärtigen Krise der zweitgrößten Wirtschaftsnation der Welt wirken internationale Faktoren und Altlasten zusammen. Erstens haben sich die Hoffnungen auf einen „Abkopplung“ von der negativen internationalen Entwicklung als Illusion erwiesen. Angesichts der Abhängigkeit vom Welthandel keine echte Überraschung. Japan konkurriert nicht nur jedes Jahr aufs Neue mit Deutschland und den USA um den Titel „Exportweltmeister“, sondern ist auch, wie kaum ein anderes Land von Nahrungs- und Energieimporten abhängig. Japan kann nur 40% des Kalorienbedarfs seiner Bevölkerung selbst decken.

Zweitens ist auch Tokio, allen Abschottungsbemühungen zum Trotz, den Effekten der Globalisierung nicht entgangen. Die Produktion im Inland geht auch deshalb zurück, weil die einheimischen Konzerne vom enormen Lohngefälle profitieren wollen und Fabriken nach China und nach Südostasien verlagern. Wurde auf der Insel im vergangenen Jahr im Durchschnitt ein Lohn von 377.700 Yen (d.h. ca. 2.337 Euro) gezahlt, so waren es bei einem Facharbeiter in Indonesien maximal 350 Euro. Und in der chinesischen Sonderwirtschaftszone Shenzen beträgt der Mindestlohn nur 92 Euro. Entsprechend schrumpfte 2007 trotz eines Wirtschaftswachstums von 2,1% die Chemieproduktion um 1,9%, die Metallverarbeitung um 2,3% und die Textilproduktion um 4,4%. Überdurchschnittliche Zuwächse verzeichneten allein die Elektronik (+ 10,3%) und der Fahrzeugbau (+ 6,0%). Doch auch in der Automobilbranche ist der Trend eindeutig. Während beispielsweise Honda weltweit insgesamt 5,8% mehr Autos produzierte, betrug die Steigerung außerhalb Japans 18,7%.

Dritter Faktor sind die horrenden Altlasten und strukturellen Probleme. Mit einer Staatsverschuldung von 170% des BIP (manche Beobachter kommen auf 195%) ist das Land unter den Industrienationen einsamer Spitzenreiter. Zur Erinnerung: Die Konvergenzkriterien der Europäischen Währungsunion setzen 60% als Grenze fest und die Tatsache, dass Belgien, Italien und Griechenland ein Defizit von 100 – 125% aufwiesen, sorgte dort Anfang der 90er Jahre für einen rabiaten Sparkurs und eine politische Krise, die zum Teil noch heute andauert. Japan konnte seine Bonität nur durch einen erheblichen Außenhandelsüberschuss, eine hohe private Sparquote und das seit 2001 betriebene drastische Konsolidierungsprogramm wahren, mit dem die jährliche Nettoneuverschuldung von 8% auf 2,4% verringert wurde.

Ein weiteres Problem ist der ebenfalls rekordverdächtige Leitzins von gerade mal 0,5%. Eine Tatsache, die den berühmt-berüchtigten „Carry Trade“ anheizte, bei dem die spotbilligen japanischen Kredite über den Globus verschoben wurden und für die inzwischen geplatzte Spekulationsblase mitverantwortlich waren. Für eine keynesianistische Politik des billigen Geldes und des „Deficit-Spending“ in Zeiten des Abschwungs exisitert es somit kaum noch Spielraum.

Hinzu kommt der allgemeine Konsumverzicht, denn trotz des sechsjährigen Aufschwungs sind „die Pro-Kopf-Einkommen der Arbeiter real geschrumpft“, wie selbst die FAZ am 18.8.2008 zugeben musste. Außerdem hat das Land der Aufgehenden Sonne ein demographisches Problem. Die Bevölkerung ist so stark überaltert wie in keiner anderen Industrienation. In diesem Jahr wird die Gruppe der 65jährigen und Älteren erstmals größer sein als die der Unter-16jährigen. Da die Privathaushalte in den 90er Jahren durch den massiven Einbruch der Börsenkurse (der Nikkei-Index sackte von 40.000 auf heute noch 13.000 Punkte ab!) drastische Vermögensverluste erlitten und die Japaner – anders als die US-Bürger – nicht gewohnt sind, auf Pump zu leben, war ein verschärftes Sparverhalten die Folge. Außerdem neigen ältere Menschen ohnehin dazu Geld für die Altersvorsorge und mögliche Pflegekosten zurückzulegen, anstatt es für ein neues Auto auszugeben. Und gerade die Über-60jährigen Japaner halten 60% aller Spareinlagen, während die 30 und 40jährigen nur über 20% verfügen.

Hilflose Reaktionen

In ihrer Hilflosigkeit verfallen Politiker und Ökonomen jedoch auf verblüffende und zum Teil durchaus zynische Ideen. So wird die Überalterung inzwischen auch als „Chance“ betrachtet, denn angesichts der Zunahme der älteren Generation „zeichnen sich am Horizont für die kommenden Jahre substanzielle Einkünfte bei den Erbschaftssteuern ab“, da „bereits bei einem Vermögen von 50 Millionen Yen (ca. 311.000 Euro) der Fiskus im Erbfall 20% abschöpft“, wie die „Neue Zürcher Zeitung“ vom 12.8.2008 vorrechnet. Und während anderswo die Angst vor der Inflation umgeht, sehnen sie in Japans Elite nicht wenige als „Auslöser für eine Trendwende“ am Aktienmarkt und im Binnenkonsum geradezu herbei, weil eine spürbare Preissteigerung bzw. Geldentwertung die Chance erhöhe, dass die Japaner aufhören, Bargeld zu horten. Der Chefvolkswirt des Frankfurter Bankhauses Metzler, Edgar Walk, ein ausgewiesener Japanexperte, rechnet es vor: „Wenn nur 10 Prozent des Geldüberhangs von derzeit zwei Billionen Euro in Aktien umgeschichtet werden, würde das einen Riesenschub mit sich bringen.“ (FAZ 22.8.2008) Profitieren würden davon allerdings – Walk macht keinen Hehl daraus – vor allem Banken und Großhandelshäuser, weshalb er konsequenterweise den Kauf entsprechender Aktien empfiehlt.

Die jüngste Idee aus Tokioer Regierungskreisen scheint ihm Recht zu geben. Der neu ernannten Minister der Financial Service Agency, Toshimitsu Motegi, kündigte soeben eine „zeitweilige Steuererleichterung“ für Dividenden und Kapitalgewinne an. Um die „Konkurrenzfähigkeit der japanischen Märkte zu erhöhen“ sollen diese auf 10% halbiert werden („Financial Times“ 25.8.2008).

Da Psychologie am Markt bekanntlich die halbe Miete ist, haben führende LDP-Politiker bereits in den vergangenen Monaten alles gegeben, um für die nötige „positive Stimmung“ zu sorgen und dabei zumindest die Buchproduktion tüchtig angekurbelt. Das Spektrum der Erbauungsliteraten reicht von LDP-Generalsekretär Taro Aso mit seinem Buch „Tolles Japan“ (verkaufte Auflage: 171.000) bis zum kurzzeitigen, von September 2006 bis September 2007 amtierenden, Ministerpräsidenten Shinzo Abe, für dessen Werk „Auf dem Weg zu einer wunderschönen Nation“ sich immerhin eine halbe Million Käufer fanden. Placebos aller Orten!