Türkei: Aufbruch ins Mittelalter?!

Seite 2: Der Umbau der Türkei zur islamischen Republik

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Dabei ist die Gegenseite sowieso im Nachteil, denn viele Oppositionelle sind inhaftiert. Dürfen sie überhaupt mit abstimmen?

Lale Akgün: Ehrlich gesagt weiß ich das nicht so genau. Verurteilte Straftäter dürfen in jedem Fall während ihrer Haftzeit an Wahlen und vergleichbaren Handlungen, wie eben die Volksabstimmung, nicht teilnehmen.

Aber ich möchte kurz auf die Situation der inhaftierten Politikerinnen und Politiker eingehen. Die meisten von ihnen leben in den kurdischen Gebieten. Inhaftiert sind sie in Edirne. Das liegt an der bulgarischen Grenze. Es wurde also die größtmögliche Entfernung zwischen sie, ihre Familien und auch ihren Wirkungsbereich gebracht. Von Van bis Edirne sind es beispielsweise knapp 2.000 km. Das bedeutet den Verlust sozialer Kontakte, aber eben auch des politischen Einflusses.

Aber um auf die Frage nach den Chancen für das "Hayir", also das Nein zum Präsidialsystem, zurückzukommen: Trotz allem schätze ich die Chancen gar nicht so gering ein. Aber das wird nichts nützen. Denn - und das sage ich ganz offen - das Ergebnis wird so ausfallen, wie es Herrn Erdogan genehm ist. Fällt es nicht so aus, wird eben nachgeholfen.

Kanzlerin Merkel hat angekündigt, evtl. Beobachtungs-Delegationen in die Türkei zu entsenden, um den Zuständigen bei der Auszählung auf die Finger zu schauen.

Lale Akgün: Wie viele Beobachter will sie denn entsenden, um Manipulationen tatsächlich zu verhindern?

Ist mit der Einführung des Präsidialsystems Ihrer Ansicht nach der Umbau der Türkei zur islamischen Republik zu befürchten?

Lale Akgün: Ein ganz klares Ja.

Was würde das konkret bedeuten?

Lale Akgün: Ein Beispiel: Kürzlich wurde angekündigt, die Evolutions-Theorie aus dem staatlichen Curriculum zu streichen. Das heißt im Grunde genommen nichts anderes, als dass das Wissen über die Menschheitsgeschichte aus dem Bewusstsein der Bevölkerung ausgelöscht werden soll.

Der Bildungsstand wird zurück katapultiert ins Mittelalter

Die Geschichte beginnt dann als die Türken die Arktis entdeckt haben? Oder mit dem Erscheinen des neuen Messias, Recep Reis von Tayyipistan, im April 2017?

Lale Akgün: Oder als die Türken Amerika entdeckt haben und auf Kuba eine Moschee erbauten. Nein, ernsthaft, die Schulbücher werden umgeschrieben, die Bildungsinhalte zugeschnitten auf die religiöse, also islamische Geschichte.

In der Türkei wird das passieren, was wir aus der Geschichte kennen. Wenn der Islam Macht erhält, wird der Reichtum an Kunst und Kultur ausgelöscht. Im Machtbereich des Islams war ja sogar die Buchdruckkunst verboten. Der Bildungsstand wird zurück katapultiert ins Mittelalter. Dazu passt auch, dass die Anwesenheit in der Schule nach der 4. Klasse seit dem Schuljahr 2012/13 nicht mehr zwingend ist.

In den türkischen Haushalten läuft Tag und Nacht der Fernseher. Schon jetzt ist im Gegensatz zu türkischen Sendern RTL II noch niveauvoll. Aber selbst dieses "Niveau" wird in Zukunft noch unterboten, denn die TV-Kanäle werden zunehmend religiös ausgerichtet.

Das alles bleibt nicht ohne Konsequenzen.

Hinzu kommt, dass die geplante Veränderung auch ökonomische Auswirkungen haben wird. Ausländische Unternehmen werden sich aus der Türkei zurückziehen, weil die Situation zunehmend instabiler werden wird. Die Wirtschaft investiert auch in Diktaturen, aber nur, wenn sie sich dauerhaft Erfolg verspricht.

