Triage und Exit - die Diskussion um notwendige Tote
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Wie Menschenleben im Normal- und Ausnahmezustand zählen: als mehr oder weniger brauchbare Ressource
Es ist schon seltsam, während die einen auf eine Beendigung der Corona-bedingten Einschränkungen des kapitalistischen Alltags drängen, und zwar mit der Behauptung, die Verhinderung der Infektionen würde mehr Opfer kosten als eine Durchseuchung der Bevölkerung - bei der zugestandener Maßen ebenfalls Opfer in Kauf zu nehmen seien -, sorgen sich andere (so Andreas Zielcke, "Moralisches Elend", SZ, 31.3.2020) um die ethischen Maßstäbe der Gesellschaft, wenn wegen des Mangels an Intensivbetten und Beatmungsgeräten Medizinern die Entscheidung abverlangt wird, wen man sterben lässt und wer in den Genuss einer Behandlung kommt. Dies alles soll die Konsequenz einer Seuche sein, die die Menschen vor ganz neue Herausforderungen stellt. Dabei ist Manches so neu nicht.
Die drohende Triage …
Als Christ sage ich, es gibt nichts Heiligeres als das Menschenleben.
Arbeitsminister Hubertus Heil
Triage bezeichnet ein Verfahren aus der Militärmedizin, bei dem wegen Überlastung der medizinischen Versorgung vom zuständigen Personal, d.h. in der Regel von Ärzten, die Entscheidung gefällt werden muss, wen man sterben lässt, weil die Behandlung wenig Aussicht auf Erfolg hat, wer zu behandeln ist und wer auf eine Behandlung warten muss.
Einfach übernehmen wollen in der aktuellen Krisenlage die zuständigen zivilen Mediziner diese Unterteilung nicht; so wurde in der deutschen Öffentlichkeit mit Empörung zur Kenntnis genommen, dass in Frankreich die Über-80-Jährigen nicht mehr beatmet werden, sondern Opiate für ein schmerzfreies Sterben erhalten. Abgelehnt von deutschen Fachverbänden wurde auch das englische System, wonach sterben soll, wer bereits viele "innings", also positive Ergebnisse oder Lebensmöglichkeiten, gehabt hat, während andere bevorzugt werden, die noch nicht solche Chancen hatten. Dies würde in der Regel auch gegen diejenigen sprechen, die bereits länger - wie auch immer - gelebt haben, und den Jüngeren größere Überlebensmöglichkeiten einräumen.
Deutsche Intensivmediziner haben sich jetzt dafür entschieden, ganz unabhängig von der Art der Krankheit und dem Alter auf Grund der Überlebensmöglichkeiten des Patienten zu entscheiden (Föerderl-Schmid et al.: Hilfe beim Sterben, SZ, 27.3.2020). Solche Diskussionen machen die Bürger im Lande damit vertraut, dass im Rahmen der Pandemie weiterhin harte Entscheidungen anstehen; so widmen sich die Medien und die Fachleute der Vertrauensbildung, dabei stünde doch eher die Frage an, warum es zu einer solchen Entscheidung kommen soll.
Dass ein - möglicherweise katastrophaler - Mangel bei der medizinischen Versorgung eintreten wird, ist dabei als Sachzwang der unberechenbaren Pandemie und dem Virus zugeschrieben. Das Auftreten von Epidemien ist zwar ein Naturereignis, das man nicht vermeiden kann, auf das aber eine Vorbereitung durchaus möglich ist, wenn auch nicht in allen Einzelheiten - und dass man dies von fachlicher Seite prognostisch schon vor längerer Zeit ins Auge fasste, ist etwa nach den Telepolis-Beiträgen von Arno Kleinebeckel (Covid-19: Bereits 2012 gab es Planspiele mit dem hypothetischen Erreger "Modi-SARS") und Peter Grassmann (Die missachtete Risiko-Studie zur Pandemie) bekannt. Wenn jetzt die drohende Triage an die Wand gemalt wird, so wird einerseits ausgeblendet, woher die Notlage rührt, und andererseits, dass Triage bereits stattfindet.
