Totale Verzweiflung
Wenn man über die epistemologische Erbschaft der Begegnung Europas mit der äußeren Welt, wozu auch Nord- und Südamerika gehören, spricht, dann bedeutet dies auch, über die Begegnung Europas mit Osteuropa zu sprechen. Das trifft noch stärker zu, wenn wir uns auf die Prozesse der Integration und Desintegration und schließlich auf die Kriege beziehen, die im Balkan und in der ehemaligen Sowjetunion wüten.
Osteuropa war stets verschiedenen Deutungen unterworfen. Oft wurde es als ein Land der Romantik betrachtet, in dem sich mythologische Ereignisse abspielen. Durch einen marxistisch-leninistischen Filter gesehen, zeigte Osteuropa den Mythos einer großen brüderlichen Gemeinschaft und einer totalen sexuellen Freiheit (die dank ihrer materialistischen Natur ohne Ethik und Moral war und daher die schlimmsten Sünden erlaubte) oder den Mythos eines einzigartigen totalitären Projekts zur Verwirklichung des östlichen Despotismus, in dem Armut, Leiden, Korruption und Blutvergießen unaufhörlichen herrschen. Genau dieser letzte Mythos stellt sich heute in seiner schrecklichsten Form dar, da er sich aus dem symbolischen Reich in das Reich des Realen bewegt, während wir alle noch immer hoffen, daß er eine westliche Phantasie bleibe. Die Ereignisse im früheren Jugoslawien, zuerst in Kroatien und jetzt in Bosnien und Herzegowina, sind die Verkörperung, der Eintritt des Realen in den Bereich des Symbolischen.
Die Betrachtung des Ostens aus der Sicht des Westens schlägt sich in einem Fehlen der Kommunikation und in der Haltung nieder: "Schauen, aber nicht sehen, hören, aber nicht verstehen." Diese Haltung blieb während der meisten der jüngsten Geschehnisse bestehen, als die Menschen im ehemaligen Jugoslawien zu Tausenden starben und zu Millionen flohen. Obgleich sich all dies im Herzen Europas ereignete, hat Europa diesen europäischen Kern nicht anerkannt und ihn den "Balkan" genannt. Das Wort "Balkan ist rational", wie Slavoj Zizek es ausdrückte, "aber die westliche Wahrnehmung dieser Ereignisse ist irrational." Nach Zizek ist der Nationalismus die Kehrseite der Systeme des realen Sozialismus und keine Reaktion auf die Auflösung des Kommunismus.
Das melancholische Europa
Wir können die Zukunft nicht mehr denken, ohne den Krieg in Bosnien und Herzegovina zu bedenken. Dieser Krieg hat die Glaubwürdigkeit aller elementaren staatsbürgerlichen Beziehungen in der Welt, in der wir leben, in Frage gestellt. Er ist zu einem Paradigma der Zukunft, der Entwicklung, des Humanismus und der Rhetorik der industrialisierten Welt geworden. Mit der Nähe der geschriebenen Aufzeichnungen, Dokumente und Zeugenberichte konfrontiert, finden wir uns selbst in der Position, davon abgetrennt zu sein ... und durch verschiedene Bildschirme (Fernsehen und Film) geschützt zu werden.
Trotzdem ist die allgemeine mediale Situation nicht von Ekstase und Niedergang gekennzeichnet, sondern von der Sucht eines Hyperprimitivismus und einer Hyberverbildlichung. Jean Baudrillard beschrieb in Simulacres et Simulation die gegenwärtige Haltung: "Melancholie ist im Modus des Verschwindens der Bedeutung, im Modus der Verflüchtigung der Bedeutung in operationellen Systemen enthalten. Wir sind alle melancholisch."
Melancholie ist daher, wie Martin Jay sagt, nicht nur einfach eine Krankheit, sondern eine dauerhafte Dimension der menschlichen Situation. Viele Autoren unterscheiden zwischen Melancholie und Trauer, die keine bestimmten geistigen Zustände sind, sondern zwei unterschiedliche Haltungen gegenüber der Welt. Mit Bezug auf Freuds Text "Wahnsinn und Trauer" von 1917 hat Jay gezeigt, daß die Verweigerung der Realitätsprüfung uns noch immer dabei helfen kann, einen Sinn aus der Unterscheidung zwischen Trauer und Melancholie zu ziehen, denn es ist genau die Fähigkeit, diese Unterscheidung zu treffen, was die Trauer von der Melancholie trennt.
