Trusted Flagger im DSA: Europas digitale Meinungspolizei?

Früherer EU-Digitalkommissar Thierry Breton bei einer Rede vor dem EU-Parlament

Früherer EU-Digitalkommissar Thierry Breton. Bild: Frederic Marvaux; Europäisches Parlament, © European Union 2024.

Meldestellen gegen Desinformation, Hass und Hetze wecken Sorgen vor Zensur. Wer kontrolliert die digitalen Wächter? Wie stark ist das EU-Recht?

Im Netz mehren sich die kritischen Stimmen zur Institution des "vertrauenswürdigen Hinweisgebers" (engl.: "Trusted Flagger"), die das Gesetz über Digitale Dienste der EU (Digital Services Act, DSA) vorschreibt.

Mit dem Inkrafttreten des DSA steht die Europäische Union an einem Scheideweg zwischen der erklärten Förderung einer "sicheren" Öffentlichkeit und der potenziellen Gefährdung der Meinungsfreiheit.

Die Ausgangslage

Der DSA, dessen Ziel sein soll, "ein sicheres, vorhersehbares und vertrauenswürdiges Online-Umfeld" zu schaffen, steht zunehmend im Mittelpunkt einer hitzigen Debatte über die Balance zwischen Regulierung und Zensur.

So kritisierte unter anderen der Feuilleton-Chef der Welt, Andreas Rosenfelder, die Bundesnetzagentur zuletzt scharf für ihre jüngste Benennung des ersten "Trusted Flaggers" – der Meldestelle "REspect!" der Stiftung zur Förderung der Jugend in Baden-Württemberg.

Rosenfelder sieht darin eine "nette (…) Zensurmaschine", der eine "gefährliche Definitionsmacht" über strafbare Inhalte zugestanden wird, die üblicherweise der deutschen Judikative vorbehalten sei.

Der Richter a.D. und – ehemalige – Träger des Bundesverdienstkreuzes Manfred Kölsch hatte im Zusammenhang mit dem DSA bereits am 18. Januar vor einer "Einpflanzung des betreuten Denkens" gewarnt.

Die Frage ist aber, ob jene Diskussion nicht ihr Ziel verfehlt: Denn der DSA repräsentiert EU-Recht. Nicht der Chef der Bundesnetzagentur Klaus Müller und seine zuletzt viel gescholtene Partei der Grünen sind für ihn verantwortlich, sondern die Europäische Kommission.

Und das verändert auch die Ausgangslage aller, die gegen den DSA rebellieren.

Meldestellen mit Macht

Der DSA trat am 16. November 2022 in Kraft. Die meisten Bestimmungen müssen ab dem 17. Februar 2024 angewendet werden. Für große Online-Plattformen und Suchmaschinen gelten sie jedoch bereits seit dem 25. August 2023. Für größte Diskussionen sorgte das bekanntlich zwischen X-Betreiber Elon Musk und dem nun (empört) ausgeschiedenen Digitalkommissar Thierry Breton.

Laut Gesetzestext verpflichtet der DSA Plattformen, unverzüglich gegen rechtswidrige Inhalte vorzugehen, indem sie diese entfernen oder sperren, sobald sie davon Kenntnis erlangen (Artikel 6).

Was als rechtswidrig gilt, bleibt allerdings weit gefasst: Es sind "alle Informationen, die nicht im Einklang mit dem Unionsrecht oder dem Recht eines Mitgliedstaats stehen" (Artikel 3).

Wie eingangs beschrieben, ist dabei die Rolle der "vertrauenswürdigen Hinweisgeber" besonders umstritten. Der Status des vertrauenswürdigen Hinweisgebers wird einer Organisation auf Antrag vom Koordinator für digitale Dienste des Mitgliedstaats zuerkannt, in dem die Organisation niedergelassen ist (Artikel 22). Das soll sicherstellen, dass die Anerkennung durch eine zuständige Behörde erfolgt, die die Einhaltung der oben genannten Kriterien überprüft.

Jene Organisationen sollen "unabhängig von jeglichen Anbietern von Online-Plattformen" und mit besonderer Sachkenntnis und Kompetenz ausgestattet sein (Artikel 22). Ein entscheidender Aspekt: Hinweise der Meldestellen müssen von Plattformen vorrangig bearbeitet werden (ebd.).

Fragliche Definition der "Objektivität"

Die Frage ist: Wer garantiert, dass diese Hinweisgeber tatsächlich neutral und sachlich agieren?

Kritiker wie Andreas Rosenfelder befürchten nicht nur, dass die ernannten Organisationen ihren Status missbrauchen könnten, um den Meinungskorridor empfindlich einzuschränken. Ihre besondere Autorität könnte außerdem zu einer Art vorauseilendem Gehorsam führen – und Plattformen dazu verleiten, Inhalte aus Angst vor Sanktionen übermäßig zu zensieren.

Diese Sorgen lassen sich nicht ohne weiteres ausräumen: Zwar führt Artikel 8 des DSA den Umstand, dass keine "allgemeine Verpflichtung zur Überwachung oder aktiven Nachforschung" bestehe, als präventive Maßnahme gegen umfassende Zensur an.

Einschränkung der Meinungsfreiheit?

Dennoch ist die Sorge groß, dass der sanktionsbewehrte Druck auf Plattformen, "sorgfältig, objektiv und verhältnismäßig" zu handeln (Artikel 14), in der Praxis zu einer übermäßigen Einschränkung der Meinungsfreiheit führen könnte. Auch, weil Plattformen in sozusagen vorauseilendem Gehorsam mehr regulieren könnten als notwendig.

Eine solche Einschränkung der Meinungsfreiheit stünde allerdings im Widerspruch zur Grundrechtecharta der Europäischen Union, die die Meinungsfreiheit schützt, wie auch Artikel 11 des DSA beteuert.

Besonders fraglich ist zudem, was unter "objektiv" zu verstehen ist, wenn die Desinformations-Definitionen des DSA an politische Interessenverbände gekoppelt sind, wie von Telepolis zuletzt in Bezug auf die "bedrohte" Bundestagswahl 2025 und die direkte Kooperation zwischen EU und Nato auf diesem Gebiet beschrieben.

Mit Transparenz gegen Missbrauch?

Nun sind im DSA – jedenfalls formal – aber auch "checks and balances" für die neuen Meldestellen vorgesehen. So müssen die "vertrauenswürdigen Hinweisgeber" regelmäßig Berichte veröffentlichen, die die Anzahl der von ihnen gemeldeten Inhalte, die Art dieser Inhalte und die Maßnahmen der Plattformen in Bezug auf diese Meldungen umfassen (Artikel 22).

Sollte ein vertrauenswürdiger Hinweisgeber eine erhebliche Anzahl unpräziser oder unzureichend begründeter Meldungen einreichen, kann sein Status laut DSA ausgesetzt oder widerrufen werden, heißt es in Artikel 22.

Eine von der EU-Kommission beauftragte Studie zur Analyse des Mechanismus der vertrauenswürdigen Hinweisgeber, die bis September 2024 hatte abgeschlossen werden sollen, könnte wichtige Erkenntnisse dazu liefern, wie die Meldestellen ihre Definitionsmacht einsetzen.

Widerspruch zwecklos?

Gesetzt den Fall – ungeachtet bereits in der Vergangenheit liegender, diskutabler Ereignisse, wie es sie speziell in der Corona-Krise zuhauf gab –, es käme zu einer willkürlichen oder politisch beeinflussten Inhaltsregulation in Übermaße – sprich: Zensur – wie könnte man sich von deutscher Seite aus überhaupt gegen die supranationale Rechtsprechung wehren?

Zwar können in Deutschland nationale Gerichte und das Bundesverfassungsgericht prüfen, ob der DSA mit den Grundrechten des deutschen Grundgesetzes ("eine Zensur findet nicht statt") im Einklang steht.

Allerdings muss dies im Rahmen des EU-Rechts erfolgen, insbesondere unter Berücksichtigung der Grundrechtecharta, was die Möglichkeiten für eine nationale Intervention begrenzt.

Das Bundesverfassungsgericht kann europarechtliche Handlungen nur dann beanstanden, wenn sie offensichtlich kompetenzwidrig sind oder die verfassungsrechtliche Identität Deutschlands verletzen (Vgl. Ultra-vires-Kontrolle und Identitätskontrolle).

Grundsätzlich hat die EU-Rechtsordnung Vorrang aber vor nationalem Recht. Das hieße, der DSA könnte nationales Recht möglicherweise brechen, sollte es zu Konflikten kommen.