Träume aus tausend und einer Marktwirtschaft
Saudi-Arabien ist das Öl zwar noch nicht ausgegangen, aber der Preisverfall zwingt das Königshaus zu einer Modernierungsoffensive
Der niedrige Öl-Preis macht vielen zu schaffen. Venezuela hat freie Tage im öffentlichen Dienst eingeführt, um Strom zu sparen. Und auch in dem Land, das wie kein anderes für sagenhaften Reichtum dank reichlich sprudelnder Ölquellen steht, macht sich der Preisverfall bemerkbar. Saudi-Arabien, das Königreich, in dem mit Mekka und Medina die zwei heiligsten Stätten des Islam liegen und wo Frauen nicht Auto fahren dürfen, diesem Land geht das Geld aus.
Einst beruhte der Staatshaushalt zu mehr als 90 Prozent aus Einnahmen aus dem Ölverkauf. Die Saudis mussten keine Einkommenssteuern zahlen, Bildung, Gesundheitsversorgung, Wasser, Strom, all das war dank der Ölgewinne kostenlos oder stark subventioniert. Doch der Ölpreis ist inzwischen von mehr als 100 Dollar pro Barrel auf rund 40 Dollar gefallen. Für Saudi-Arabien bedeutet das: In 2015 fehlten 90 Milliarden Euro im Staatshaushalt, bei einer Wirtschaftsleistung von 600 Milliarden Euro entsprach das einem Defizit von 15 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. In 2016 soll das Defizit durch Ausgabenkürzungen auf 13,5 Prozent sinken.
Die niedrigeren Öleinnahmen zwingen das Herrscherhaus zum Handeln. Noch ist die Krise zwar nicht akut. Das Öl fließt noch, der "peak oil", das globale Fördermaximum, ist noch nicht erreicht. Außerdem hat der Staat Reserven gebildet. Aus dem Ölverkauf sind einst 732 Milliarden Dollar angespart worden. Aber davon waren Ende 2015 nur noch 632 Milliarden Dollar übrig. Saudi-Arabien lebt also gerade von der Substanz, die immer kleiner wird.
Eine Vision für das Jahr 2030
Deswegen will Saudi-Arabien die Abhängigkeit vom Öl verringern. Wie, das hat die Regierung in der "Saudi Vision 2030" festgelegt.
Saudi-Arabien soll künftig auf drei Säulen stehen. Die erste ist der Status als Herz der islamischen Welt mit den Heiligtümern in Mekka und Medina. Rund anderthalb Millionen Gläubige pilgern jedes Jahr nach Mekka und bringen Geld ins Land. Die zweite ist seine Macht als Finanzinvestor, die dritte seine strategisch wichtige Lage als Hafen, der die Kontinente Europa, Afrika und Asien miteinander verbinden kann. Das Saudi-Königreich - keine Tankstelle der Welt mehr, sondern ein globaler Finanzinvestor mit Hafenanlagen? Das wäre in der Tat neu.
Als praktischen Schritt in die neue Richtung hat die Regierung angekündigt, den staatlichen Ölkonzern Aramco von einem Ölproduzenten in ein global agierendes Industrieimperium umzuwandeln. Dazu passt, dass Saudi-Arabien erstmals Aramco teilprivatisieren will. Fünf Prozent der Anteile sollen an die Börse. Aramaco hat derzeit einen Börsenwert von 2000 Milliarden Dollar. Das ist so viel wie Google und Apple zusammen. Würde nur ein Prozent verkauft, wäre es immer noch der größte Börsengang der Geschichte, sagte Vize-Kronprinz Mohammed ibn Salman, der das Reformprogramm erstellt und der Öffentlichkeit vorgestellt hat. "Wir sind abhängig vom Öl", räumte der 31-Jährige dem Sender "Al Arabiya" ein. "Das ist gefährlich. Ich denke, bis 2020 können wir ohne leben."
Unsicherer Verbündeter des Westens
Mohammed ibn Salman ist der neue starke Mann des Königreichs, seit am 23. Januar 2015 die Herrschaft vom verstorbenen König Abdullah auf dessen Halbbruder Salman überging. Dieser machte seinen Sohn Mohammed ibn Salman zum Verteidigungsminister, Vize-Kronprinz und zweiten stellvertretenden Premierminister. "Er gilt als extrem korrupt, raffgierig und arrogant. Niemand in den politischen oder diplomatischen Kreisen Saudi-Arabiens weiß irgendetwas Positives über den neuen starken Mann in der Regierung zu sagen", schrieb damals der deutsche Nahost-Korrespondent Martin Gehlen.
Inzwischen gilt Saudi-Arabien im Westen zunehmend als unsicherer Alliierter. Und Riad ist von Washington enttäuscht, weil der Westen mit dem Iran das Atomabkommen geschlossen hat, das die Sanktionen gegen den schiitischen Rivalen aufhebt. Als US-Präsident Barack Obama kürzlich Saudi-Arabien besuchte, holte ihn König Salman nicht mal am Flughafen ab Offenbar waren Obamas Ansichten zum Nahen Osten nicht auf offene Ohren gestoßen. Der scheidende US-Präsident hatte in einem großen Interview mit dem Journalisten Jeffrey Goldberg den Saudis geraten, sich den Nahen Osten mit Iran zu "teilen", weil sich nur so Stellvertreterkriege wie in Syrien und Jemen vermeiden lassen.