Melancholie mit seinen manisch-depressiven Symptomen ist die Unfähigkeit zu trauern oder die Realität zu erkennen. "Die Melancholie scheint", so Martin Jay, "jener Logik zu gehorchen, die Freud woanders als ... bezeichnet, wodurch unaufnehmbare Inhalte aus der Psyche verbannt werden und im Bereich des halluzinatorischen 'Realen' wieder auftauchen. Anstatt bewußt wahrnehmen zu können, was man verloren hat, bleibt man in einer fortwährend unbegründeten Dialektik zwischen einer sich selbst bestrafenden Angst und einer manischen Verleugnung gefangen." Trauer ist wichtig, weil sie zu einem strategischen und emotionalen Prozeß der Reflexion führt, der uns während dieser Übergangszeit zu überleben erlaubt. Andererseits ist die Trauer als eine vollständige Durcharbeitung von verlorenen Inhalte selbst ein utopischer Mythos. Die Hoffnung, ein Mittel zu finden, um vollständig die für eine apokalyptische Melancholie typische Wiederholung und Verschiebung zu überschreiten, ist zum Scheitern verurteilt.
Das Paradigma der Melancholie kann aber für die Aufarbeitung der Haltung wichtig sein, in der (West)Europa und seine zivilgesellschaftlichen Institutionen mit dem Krieg im früheren Jugoslawien, besonders in Bosnien und Herzogevina, umgehen. Diese spezifische "Haltung" läßt sich in ähnlicher Weise interpretieren "wie das Objekt, dem man mit der Unmöglichkeit begegnet, es bewußt durchzuarbeiten."
Die von einer solchen Hypothese ausgehenden Fragen sind offensichtlich: Was ist das Objekt, dessen Verlust man nicht ertragen kann, und warum bleibt es so resistent gegenüber der bewußten Durcharbeitung? Wir versuchen, ein bestimmtes geschichtliches Trauma zu lokalisieren, daß der Trauerverarbeitung widersteht. "Die monotheistischen Religionen wie der Judaismus oder das Christentum versuchten", wie Jay sagt, "ihre vorhergehenden Muttergottheiten durch eine strenge patriarchalische Gottheit zu ersetzen, und vielleicht kann das verlorene Objekt in einem bestimmten Sinn als mütterlich verstanden werden. Trauern würde bedeuten, den durch das Verschwinden der archaischen Mutter bewirkten Verlust durchzuarbeiten. Die Unfähigkeit, das regressive Begehren nach einer Wiedervereinigung mit der Mutter in einer Phantasie wiedererlangter Fülle zurückzuweisen, würde hingegen zur Melancholie führen, wenn es vom unbewußten Selbstvorwurf begleitet wird, daß ihr Tod heimlich gewünscht wurde."
Es scheint, daß das "zivilisierte" christliche Europa genau durch die Symbolisierung bestimmt wird, sich mit den christlichen Überresten wieder zu vereinigen, was andauernd von den moslemischen "Anderen" verstärkt und gestört wird. "Der europäische Frieden", so auch Tomaz Mastnak, "hat sich niemals vom Krieg gelöst. Man hat Europa von Kriegen befreit, indem man sie in nicht-europäische Gebiete oder an die Ränder Europas exportiert hat. Überdies ist die Einheit Europas eng mit der Vorstellung des Krieges oder mit einem wirklichen Krieg gegen einen äußeren Feind verbunden, wobei der Feind normalerweise die Moslems sind. Der Moslem ist der symbolische Feind Europas, und ich glaube nicht, daß die euroserbische Politik aus den Bosniern Moslems gemacht hat. Das Bild der kriegerischen Moslems erweckt die Urangst des kulturellen und zivilisierten christlichen Westens und das für westliche Politiker und Intellektuelle neuere Schreckgespenst eines "islamischen Fundamentalismus. Die Slawen, soweit ist das richtig, sind nur potentielle Europäer oder solche der zweiten Klasse, aber Moslems gehören einfach nicht zu Europa. Deswegen glaubt man, daß die Bosnier keine Slawen sind."
