Trauerspiel EU-Demokratie: Riesen oder Zwerge
Das Europaparlament an einem historischen Scheideweg, nachdem die Staats- und Regierungschefs die Entscheidung der Wähler nicht akzeptieren
Die europäische Union ist überhaupt keine Demokratie. Mit diesem Vorurteil kämpft Europa seit seiner Gründung. Die Kritik wurde in den letzten Jahrzehnten immer leiser. Das Parlament hatte sich mehr Macht erkämpft - Stück für Stück. Es wird direkt von den Bürgern gewählt. Und es hat echte Machtbefugnisse. Der Machtpoker - oder besser: das Trauerspiel - um die Besetzung der Kommissionsspitze befeuert die alten Vorurteile wieder. Und das nicht zu Unrecht.
Auf europäischer Bühne wird ein Trauerspiel aufgeführt. Es trägt den Titel: Kungler und Zwerge zerstören die Europäische Demokratie. Der erste Akt beginnt im Frühjahr. Die Europawahlen stehen vor der Tür. Die beiden großen Parteifamilien in Europa tun das, was Parteien vor einer Wahl tun müssen. Sie stellen Spitzenkandidaten auf.
Wählerinnen und Wähler sind in der Regel nicht durch nüchterne Parteiprogramme zu motivieren. Menschen brauchen Gesichter, Personen und Geschichten, um sich für Politik zu interessieren. Man mag es mögen oder nicht: Menschen wählen Menschen, nicht Programme. Deshalb werden Wahlen normalerweise von Personen geprägt, die sich einen Wahlkampf liefern. Manfred Weber von der EVP gegen Frans Timmermanns von der SPE - das war die Alternative bei dieser Europawahl. Damit war ein Versprechen an die Wählerinnen und Wähler verbunden. Wer von beiden Kandidaten die Mehrheit bekommt, wird Präsident der Europäischen Kommission. Das ist die ganz archaische Bedeutung einer Wahl. Der Gewinner der Wahl bekommt den Job.
Das Wahlergebnis ist bekannt. Die EVP wurde stärkste Fraktion. In einer Demokratie wäre die Entscheidung damit getroffen gewesen. Manfred Weber, der gesamteuropäische Spitzenkandidat der EVP, wird Präsident der Kommission. Das würde vielen nicht gefallen. Aber in der Demokratie gilt: Mehrheit ist Mehrheit und gewählt ist gewählt. Anscheinend gilt das aber nicht in der Europäischen Union.
Nach der Wahl schlägt in Europa die Stunde der Kungler in den Hinterzimmern
Der zweite Akt des Dramas beginnt. Die europäischen Verträge sehen ein zweistufiges Verfahren vor. Die Staats-und Regierungschefs der Mitgliedstaaten machen einen Vorschlag, wer Präsident der Kommission werden soll. Das europäische Parlament stimmt diesem Vorschlag zu - oder es lehnt den Vorschlag ab. Gegen den Willen des Parlaments, das direkt von den Bürgerinnen und Bürgern gewählt ist, kann niemand Präsident der Kommission werden.
Vor allem der französische Staatspräsident und die Regierungschefs der Visegrad-Staaten haben - aus ganz unterschiedlichen Gründen - Schwierigkeiten, das Ergebnis der Europawahl zu akzeptieren. Sie machen das, was in Europa viel zu oft gemacht wird: Sie beginnen völlig intransparent in den Hinterzimmern der Macht Koalitionen zu schmieden, um das demokratisch gefundene Wahlergebnis auszuhebeln. Am Ende steht das bekannte Personalpaket, über das jetzt diskutiert wird.
Man darf es nicht beschönigen: Die Staats- und Regierungschefs akzeptieren die Entscheidung der Wählerinnen und Wähler nicht. Das ist ein eigentlich unfassbarer Skandal, der die Grundlagen der Demokratie erschüttert. Europa hat ein immer schlechteres Image bei den Bürgern. Das (Vor)Urteil, Brüssel sei viel zu weit weg von den Bürgern, ist nicht totzukriegen. Die skandalöse Politik von Macron und Co. bei der Besetzung der europäischen Spitzenposten befeuert diese Meinung und spielt damit den antieuropäischen Populisten in die Hände.
Eigentlich dürfte das kein Problem sein. Ob das Personalpaket von der Leyen und Co. angenommen wird, hängt ja in letzter Instanz vom Parlament ab. Das Parlament könnte den Vorschlag ablehnen. Dann wäre er endgültig vom Tisch.
Vor dem Wählerbetrug
An dieser Stelle beginnt der dritte Akt des Dramas. Wer jetzt ein selbstbewusstes Parlament erwartet hätte, reibt sich verwundert die Augen. Die Parlamentarier entpuppen sich als politische Zwerge. Sie verzetteln sich in nationalen und parteipolitischen Scharmützeln. Nicht zuletzt persönliche Eitelkeiten verhindern (bisher), dass das Parlament sich gegen den europäischen Rat wehrt. Die Parlamentarier lassen sich tatsächlich auf die Diskussion ein, ob sie dem Personalpaket zustimmen könnten. Ist ihnen nicht klar, dass sie den Wählerinnen und Wählern etwas ganz anderes versprochen hatten? Merken Sie nicht, dass sie an der Schwelle zum - ja, man muss es so sagen - Wählerbetrug stehen?
Natürlich gibt es vernünftige Argumente für das Personalpaket. Es ist ja nicht dumm. Ausgewiesene europafreundliche Politikerinnen und Politiker sollen auf wichtige Spitzenpositionen berufen werden. Alle möglichen politischen und nationalen Interessen werden dabei sorgfältig ausbalanciert. Solche Personalpakete zu schnüren ist eine große Kunst, die Europa gut beherrscht. Europa ist ein unglaublich komplexes politisches, kulturelles und wirtschaftliches Gebilde. Ohne solche ausgetüftelten Kompromisse wäre es nicht handlungsfähig. Wäre es also nicht wirklich vernünftig, als Parlamentarier diesem Paket zuzustimmen? Nicht zuletzt würde zum ersten Mal in der europäischen Geschichte eine Frau zur Kommissionspräsidentin gewählt. Das wäre tatsächlich ein historisches Ereignis. Mit diesem Argument versuchen die nationalen Machtpolitiker - und Hinterzimmer-Kungler - die europäischen Parlamentarier zu verführen. Es wäre aber ein Skandal, wenn diese Verführung erfolgreich wäre. Warum eigentlich? Wie so oft geht es um Kommunikation.
Wichtig ist nicht nur die Qualität von Politik. Mindestens ebenso relevant ist, wie die Politik in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Das ist das kleine Einmaleins der öffentlichen Kommunikation. Es hilft in der Demokratie wenig, nur inhaltlich gute Politik zu machen. Die Öffentlichkeit, die Wählerinnen und Wähler müssen das auch wahrnehmen. Ohne öffentliche Unterstützung ist die beste Politik über kurz oder lang am Ende. Wie im Leben, geht es auch in der Politik sehr stark um Gefühle und Symbole. Wir sind alle viel weniger rational und vernünftig, als wir glauben (wollen).
Gibt es Parlamentarier mit Rückgrat?
Europa muss nicht nur eine Politik machen, die vernünftig und fair ist. Die EU muss auch die Herzen der Bürgerinnen und Bürger gewinnen. Deshalb geht es jetzt um die Gefühle der Wählerinnen und Wähler. Besonders wichtig sind in der Kommunikation Zeichen und Symbole. Sie bringen Inhalte prägnant auf den Punkt und verbreiten eine Botschaft rasant. Sie prägen die Wahrnehmung der EU viel stärker, als es eine jahrzehntelange vernünftige Politik könnte. Das bedeutet ganz konkret: Wie sich das Parlament jetzt verhält, ist wichtiger als seine Alltagsarbeit in der gesamten nächsten Legislaturperiode. Das Europaparlament wird jetzt ein Zeichen setzen - so oder so. Es steht am Scheideweg.
Gibt es in Europa ein starkes und selbstbewusstes Parlament, das zu seinen Wahlversprechen steht? Gibt es Parlamentarier mit Rückgrat, die sich nicht von machtpolitischen Spielchen im Hinterzimmer beeindrucken lassen? Wagt das Parlament die historische Machtprobe mit den Staats und Regierungschefs? Lehnen die europäischen Abgeordneten das ausgekungelte Personalpaket mit großer Mehrheit ab? Dann hätten die Wählerinnen und Wähler ein positives Gefühl gegenüber dem Parlament und gegenüber der EU insgesamt. Ihr Urnengang hätte etwas bewirkt. Sie hätten spürbar Einfluss auf die Politik genommen. Sie hätten Abgeordnete in Brüssel und anderswo, auf die Verlass ist und die für die Interessen der Bürger arbeiten und kämpfen. Das Europa der Bürgerinnen und Bürger wäre nicht nur eine hohle Floskel, die man nicht ernst nehmen kann - oder sogar darf.
Das Parlament hat also die Möglichkeit, viel für das Image der EU und das europäische Bewusstsein zu tun. Nicht zuletzt kann es ein starkes Zeichen für die parlamentarische Demokratie setzen.
Es gibt immer eine Alternative. Die Parlamentarier können sich auch auf dubiose Deals einlassen und dem Personalpaket von der Leyen und Co. zustimmen. Dann hätten sie die historische Chance, ein Zeichen für die Demokratie in Europa zu setzen, kläglich verstolpert. Alle bösen Vorurteile über ein bürgerfernes Europa der Bürokraten und Hinterzimmer-Kungler hätten sich bestätigt. Die Europaabgeordneten hätten - noch viel schlimmer - Demokratieverdrossenheit geschürt. Egal, was der Wähler sagt, die da oben machen ja doch, was sie wollen. Das ist das emotionale Mantra der Demokratieverdrossenheit.
Setzt sich das in weiten Teilen der Bevölkerung fest, hat die Demokratie ein echtes Problem. Und das Europaparlament hätte viel getan, dieses Gefühl in ganz Europa zu bestätigen. Und nicht zuletzt: Sollte das Parlament die Machtprobe mit dem Rat vermeiden, wäre das eine direkte Wahlhilfe für alle antieuropäischen Populisten von rechts und von links in ganz Europa. Sie münzen die antieuropäischen Affekte direkt in Wählerstimmen um.
Das Parlament steht tatsächlich vor einer historischen Entscheidung. Die Alternative ist klar. Die Abgeordneten können sich als politische Riesen zeigen, die die Interessen der Wählerinnen und Wähler auch gegen starke Widerstände verteidigen. Dann müssten sie den Personalvorschlag der Staats- und Regierungschefs eindeutig ablehnen. Sie könnten dem Vorschlag auch mit mehr oder weniger ausgeklügelten Argumenten zustimmen. Dann wären sie politische Zwerge, die den Kunglern in den Hinterzimmern nichts entgegensetzen und den Willen der Wähler vergessen. Wer wollte solch ein Parlament dann noch ernst nehmen? Die Abgeordneten hätten alles Vertrauen verspielt. Die EU ist seit Jahren in einer schleichenden Vertrauenskrise. Das Parlament hätte die Krise der Europäischen Union deutlich verschärft.
Prof. Dr. Dr. Volker Boehme-Neßler ist Jurist und Politikwissenschaftler an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg.
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