Triage und Exit - die Diskussion um notwendige Tote

Seite 2: Exit

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Ob wir so etwas (wie die Triage) aushalten könnten, weiß ich noch nicht. Noch können wir hoffen, davon verschont zu bleiben.

Bundeskanzlerin Merkel

Die Unterbrechung der Sozialkontakte zur Einschränkung der Übertragungswege hat weite Teile der Wirtschaft lahmgelegt. Bemerkbar macht sich dabei, dass es in dieser Gesellschaft nicht einfach um die Versorgung der Bürger geht. Da wäre die Beschränkung der Wirtschaft auf die Basisversorgung mit Lebensmitteln, Energie und Medizin nicht weiter tragisch - eben eine Auszeit von so und so langer Dauer. Anders in einer Gesellschaft, in der es um die Vermehrung von Reichtum in Form von Geld geht. Da bedeutet die Begrenzung des Wirtschaftslebens gleich die Vernichtung von zahlreichen Existenzen und es macht sich im großen Stil Existenzunsicherheit breit.

Bis auf diejenigen, die von ihrem Vermögen leben können, müssen alle in dieser Gesellschaft etwas verkaufen, und sei es sich selbst, um an Geld zu kommen, damit sie zumindest ihr Überleben sichern. Und so bewirkt die Einschränkung der Sozialkontakte nicht nur, dass einige Angebote fehlen, dass etwa Prostituierte oder Pfarrer ihre Dienste nicht anbieten können, sondern Millionen Bürger werden um ihre Einkommensquelle gebracht. So wird bemerkbar, dass alle Lebensbereiche vom Geschäft und seinem Gelingen abhängig gemacht sind.

Bei der Forderung nach einer baldigen Exit-Strategie und der Hoffnung, von flächendeckender Triage "verschont zu bleiben" (Merkel), wird nicht die Abhängigkeit bemängelt, in der alle von der Vermehrung des Reichtums einiger weniger stehen, sondern die Gefährdung des Wirtschaftswachstums beschworen, von dem die Einzelnen sehr unterschiedlich profitieren.

Und so sehen sich nicht nur Wirtschaftsvertreter berufen, vor den Folgen der Einschränkungen des öffentlichen Lebens zu warnen, weil die Eingriffe größere Schäden anrichten würden als die Pandemie selbst. Dass die Aufhebung der Beschränkungen vermehrt Tote kosten würde, wird dabei nicht verheimlicht, vielmehr ins Verhältnis gesetzt zu den Folgen der Aufrechterhaltung der Kontaktsperre. Das Bild, das die Zuständigen von der hiesigen Gesellschaft zeichnen, um ihren Argumenten Nachdruck zu verleihen, ist allerdings alles andere als rosig. So warnen sie vor den Folgen zunehmender Armut, die sich aus der Einschränkung des Geschäfts ergibt, hat sich doch schon zu normalen Zeiten gezeigt, dass sich die in der Gesellschaft ständig vorhandene Armut in kürzeren Lebenszeiten und vermehrten Todesfällen niederschlägt.

Die stets hochgehaltene soziale Sicherung des Staates zeigt sich nun einmal mehr als sehr löchrig. Die Grundsicherung deckt den Bedarf der darauf angewiesenen Menschen nicht ab. Bei fehlendem kostenlosen Schulessen und Schließung von Tafeln erweist sich, dass die sozialstaatlichen Leistungen auch gar nicht auf die Abdeckung des täglichen Bedarfs ausgerichtet sind, sondern die private Wohlfahrt durch Tafeln, Kleiderkammern usw. längst mit einkalkuliert haben. So können die Vertreter eines Exits auf das zunehmende Elend verweisen, bei dem möglichst bald Abhilfe zu schaffen wäre.

Auch entdecken sie in dem sonst gepriesenen Hort des privaten Glücks, der Familie, eine einzige Gefahr für Leib und Leben von Frauen und Kindern. Weil Löhne und Gehälter in dieser Gesellschaft Kosten sind, die niedrig sein müssen, damit deutsche Unternehmen konkurrenzfähig sind, weiß man eben auch, dass sich massenhaft Menschen von diesem Einkommen nur kleine, unwirtliche oder trostlose Wohnungen leisten können, in denen es sich auf Dauer gemeinsam nicht aushalten lässt. So stellen schon lange Feiertagszeiten wie Ostern oder Weihnachten eine große Gefahr für den häuslichen Frieden dar.

Dass dort der Frust oft mit Alkohol ertränkt wird, gilt als eine Selbstverständlichkeit, und dass sich dieser Frust dann im Fall des Falles nicht gegen diejenigen richtet, die die allgemeinen Lebensverhältnisse bestimmen, sondern gegen die Partnerin oder die Kinder, ist offenbar ebenso üblich, bekannt und kein großartiger Skandal (solange kein ungewöhnlicher "Einzelfall" für Aufregung sorgt).

Weil das in normalen Zeiten alles stattfindet und auch der übliche Daseinskampf ständig Opfer an Menschenleben fordert, soll dies alles nicht gegen die Wiederherstellung des Alltags sprechen, sondern hundertprozentig dafür: Unter Inkaufnahme von weiteren Toten muss - nicht übereilt, aber unbedingt so früh wie möglich - die Wirtschaft wieder in Gang gebracht werden, die zwar nicht für eine ausreichende Versorgung für alle sorgt, aber von der dennoch alle abhängig sind. Vielleicht sollte man sich einmal überlegen, ob nicht ein Exit aus diesem Normalzustand angebracht wäre.

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