Die moslemische Wirklichkeit in Europa wird, wenn ich auf zynische Weise Derrida paraphrasieren darf, sowohl als Gift als auch als Heilmittel verstanden. Der Osten ist für Westeuropa ein Fremder, der die nationale Substanz des entstehenden vereinten Europas stiehlt oder bedroht. Jede Konstruktion des "Fremden" setzt jemanden voraus, der unsere nationale Substanz stiehlt oder bedroht.
Osteuropa
Ich will aber nicht so sehr über die Ost-West-Beziehungen, sondern eher über die Situation des Dazwischen sprechen, solange der Osten noch der Osten ist und solange er seine westliche Bastardform erwirbt. Ich schlage einen anderen Ausgangspunkt vor. Der immerzu wiederholte Slogan, "ihre Identität in unseren eigenen Spiegeln" zu lesen, der von Homi Bhaba auf der Konferenz "The Expanded Internationalism" (Venedig, 1990) gebraucht wurde - "ihre" meint hier die Dritte Welt, die sozialistischen und osteuropäischen Länder und "unsere eigenen Spiegel" Westeuropa und Nordamerika -, sollte umformuliert werden: anstatt die bis jetzt einzig gültigen Deutung des "Ostens im Spiegel des Westens" weiterzuführen, sollten wir uns selbst fragen, wie der Osten den Westen versteht und besonders wie er sich selbst versteht.
Ich bin an einer Art des "internen Multikulturalismus" interessiert, der über die neokolonialistischen Positionen des Westens hinaus getrieben wird, an denjenigem Multikulturalismus, den es "hier" gibt, ohne als solcher erkannt zu werden. Wir beobachten einen Prozeß, sein eigenes Selbst und seine eigene "östliche" Position zu spiegeln und zu reflektieren, wenn das Recycling unterschiedlicher Geschichten sich nicht auf westliche, sondern auf östliche Positionen und Konditionen bezieht. Für den Osten ist nur ein Thema typisch: die Geschichte. Die Wiederaneignung der Geschichte. Die gesamte sozialistische Maschine zielte darauf, die Nebenwirkungen einer zentralen Interpretation ihrer Wirklichkeit und einer künstlerischen Produktion zu neutralisieren, indem sie die Geschichte verfälschte oder umschrieb. Eine andere Geschichte des Ostens bedeutet daher den Wunsch, diese Beziehung in zeitgenössischen Konstruktionen und Machtverhältnissen neu zu definieren. In diesem Fall verweist sie auf ein Festhalten am Pluralismus der Unterschiede und bedeutet keine Übereinanderschichtung von Kulturen in einem einfachen geographischen Sinn.
Wenn wir uns mit Kartographie (und um diese scheint sich alles in Europa zu drehen) beschäftigen, dann im Sinne einer politischen Kartographie und nicht einer hinter einer vagen Wissenschaftlichkeit versteckten. Man muß den Kontext oder die Geographie als politischen genius loci begreifen. Wenn wir über Unterschiede sprechen, dann sollten wir über Bedingungen sprechen. Auch wenn es scheint, daß die Ergebnisse in jedem Teil Europas ähnlich sind, sollten wir uns bewußt sein, daß die Bedingungen und daher auch ihre Auswirkungen unterschiedlich sind. Wir widmen uns jetzt einer Dekonstruktion und einer erneuten Konstruktion derselben Geschichte, die aber jetzt durch bislang nicht ausdrückbare Gedanken, Bilder und Tatsachen erweitert ist.
Veränderungen und kulturelle Traditionen, die in Osteuropa während der Zeit des realen Sozialismus und bereits zuvor entstanden sind und auch kulturelle Strategien und Taktiken sowie Strategien und Taktiken von Bürgerbewegungen in diesen Regionen einschließen, sollte man dabei in die Überlegungen einbeziehen, wenn man versucht, die neue europäische Kultur zu definieren.