Epidemien wie SARS oder die Vogelgrippe liegen nicht lange zurück; sie haben die westlichen Staaten nicht so stark betroffen wie die asiatischen Staaten. Die Reaktion auf die Vogelgrippe war seinerzeit, zuhauf Medikamente zu beschaffen, die eine Heilung oder Milderung bei der Virusinfektion versprechen. Dass diese sich später als unwirksam herausstellten, konnten die Politiker nicht wissen, wurden doch ihnen wie den Zulassungsstellen nur die Studien bekannt gemacht, die eine Wirkung versprachen, während gegenteilige Studien unter Verschluss blieben. Das hat die Staaten enorme Beträge gekostet, die Pharmafirmen machten ihre Gewinne und die Millionen waren weg. Wegen Betrugs wurden die Firmen, die zu den Schlüsselindustrien der europäischen und amerikanischen Länder zählen, dennoch nicht angezeigt.
Wenn man nun die Lage betrachtet, so haben die Staaten schon eine Lehre aus der letzten Krise gezogen: Warum einschlägige Mittel einlagern, wenn Geld vorhanden ist, mit dem der Zugriff auf alle Mittel in der Welt gesichert erscheint? Also ist jede Ausgabe für Schutzkleidung oder Masken vergeudetes Geld, wenn alle diese Güter käuflich zu erwerben sind. Da kennen Politiker andere Prioritäten. Jetzt zeigte sich rasch, dass die Mär, der Markt sorge immer für die beste Allokation von Gütern, ins Reich der Legenden gehört, wenn es um die Versorgung von Menschen geht. Da bestimmt die Zahlungsfähigkeit über den Erhalt oder Ausschluss von notwendigen Gütern, und in der Pandemie können diejenigen, die über die Schutzkleidung und Masken verfügen, ihre Macht nutzen, um möglichst viel für diese Güter zu verlangen.
Offensichtlich wurde dies am Mangel solcher Produkte, die nur für teures Geld zu erwerben sind - oder schlichtweg gar nicht, da die Produktion aus Kostengründen in wenige Länder ausgelagert wurde.
Bei der Gesundheit seiner Bürger verlässt sich der deutsche Staat auch nicht allein auf den Markt, er organisiert den Gesundheitsmarkt selbst: Er bestimmt, unter welchen Bedingungen wer wie viel Geld bekommt oder verlangen darf, sei es von den Krankenversicherungen oder von Privaten. Dies hat eben auch bewirkt, dass es sich für niedergelassene Ärzte, für Krankenhäuser, Pflegeheime, ambulante Pflegedienste oder Behinderteneinrichtungen nicht lohnt, irgendeine Vorratshaltung an Gerätschaften oder Schutzmaterialien zu betreiben.
Als die Pandemie sich ankündigte, herrschte daher in allen Bereichen Mangel, schließlich wurde Vorratshaltung für Epidemien im Gesundheitswesen nicht honoriert und auch staatliche Stellen wie der Öffentliche Gesundheitsdienst in Form der Gesundheitsämter wurden nicht mit entsprechenden Materialien ausgestattet. Letzterer hatte damit zu tun, dass ihm viele Aufgaben zugewiesen wurden, aber die entsprechende materielle und personelle Ausstattung unterblieb. Die Konsequenz: Er konnte die vielen gesetzlich vorgegebenen Aufgaben gar nicht erfüllen, wie nicht nur die Lebensmittel- oder Umweltskandale immer wieder öffentlich machten.
… und ihre schleichende Durchsetzung
Es gibt nur ein Gremium in Deutschland, das über Leitlinien von Leben und Tod entscheiden kann, und das ist das Parlament.