Konkurrenz mit Teheran
Doch die saudische Führung kennt nur noch ein außenpolitisches Ziel: den Einfluss Teherans im Nahen Osten zurückzudrängen. So will Riad verhindern, dass der Iran nach der Aufhebung des Embargos seinen alten Weltmarktanteil als Ölexporteur von 4 Millionen Barrel am Tag zurückbekommt. Lieber nimmt Saudi-Arabien einen niedrigen Ölpreis in Kauf. Und so sind alle Versuche, die Fördermengen zu begrenzen, kürzlich gescheitert (Verhandlungen gescheitert, Ölpreis stürzt).
Im Kampf gegen die Schiiten schreckt Riad auch vor militärischen Mitteln nicht zurück. Und so führt Saudi-Arabien inzwischen Krieg im Jemen gegen die schiitischen Huthi-Milizen und damit gegen einen möglichen Einfluss des Iran auf der arabischen Halbinsel. Das Kriegsziel, die Wiedereinsetzung des Präsidenten Hadi, ist bis heute nicht erreicht. Dafür sind Millionen Menschen auf der Flucht, die Versorgung der Bevölkerung ist zum Teil zusammengebrochen. Außerdem hat Riad als Kollateralschaden in Kauf genommen, dass sich die Terrormiliz al-Qaida im Jemen festsetzt. Denn die ist sunnitisch und gilt Riad damit als weniger gefährlich als die Huthis. Für den Krieg ist übrigens als Verteidigungsminister Mohammed ibn Salman verantwortlich.
Ökonomische Unabhängigkeit
Saudi-Arabien geht also zunehmend eigene Wege. Insofern passt die "Vision 2030" gut zum neuen Kurs, zur neuen Unabhängigkeit - weg von den USA, weg vom Öl. So soll der Anteil der Ölförderung an der Wirtschaft von 47 auf 11 Prozent sinken. Mit den angehäuften Ölgeldern soll das Land ein ökonomischer Global Player werden mit Beteiligungen in aller Welt, aber auch einem starken Binnenmarkt, dessen Wirtschaftsleistung bis 2030 auf 1600 Milliarden Dollar steigen soll. Durch das Wachstum sollen neue Arbeitsplätze entstehen und von heute 4,5 Millionen auf 10,8 Millionen steigen. Das ist auch nötig, denn 37 Prozent der Bevölkerung sind jünger als 14 Jahre. Sie werden bald auf den Arbeitsmarkt drängen.
Wie das neue Saudi-Arabien aussieht, auch das erläutert die "Vision 2030" ganz plastisch: Das Königreich soll eine "dynamische Gesellschaft" mit "hoher Lebensqualität" werden; Umweltschutz und erneuerbare Energien stehen hoch im Kurs; das Land ist familien- und kinderfreundlich, hat ein hervorragendes Gesundheitssystem und ist offen für Besucher aus aller Welt; es gelten gleiche Chancen für alle, unabhängig vom Geschlecht, wobei Frauen "einer der großen Aktivposten" des Landes sind, in deren Bildung investiert wird. Aber natürlich ist das Land weiterhin seinen islamischen Werten verpflichtet. In einem noch zu bauenden "Islamischen Museum" wird die islamische Geschichte gezeigt.
Vom Öl- zum Waffenhändler
Aber Saudi-Arabien soll auch militärisch unabhängiger werden. Daher will das Königreich seine eigene Rüstungsindustrie aufbauen. Immerhin hat es die weltweit dritthöchsten Militär-Beschaffungskosten, doch davon fließen heute nur zwei Prozent an heimische Betriebe, hält die "Vison 2030" bedauernd fest. Das soll sich ändern: Bis 2030 sollen 50 Prozent der Rüstungseinkäufe im eigenen Land getätigt werden können. Schon heute würden Panzerfahrzeuge und Munition selbst hergestellt, künftig sollen es auch Flugzeuge und andere komplizierte Waffensysteme sein. Saudi-Arabien würde dann natürlich auch zum Rüstungsexporteur werden, um auch hier neue Einnahmen zu generieren.
Ökonomisch zieht jetzt ein Geist von "Thatcherismus" durch Saudi-Arabien, wie der britische "Telegraph" bemerkte. Denn die "Vision 2030" folgt einem Report, den die Unternehmensberatung McKinsey schon im Dezember 2015 unter dem Titel "Beyond Oil" veröffentlicht hatte. Nach dieser Vorlage soll aus Saudi-Arabien eine wettbewerbsfähige, moderne Volkswirtschaft werden. Doch das ist zunächst mal alles Theorie: Der Internationale Währungsfond (IWF) hat bereits in einer Studie darauf hingewiesen, wie schwer es ist, dem "Rohstoff-Fluch" zu entkommen und sich vom Öl unabhängig zu machen.
Außerdem ist völlig unklar, wie das Land reagieren wird, wenn nicht mehr alles hoch subventioniert ist. Und wie die Geistlichkeit es verkraftet, wenn zum Beispiel der Anteil der Frauen an den Beschäftigten wie geplant von 7 auf 24 Prozent steigt. Nicht nur deswegen stellt sich natürlich die Frage, ob das Autofahrverbot für Frauen noch durchhaltbar ist, an dem die Religiösen festhalten wollen. Weitere Opposition könnte aus der Königsfamilie selbst kommen, also von Leuten, die selbst gerne Karriere gemacht hätten und jetzt hinter Mohammed ibn Salman zurückstecken müssen. Das bisherige saudische Modell, Öl gegen Stabilität, hat jedenfalls ausgedient.