Einiges davon wurde in der "Moskauer Erklärung" formuliert, die zur Zeit der "APT ART"- und "NSK EMBASSY"-Projekte der Gruppe IRWIN am 26. Mai 1992 in Moskau verfaßt wurde.
"1) Wir, die Künstler und Kritiker aus Ljublijana und Moskau, die wir uns anläßlich der Projekte APT ART und IRWIN NSK EMBASSY getroffen haben, anerkennen folgende Tatsachen:
A) Die Geschichte, die Erfahrung, die Zeit und der Raum der östlichen Länder des 20 Jahrhunderts können nicht vergessen, versteckt, zurückgewiesen oder unterdrückt werden.
B) Der ehemalige Osten existiert nicht mehr: eine neue Struktur des Osten kann nur durch eine Reflektion der Vergangenheit geschaffen werden, die in einer ausgereiften Form in die veränderte Gegenwart und in die Zukunft integriert werden muß.
C) Die konkrete Geschichte, diese Erfahrung sowie diese Zeit und dieser Raum haben eine bestimmte Subjektivität entstehen lassen, die wir entwicklen, formen und umgestalten wollen. Sie reflektiert auf die Vergangenheit und die Zukunft.
D) Diese spezifische östliche Identität, ihre ästhetische und ethische Haltung, ist uns allen gemeinsam und besitzt eine universelle, nicht für den Osten gültige Wichtigkeit und Bedeutung.
E) Die Bedingungen dieser gemeinsamen Situation sind nicht bloß individuell, sondern gehören zu einer gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Erfahrung, zu einer Identität und Physiognomie des gesamten Europas.
F) Die Erfahrung unterdrückender (totalitärer, autoritärer) Regierungen ist mehr als der Hälfte der Menschheit gemeinsam und kann mehr oder weniger deutlich überall auf der Erde gefunden werden.
G) Dieser Kontext und die weiter entwickelte Subjektivität sind die wirkliche Grundlage unserer neuen Identität, die besonders in den letzten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts (auch in der Form einer neuen gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Infrastruktur) eine klare Gestalt annimmt.
2) Dieser Text sollte die folgenden praktischen Ziele haben:
a) die Grundlage des neuen Bewußtseins zu artikulieren, das sich herausbildet und über das nachgedacht wird;
b) die vorgestellten Ideen durch die Schaffung neuer Infrastrukturen, eine Zwei-Wege-Kommunikation und einen neuen Informationsspeicher zu verwirklichen und zu verkörpern."
Die "Moskauer Erklärung" verweist auf das entscheidende Problem, wie sich in der gegenwärtigen Konstellation spezifische kulturelle Kontexte erhalten lassen und wie man eine Standardisierung vermeidet, also, in anderen Worten, wie man die eigentümliche Identität anderer Kulturen darstellt und interpretiert, ohne sie durch die einseitige und bereits existierende Perspektive der herrschenden Kultur zu vernichten.
Das Projekt APT-ART, das in den 80er Jahren in Moskau begann, stellt einen Versuch dar, nach politischen und persönlichen/künstlerischen Genealogien zu suchen, die parallel verlaufen und materiell verknüpft, aber politisch und kulturell weit voneinander entfernt sind. APT-ART bedeutet buchstäblich "Appartementkunst" und ist ein Versuch, die Tradition wiederzubeleben, Ausstellungen der Avantgarde in privaten Haushalten in Moskau durchzuführen. Vor der Perestroika und vor Glasnost ermöglichte dies den Künstlern und der Avantgardekunst das Überleben. APT ART entstand während der Brezhnev-Zeit und stellte auch eine ironische Paraphrasierung der amerikanischen POP ART dar. Die private Wohnung wurde so zu einem kulturellen Raum als einem Zentrum geistiger Kommunikation. Die in den 90er Jahren folgende APT ART INTERNATIONAL war eine künstlerische Internationalisierung des Projekts. Ein großer Küchentisch, der von Kunstwerken umgeben ist, bringt, wie es die Russen darstellen, das Private und das Öffentliche zusammen - und jetzt die internationale Öffentlichkeit.