Deutsche Stiftung Patientenschutz
Die mangelnde Vorsorge bezüglich Schutzmaterialien hat sich denn auch mehrfach geltend gemacht. Weder die niedergelassenen Ärzte und ihre Angestellten noch die ambulanten oder stationären Pflegekräfte und Ärzte waren ausreichend geschützt, von Mitarbeitern in Behinderteneinrichtungen ganz zu schweigen. Deshalb begann die Triage gleich mit dem Start der Pandemie, weil Mundschutz oder Schutzkleidung Mangelware waren und auf die Kliniken konzentriert werden mussten. Pflege- und Altenheime, ambulante Pflege und auch die Bevölkerung erhielten nichts, statt dessen die Mitteilung, dass ein einfacher Mundschutz sowieso nicht helfe - eine Position, die das Robert-Koch-Institut mittlerweile revidiert hat, ganz im Sinne der regierungsoffiziellen Linie, die ja (siehe den Telepolis-Beitrag "Angst vor dem Virus, Vertrauen auf den Staat?" einige Standpunktwechsel hinter sich hat.
Die Zuteilung der Schutzmaterialien erfolgte nach der Art und Weise, die auch sonst den Alltag in dieser Gesellschaft bestimmt: Menschen werden nach ihrer Nützlichkeit taxiert. Dabei nehmen die Krankenhäuser eine Schlüsselstellung im Gesundheitswesen ein, erhalten daher prioritär das benötigte Material. Die Alten haben sich zwar nützlich gemacht und werden daher auch immer als besonders schutzbedürftig dargestellt, aber für ihren Schutz fehlen in den Altenheimen die Materialien. Wenn es um die Verteilung knapper Schutzkleidung und Atemmasken geht, dann erweist sich faktisch, dass diese Personengruppe ihren Dienst getan hat und schlichtweg nur noch eine Last ist. Von Menschen mit Behinderungen redet in dem Zusammenhang sowieso kaum jemand.
Von einer allgemeinen Empfehlung, Schutzmasken zu tragen, wurde lange Zeit abgesehen, statt dessen betont, dass solche Maßnahmen nicht vor einem Infekt schützen könnten. Das stimmt zwar, aber bei einer geringen Zahl von Testungen auf den Virus und damit einer hohen Zahl von unerkannten Viren-Trägern kann ein Mundschutz tendenziell verhindern, dass die nicht erkannten Träger des Virus diesen weiter verbreiten. Bis heute wird das Tragen eines Mundschutzes daher von den staatlichen Stellen einschließlich der WHO eher als ein Akt des zivilgesellschaftlichen Engagements und nicht als notwendige Maßnahme der Infektionsbekämpfung dargestellt.
Der Mangel an Schutzkleidung und Mundschutz wird weiter als ein Kosten- und Beschaffungsproblem behandelt. Eine verbindliche Leitlinie, Atemschutzmasken zu tragen, würde die Nachfrage danach erhöhen und damit die Preise treiben - eine zusätzliche Komplikation, wo es auf dem Weltmarkt bei diesen Produkten bereits einen Konkurrenzkampf der Nationen gibt, die alle für sich die benötigten Utensilien zu einem günstigen Preis sichern wollen, und wo die Trump-Regierung, wie man hört, mit regelrechten Konfiskationsmaßnahmen das Prinzip "America first!" durchsetzt.
Die Opfer zeichnen sich bereits ab: Weil sich die Verteilung der Schutzkleidung auf die Krankenhäuser konzentriert - die übrigens auch nicht ausreichend versorgt werden und teils verzweifelte Beschaffungsaktionen unternehmen -, kommen andere Bereiche zu kurz. Zwar können Pflegeheime oder Behinderteneinrichtungen Besuchsverbote aussprechen. Aber was helfen solche Maßnahmen, wenn die Pflege- und Betreuungskräfte weder getestet noch mit Schutzkleidung versehen werden (siehe E. Rattenhuber, Schutzlos ausgeliefert, SZ, 27.3.2020)?