Konfliktlinien

Erdogans Machtanspruch wird ja nicht auf die Türkei begrenzt bleiben. Kann das auch zu Konflikten mit der muslimisch-arabischen Welt führen?

Lale Akgün: Zunächst einmal wird die Situation im Land schwieriger. Viele Stimmen sagen, dass die Türkei auf einen Bürgerkrieg zusteuert. Da gibt es drei verschiedene Konfliktlinien: zum einen die religiösen Fundamentalisten, die fromm sunnitischen Erdogan-Anhänger gegen die säkulare Gesellschaft, dann ein Kampf zwischen Türken und Kurden und schließlich ein Kampf zwischen Sunniten und Aleviten

Derzeit ist zu beobachten, dass sich junge Aleviten verstärkt bewaffnen. Sie sagen, "es reicht, wir werden uns nie wieder abschlachten lassen".

Jedes dieser Szenarien ist denkbar, und keines ist wünschenswert.

Ich las, die Diyanet-Imame hätten Zustimmung zum Präsidialsystem signalisiert. Was bedeutet das für Ditib, die ja an Diyanet gebunden ist?

Lale Akgün: Die Gewerkschaft der Diyanet-Imame, … Was es alles so gibt. Ich wusste überhaupt nicht, dass eine solche Gewerkschaft existiert. Jedenfalls hat sie ihre Mitglieder aufgefordert, mit "Ja" zu stimmen. Das gilt natürlich auch für die Ditib-Imame hier.

Die türkischen Islamverbände in Deutschland

Apropos Gewerkschaft, Ditib und die anderen Islamverbände werden von der Politik als eine Art Gewerkschaft der muslimischen Bevölkerung in diesem Land begriffen. Vertreten Ditib und die anderen Islamverbände die Interessen der muslimischen Bevölkerung in Deutschland?

Lale Akgün: Alle islamischen Verbände - bis auf den Zentralrat der Muslime - sind türkischen Ursprungs und haben das Mutterschiff in der Türkei. Das heißt: Im Grunde genommen sind die hiesigen Verbände reine Dependancen türkischer Organisationen. Hier in Deutschland wird nur ausgeführt, was in der Türkei beschlossen wird, wenn auch die hiesigen Verbände versuchen, sich als deutsche Vereine zu gerieren.

Ob Ditib, oder Millî Görüş , ob VIKZ (Verein der Islamischen Kulturzentren) oder die Gülen Bewegung, sie alle werden aus der Türkei gelenkt. Die Aktivitäten der islamischen Verbände waren zwar aus integrationspolitischer Sicht schon immer zweifelhaft, aber ihr Wirkungskreis war eher lokal. Bis zwei Ereignisse ihnen richtig Luft unter die Flügel bliesen.

Die deutsche Politik entdeckte die Islamverbände als Unterstützer für die Integrationspolitik und wertete sie auf; sei es durch die Islamkonferenz, sei es als Partner für den islamischen Bekenntnisunterricht.

Und die Politik in der Türkei änderte sich durch die Wahl der AKP. Für die AKP war und ist Religion, d.h. natürlich der Islam, von enormer Wichtigkeit. Das führte dazu, dass - auch durch die Interventionen der türkischen Regierung - die türkischen Islamverbände immer mehr politisiert wurden. Vor allem die Ditib wurde zu einem wichtigen Faktor in der türkischen Diasporapolitik. Sie ist die mächtigste der muslimischen Verbände in Deutschland.

Ditib vertritt aktiv die Interessen der AKP-Regierung. Sie machen die Logistik für deren Wahlkampf hier im Land. Sie organisierten die Busse zu den Pro-Erdogan-Demos, und sie werden auch aktiv Wahlkampf für den Volksentscheid im April machen.

Ditib ist eine Tochterorganisation der Diyanet, der staatlichen Religionsbehörde und Diyanet ist direkt dem Ministerpräsidenten unterstellt. Sie hat ein Budget, das sich sehen lassen kann. 2013 betrug es 4 Milliarden 640 Millionen Lira (knapp 2 Milliarden €) und war somit an 12. Stelle der Institutionen mit dem größten Anteil am Staatshaushalt.