Türkei: Aufbruch ins Mittelalter?!

Seite 3: "Alle Religionen sind extrem frauenfeindlich"

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Wie wird eigentlich der Anteil der Muslime an der hiesigen Gesamtbevölkerung ermittelt?

Lale Akgün: Pi mal Daumen. Soll heißen: allen hier lebenden Bürgerinnen und Bürger mit Wurzeln in muslimischen Ländern, oder solchen mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung, wird sozusagen von Staats wegen der Islam als Religion verordnet. Wir alle gelten als Musliminnen und Muslime, unabhängig davon, ob wir das auch so sehen. Auch Menschen christlichen oder jüdischen Glaubens, Angehörige anderer religiöser Minderheiten oder Atheistinnen.

Unter "Migrant" verstehen die meisten "die Muslime". Und dabei die besonders Frommen, um nicht zu sagen, die Orthodoxen. Auch diejenigen mit deutscher Staatsbürgerschaft, denn das ursprüngliche Herkunftsland wird vermerkt.

Also werden Sie nie so ganz deutsch?

Lale Akgün: Unsere Herkunft - oder die unserer Eltern oder inzwischen sogar schon Großeltern - wird uns sozusagen ein Leben lang nachgetragen. Wir sollen diese Gesellschaft bereichern. Aber so richtig dazugehören sollen wir nicht. Damit verscherzt sich die Politik eine junge Generation. "Deutsch" heißt im eigentlichen Sinne "dem Volke zugehörig". Es bezeichnet keine Ethnie. Und die junge Generation will "deutsch" sein, im Sinne von "zur Gesellschaft dazugehören".

Kann die Integration z.B. durch Staatsverträge mit den islamischen Verbänden gefördert werden?

Lale Akgün: Die islamischen Verbände werden sozusagen als die Standesvertretung der hier lebenden Musliminnen und Muslime betrachtet, und von der Politik entsprechend behandelt. Aber der Islam ist eine private Religion. Ich werde häufig zu Vorträgen in kirchliche Einrichtungen eingeladen.

Selbst da renne ich offene Türen ein, wenn ich fordere, dass Religionsunterricht an den Schulen als Bekenntnisunterricht zu einer bestimmten Konfession abgeschafft gehört. Alle Religionen haben den Anspruch, die einzig wahre zu sein, und den einzig wahren Weg zum Paradies zu weisen.

Und alle sind sie extrem frauenfeindlich.

Lale Akgün: Ja, und alle sind sie extrem frauenfeindlich. Das alles trägt nicht zum Zusammenhalt einer Gesellschaft bei. Religion taugt per se nicht für Integration, weil Religion Differenzen betont und auf Unterschieden baut. Religion ist immer absolut, immer spaltend. Die muslimischen Verbände und Moscheevereine sind keine Katalysatoren, die, wie erhofft, die Integration schneller voranbringen. Und die Integrationsprobleme dieser Gesellschaft werden sich mitnichten mithilfe von religiösen Verbänden lösen lassen.

Ich frage mich, ob die Politikerinnen und Politiker in unserem Land wissen, mit wem sie tanzen, wenn sie Ditib zu ihrer "offiziellen Gesprächspartnerin" erklären? Ist ihnen klar, dass dort die Fäden der Politik und der Religion zusammengeknüpft werden? Dass sie es mit dem politischen Islam zu tun haben? Ich persönlich bin gegen religiöse Minderheitenrechte. Ich wünsche mir eine säkulare Gesellschaft. Denn, wie gesagt, Religionen trennen mehr als dass sie verbinden.

Wie könnte Integration Ihrer Ansicht nach gelingen?

Lale Akgün: Integration funktioniert nur, wenn der Staat die Voraussetzungen schafft, dass sich alle Menschen als Individuen - ob gläubig oder nicht - einfügen können. Diese Voraussetzungen sind letztlich nichts anderes als Chancen auf unfassende gesellschaftliche Teilhabe, die den Menschen Familie, Bildung, Beruf und Auskommen bieten.

Lale Akgün wurde 1953 in Istanbul geboren, und kam 1962 nach Deutschland, wo sie 1972 Abitur machte, und anschließend Medizin und Psychologie studierte. 1987 promovierte sie im Fachbereich Psychologie. 1980 nahm sie die deutsche Staatsbürgerschaft an, 1982 trat sie in die SPD ein, von 2002 - 2009 war sie Abgeordnete im Deutschen Bundestag. Sie veröffentlichte die Bücher "Tante Semra im Leberkäseland", das später verfilmt wurde, "Der getürkte Reichstag", "Der Aufstand der Kopftuchmädchen" sowie "Kebab Weihnacht". Seit 2011 ist sie Gruppenleiterin für Internationale Angelegenheiten und Eine-Welt-Politik und seit 2013 Leiterin des Projekts faire und nachhaltige Beschaffung in der Staatskanzlei des Landes NRW.