Dann sind plötzlich und unerwartet viele Menschen gerade in einem Bereich, der nach Worten aller Verantwortlichen als besonders schutzbedürftig gilt, infiziert und sterben. Weder werden dort die Neuaufnahmen isoliert, noch haben bekanntlich die Mitarbeiter neben fehlender Schutzkleidung auf Grund ihrer Arbeitsbelastung die Möglichkeit, die Hygienevorschriften oder Abstandsempfehlungen stets einzuhalten. So ist die Anteilnahme der politisch Verantwortlichen geheuchelt und die Klagen von Rechtsanwälten gegen die Einrichtungen treffen wahrscheinlich die Falschen.
Doch nicht nur die Vergabe von Schutzkleidung führt zu einer Sortierung zwischen denen, deren Überleben als schutzwürdig gilt, und denjenigen, die als eine zu vernachlässigende Größe behandelt werden. Publikumswirksam wurde von Seiten der Politik angemahnt, dass die Kliniken medizinisch nicht unmittelbar notwendige Operationen unterlassen, statt dessen Intensivbetten und Beatmungsgeräte für die kommenden Epidemiepatienten freihalten bzw. freimachen sollten. Dies entspricht zwar in keiner Weise der üblichen Kalkulation der Kliniken, die eher auf ihre Kosten kommen, wenn ein Bett kurzfristig mit einer Fallpauschale über eine Knie-OP abrechenbar ist, statt durch einen unkalkulierbaren Epidemiefall blockiert zu sein. Aber ein finanzieller Ausgleich wurde zugesagt und so wurden denn auch Betten frei, indem Operationen abgesagt oder verschoben wurden.
Was eine medizinisch notwendige Operation ist, bleibt natürlich eine Definitionsfrage. Wie lange kann ein Krebspatient warten, bis er operiert wird? Sterben wird er nicht gleich, doch sein Tumor entwickelt sich weiter und richtet weiter Schäden an. Auch da greift bereits im Normalbetrieb ganz selbstverständlich die Einteilung und Priorisierung von Behandlungen, weil das Gesundheitswesen auf Wirtschaftlichkeit ausgerichtet worden ist. Wirtschaftlichkeit bedeutet nicht die Klärung der Frage, wie mit den besten Mitteln die Krankheit bekämpft werden kann, sondern setzt darauf, wie mit dem geringsten finanziellen Aufwand (der dann einen entsprechenden Ertrag liefert) sichergestellt wird, dass die Bevölkerung irgendwie, zumindest in überwiegender Zahl, zu existieren vermag.
Wegen der Versorgungsengpässe werden nun Stimmen laut, die eine nationale Produktion dieser medizinisch notwendigen Produkte anmahnen. Ganz so, als ob die Trigema-Firma bei der Planung ihrer Produktion anders rechnen würde als der Produzent in China - wo sich doch beide in gleicher Weise mit ihrer auf Gewinn angelegten Produktion am zahlungskräftigen Bedarf und nicht an einer möglichen Pandemie orientieren.
Gegen solche Kostenrechnungen müsste der Staat vorgehen. Wirtschaftlichkeit im Sinne eines kapitalistischen Betriebs verträgt sich eben nicht mit einer gesicherten Versorgung, und dort, wo der Staat die Notwendigkeit sieht, etwa die nationale Versorgung mit dem Basisprodukt Energie zu sichern, wird er planwirtschaftlich tätig, legt entsprechende Öl- und Gasvorräte an, verlässt sich jedenfalls nicht auf den selbsttätigen Mechanismus der Marktkräfte.
Die Einschränkung der Sozialkontakte zur Verhinderung der Verbreitung der Pandemie stellt immer auch eine Beschränkung des Geschäfts dar, auf das es in dieser Gesellschaft ankommt, denn Wirtschaftswachstum als unhintergehbares Staatsziel heißt, das die Vermehrung des Reichtums in Geld der Maßstab ist, an dem sich alles wirtschaftliche Tun bemisst. Und wenn das Wachstum leidet, dann leiden alle, weil alles von ihm abhängig gemacht ist. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass der Ruf nach Aufhebung der Einschränkungen des öffentlichen Lebens mit der - die- bzw. prognostizierten - Entwicklung der Wirtschaftskrise lauter wird.
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