Im Kontext des APT ART INTERNATIONAL PROJECT richtete die Künstlergruppe IRWIN im Zentrum von Moskau vom Mai bis Juni 1992 eine Botschaft der NEUE SLOWENISCHE KUNST (NSK) in einer Privatwohnung am Lenin Prospect No. 12, Apt. 24, als eine soziale Installation ein. Das Moskauer Projekt zeigte, daß der kommunistische Totalitarismus mit Rußland als Epizentrum jede Entstehungsmöglichkeit für andere Diskurse zerstört hatte. In dieser Hinsicht war Slowenien eine andere Geschichte, da es am Rand, an der Peripherie dieses exklusiven Totalitarismus lag. Deswegen blieb hier eine relative Freiheit und eine Koexistenz verschiedener politischer und künstlerischer Diskurse bestehen. Diese Konzepte dienen als "Institution zur Sichtbarmachung von verschiedenen kulturellen und künstlerischen Projekten und Geschichten", also um das sehen zu lassen, was bislang den Augen verborgen war.
Mit dem Abtritt des Sozialismus und Kommunismus und trotz der Integrationsprozesse in Europa ist dieser Kontinent gespaltener als lange Zeit zuvor. Die Medien könnten dies aufbrechen, aber geistig verschließt sich der Kontinent. "Wir leben in der Gegenwart, die kontinuierlich in die Vergangenheit reicht, und diese Vergangenheit ist unsere Zukunft", singt die Laibach-Gruppe. Die vereinfachte Version des Gleichgewichts zwischen Osten und Westen, das auf eine Identifikation des Ostens mit dem Westen ausgerichtet war, ist nicht mehr möglich. Am Glauben der gleichen Chancen festzuhalten, ist mehr als utopisch: das ist selbstmörderisch.
Schreckgespenst(er) Europas
Man sucht stets nach einem symbolischen Punkt, an dem man sagen kann, daß hier etwas endet und etwas anderes beginnt, selbst wenn es keine derartigen Enden und Anfänge gibt. Aus einer westeuropäischen oder amerikanischen Perspektive wurde der Wandel in Osteuropa durch den Abriß der Berliner Mauer symbolisiert. Aus einer ex-jugoslawischen Perspektive würde dieser symbolische Punkt in den 80er Jahren liegen, als Tito starb. Sol Yurik fragte sich selbst, wie wir diese sich entwickelnde, aber noch nicht abgeschlossene Neue Weltordnung beschreiben werden. Er nannte sie postindustrialistisch, postmodern, postnationalistisch, post-neokolonialistisch, poststruktural, mit durchlässigen Grenzen versehen, kannibalistisch, postmaterialistisch, hyperverschmutzt und so weiter ins Unendliche.
Ich werde sie postsozialistisch nennen. Auf welchen anderen möglichen symbolischen, gesellschaftlichen, künstlerischen und politischen Raum können wir uns sonst beziehen, wenn wir über die Entwicklungen in der Kunst und Kultur auf dem Territorium Ex-Jugoslawiens und Zentral- sowie Osteuropas sprechen wollen, als auf den postsozialistischen Raum, um den modernen Mythos einer globalen Welt ohne kulturelle, gesellschaftliche oder politische Besonderheiten, ohne Zentren und Ränder, zu dekonstruieren?
Aber wie soll man den Postsozialismus selbst verstehen, der für die meisten der Länder im ehemaligen europäischen Ostblock die grundlegende kulturelle, gesellschaftliche und politische Bedingung war? Der Postsozialismus ist eine generative Matrix, die die Beziehungen zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, zwischen dem Vorstellbaren und dem Unvorstellbaren regelt. Das ist ein Darstellungsakt, der nicht auf den Punkt hinweist, an dem sich die Unterschiede selbst manifestieren, sondern auf den Punkt auf der postsozialistischen Karte, wo die Auswirkungen dieser Unterschiede repräsentiert sind.
Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer