Treibhausgase reduzieren: Prozentrechnen ist böse
Abstrakte Ziele auf die Gegenwart herunterzubrechen macht selbst eingefleischten Klimaaktivisten Schwierigkeiten
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 29.04.2021 erklärt die 1,5-Grad-Grenze des Pariser Klima-Abkommens "letztlich für verfassungsrechtlich verbindlich" (BUND). Die daraufhin einsetzende operative Hektik gerade jenseits ökologischer Parteien deutet darauf hin, dieses unliebsame Thema möglichst schnell vom Tisch zu bekommen, um unbeschwert wahlkämpfen zu können, mit den immerselben "Wir-schaffen-Wachstum"-Slogans wie schon seit 70 Jahren.
Die Rechnung könnte aufgehen, denn in dem Gesetzgebungsprozess wurde nur mit abstrakten Zahlen hantiert, ohne zu kommunizieren, welche Tiefe der Wandel zur Nachhaltigkeit tatsächlich bedeutet - und zwar nicht erst in fünf oder zehn Jahren, sondern bereits heute und morgen. Dass dieses Wissen selbst bei so manchem eingefleischtem Umweltaktivisten fehlt, wurde mir deutlich, als auf meine Frage nach einer Schätzung der für das Jahr 2021 notwendigen Emissionsreduktionen viel zu geringe Werte genannt wurden, bis hinab zu "drei Prozent". Hier wurde offenbar, dass Prozentrechnen und exponentielle Entwicklungen nicht mit unserer Vorstellungswelt einhergehen, die sich scheinbar nur mit linearen Zusammenhängen wohlfühlt.
Das fängt schon damit an, dass Reduktionsverpflichtungen gern auf das Jahr 1990 bezogen werden. Das Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie zeigt eindrücklich, dass Reduktionsverpflichtung von 85 Prozent bis zum Jahre 2030 verglichen mit 1990 notwendig sind, um das Pariser 1,5-Grad-Klimaziel sowie Klimaneutralität bis 2035 zu erreichen.
Die Reduktionen betrugen in Deutschland zwischen 1990 und 2020 ca. 40 Prozent, d.h., zu den 85 Prozent bis 2030 fehlen "nur noch" 45 Prozent der Reduktionen, allerdings bezogen auf das Jahr 1990. Bezogen auf das bereits niedrigere Emissionsniveau des Jahres 2020 müssen die Emissionen dann allerdings um 75 Prozent gesenkt werden (Rechnung: [1-15/(100-40)] *100 Prozent, bzw. "von 60 auf 15 ist Minus 75 Prozent") - und eben nicht um "nur noch" 45 Prozent.
Die nächste Vorstellungsfalle ist nun zu meinen, es wäre ganz einfach, die Emissionsreduktion linear über den verbleibenden Zeitraum zu verteilen. D.h., eine lineare Emissionsverminderung um 75 Prozent über 9 Jahre (2021-2030) so zu berechnen, dass man einfach die 75 Prozent durch 9 Jahr teilt und eine Reduktion von ca. 8,3 Prozent pro Jahr erhält. Denn diese 8,3 Prozent beziehen sich auf die Emissionen von heute. Setzt man diese = 100 Prozent, dürfen sie 2022 nur noch 91,7 Prozent vom heutigen Wert betragen, und im Jahr 2030 eben nur noch 25 Prozent vom heutigen Wert. So weit, so trivial.
Diese Rechnung verkennt folgendes: Im Jahr 2029 dürften die Emissionen noch (25 + 8,3) Prozent = 33,3 Prozent des heutigen Wertes betragen, im Jahr 2030 nur noch 25 Prozent. Bezogen auf das Jahr 2029 bedeutet eine einjährige Reduktion von 33,3 Prozent auf 25 Prozent allerdings eine Reduktionsverpflichtung innerhalb eines Jahres von 25 Prozent! (Rechnung: [33,3-25]/33,3] *100 Prozent), weil dann die Emissionen wesentlich kleiner sind aber um denselben absoluten Beträge verringert werden müssen wie von 2021 auf 2022. D.h., eine über die Jahre lineare Emissionsverminderung vergrößert die zukünftig notwendigen Anstrengungen massiv. Wem das vorher bereits sonnenklar war: Gratulation. Aber das ist eine für viele Menschen durchaus gewöhnungsbedürftige Tatsache.
Will man diese steigende Belastung in der Zukunft vermeiden, wird es ein wenig komplizierter. Jährlich konstante Raten der Verminderung ziehen Exponentialfunktionen nach sich, wie sie beim radioaktiven Zerfall oder bei einer abklingenden Virusepidemie (R<1) auftreten. Ziel ist es, dass die jährliche Reduktion, bezogen auf das aktuelle Jahr, stets konstant ist. Setzt man wie oben die Emissionen im Jahr 2021 gleich 100 Prozent und im Jahr 2030 gleich 25 Prozent der heutigen Emissionen an, so kommt man mit etwas Oberstufenmathematik sehr leicht auf folgende Formel:
Emissionen im x-ten Jahr = 100*e-0.154*{x-tes Jahr} = 100*0.857{x-tes Jahr}
(alle Werte in Grafik 3; lese: "Nach dem ersten Jahr müssen die Emissionen auf 85,7 Prozent gesunken sein" u.s.w…)
Dies bedeutet: Bei jährlich identischen Reduktionsverpflichtungen müssen diese jährlich 14,3 Prozent betragen, damit sich die Emissionen nach neun Jahren nur noch auf 25 Prozent des heutigen Wertes belaufen! (Zur Verdeutlichung: Jedes Verhältnis zweier benachbarter Zahlen in Grafik 3 beträgt 0,857 = 1 - 0,143 )
Nun kommt das nächste Problem, leider kein mathematisches: Dass sich kaum ein Mensch vorstellen kann, was 14,3 Prozent Emissionsreduktionen konkret bedeuten, und zwar ab dem ersten Jahr und danach immer wieder. Außer man hat sich bereits ausführlich mit dem Thema beschäftigt, Szenarien dazu gebastelt oder sich als Energiesparer engagiert, dabei Buch geführt und Kilowattstunden gezählt. Wenn Sie 14,3 Prozent Heizwärme einsparen wollen, dann können Sie z. B. die durchschnittliche Raumtemperatur um zwei Grad senken, dann sparen Sie schonmal rund 12 Prozent ihrer Emissionen.
Was im ersten Jahr im ein- oder anderen Raum ohne großen Komfortverlust vielleicht möglich sein könnte, wird aber bereits im zweiten Jahr scheitern. Bereits dann stellt sich die Frage nach besserer Wärmedämmung oder fossilfreier Heizungsanlage und somit von Investitionen, die Kosten im fünfstelligen Bereich verursachen. Wobei ein Mieter, der knapp bei Kasse ist, durchaus hoffen muss, dass die Generalsanierung eines Mietshauses noch länger auf sich warten möge, weil: Mietsteigerungen wegen Modernisierungsmaßnahmen.
Dasselbe Gedankenspiel in Punkto Mobilität bringt dieselbe Erkenntnis: A bisserl was geht schon, aber wer vom Land kommt oder aus sonstigen Gründen auf ein Auto angewiesen ist, steht genauso schnell vor dem Problem, über größere Investitionen entscheiden zu müssen wie im Wärmebereich (in ein E-Auto oder die Veränderung des Lebensmittelpunkte z. B.).
Vielleicht wird bereits an dieser winzigen Konkretisierung deutlich, dass auch Politiker, selbst wenn sie die Größenordnung des Problems erfasst haben, sich lieber einfacheren und zustimmungsfähigeren Politikfeldern zuwenden. Wer könnte es ihnen auch verdenken? Und auch nachvollziehbar dürfte sein, dass die Bundesregierung lieber ein Ziel beschließt, von dem sie die Illusion hegen kann, jenes zu erreichen, auch wenn das Ziel ungenügend ist. Wenn in dem reformierten Klimaschutzgesetz Klimaneutralität 2045 und minus 65 Prozent für das Jahr 2030 als Ziel festgeschrieben werden - womit das 1,5-Grad-Ziel sicher nicht erreicht werden kann - dann erhält man bei analoger Rechnung wie oben, dass die CO2-Minderung jährlich "nur" 8,4 Prozent betragen müsste. Ist das wirklich wenig? Zur Erinnerung: Der Rückgang der CO2-Emissionen durch die Covid-Pandemie betrug 2020 in Deutschland 8,7 Prozent. Einmalig.
Es gibt noch ein weiteres Problem: Um das Pariser 1,5-Grad-Ziel (mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent ) zu erreichen, hat die Menschheit ein Budget an Treibhausgasemissionen, bis sie klimaneutral sein muss. Davon stehen Deutschland entsprechend seinem Bevölkerungsanteil rund 1,1 Prozent zu, das waren Anfang 2021 noch 3,5 Mrd. Tonnen CO2.1
Die Emissionen können wir nun geschickt über die kommenden Jahre verteilen. Dabei leuchtet unmittelbar ein, dass jedes Jahr, wo wir den Verbrauch nicht deutlich runterbekommen, ein Riesenbatzen unseres Budgets durch die Schornsteine gepustet wird. Auf die Gegenwart übersetzt bedeutet dies vor allem, sofort mit dem Umbau anzufangen. Je niedriger die Reduktionen in den Jahren 2021/22, desto schneller ist das Budget aufgebraucht. Deshalb müssen die leichter zu realisierenden CO2-Vermeidungen möglichst sofort umgesetzt werden, deshalb sollten die Reduktionen in den Jahren 2021 bis 2024 deutlich höher ausfallen als zum Ende des Zeitraums bis 2030.
Wenn Deutschland die Pariser Klimaziele wirklich erreichen will, sprechen wir eher von einem jährlichen Reduktionsziel um 16 Prozent für die kommenden zwei bis drei Jahre! Warum beschleicht mich das Gefühl, dass selbst eine grüne Bundeskanzlerin dieses Ziel nicht annähernd erreichen wird? Vielleicht weil es da noch ein weiteres Problem gibt, diesmal mit unserem Wirtschaftssystem: Stellen Sie sich für einen Moment vor, Sie schaffen es tatsächlich, durch deftige Investitionen mithilfe ihrer Ersparnisse ihre unmittelbaren CO2-Emissionen zu fünfteln. Dann haben Sie aufgrund der geringeren Heizkosten Geld übrig. Stellt sich die Frage: Was machen Sie mit dem übrigen Geld? Vermehrte Flugreisen? Dann war alles für die Katz. Mehr südostasiatische Unterhaltungselektronik? In Bitcoins investieren? Dann war ebenfalls alles für die Katz, dann lassen Sie nur wo anders emmitieren.
Nächste Möglichkeit: Weniger arbeiten und weniger Geld verdienen? Das ist eine Lösung, aber nur, wenn dann nicht ein anderer ihr Geld verdient und anstatt Ihrer sein Geld in CO2-Emissionen "umsetzt". Wenn aber sehr viele Menschen weniger arbeiten, weil sie weniger Geld brauchen, weil sie weniger CO2 emittieren wollen, dann schrumpft die Wirtschaft, was bekanntlich stets mit Krisen einhergeht. Bleibt eigentlich nur noch eine Möglichkeit innerhalb dieses Wirtschaftssystems: Sie investieren ihr Geld so, dass bei der Schaffung eines BIP-Euro drastisch weniger Emissionen entstehen, z.B. in neue Verfahren oder alternative Wirtschaftskreisläufe.
Das geschah natürlich auch in der Vergangenheit schon: Die CO2-Emissionen pro BIP-Euro sanken in den vergangenen Jahren im Schnitt um rund zwei Prozent.2 Wenn dabei das BIP nicht sinken soll (sonst Krise!), müssten sich die Effizienzfortschritte binnen Jahresfrist versieben- besser verachtfachen (auf 14 - 16 Prozent). Und in den darauffolgenden Jahren auf diesem Niveau bleiben. Auch hier gilt: Unternehmen, die bisher wenig über Energieeinsparung nachgedacht haben, könnte das im ersten Jahr durchaus gelingen. Aber schon im zweiten Jahr wird’s knifflig.
Vor allem herrscht zwischen Unternehmen bekanntlich Konkurrenz, weshalb sie im Allgemeinen bei der Herstellung ihrer Produkte nicht sonderlich verschwenderisch mit Ressourcen umgehen. Die simple Folge: Die Emissionen bei der Herstellung von Produkten werden nicht im notwendigen Umfang zurückgehen können. Die schwierige Folge: Wer Klimaziele erreichen will, braucht ein Wirtschaftssystem, das nicht wachsen muss und indem immense Summen in Energieeinsparungen investiert werden. Das weder alle Nase lang zu Mehrkonsum verführt noch bei schrumpfenden Materialschlachten Arbeitslosigkeit produziert. Das erfordert nicht weniger als einen Komplettumbau unseres Wirtschaftssystems. Noch sehe ich nicht, dass Annalena Baerbock dafür stünde.