Türkei: Bürgerrechte ade
Journalisten und Kritiker werden eingeschüchtert, AKP hofft auf Sieg bei den Parlamentswahlen
Recep Tayyip Erdogan hat es geschafft: Vom Sesamkringelverkäufer im Istanbuler Armenviertel Kasimpasa zum Istanbuler Bürgermeister zum Ministerpräsidenten und jetzt zum Staatspräsidenten. Doch er will mehr. Ein Präsidialsystem nach putinschem Vorbild strebt er an - nach den Parlamentswahlen am 7. Juni möchte er die Verfassung ändern. Aber selbst innerhalb der Regierungspartei AKP hält sich die Unterstützung hierfür in überschaubaren Grenzen. Ein letzter Hoffnungsschimmer für die Türkei?
Nach den Gezi-Protesten vom Sommer 2013 hatte es so ausgesehen, als könnte die Türkei eine neue Richtung einschlagen: alte Gräben zuschütten, für einen demokratischen Wandel einstehen, zivilgesellschaftliches Engagement in die Politik bringen. Mehrfach wirkte es, als seien Recep Tayyip Erdogans Tage an der Spitze des Landes gezählt. Doch es kam anders. Der Widerstand wurde mit massiver Polizeigewalt niedergeschlagen. Acht Menschen starben, rund zehntausend wurden verletzt, tausende verhaftet.
Auch der Korruptionsskandal, der wenige Monate später an die Öffentlichkeit kam und die Verwicklung höchster Kreise der Regierungspartei in krumme Immobilien- und Bankgeschäfte offenlegte, änderte nichts. Im Gegenteil. Er gab Erdogan Anlass, im Polizei- und Justizapparat aufzuräumen, mit den Ermittlungen befasste Richter und Polizisten abzusägen. Bis heute finden in der Causa Razzien und Verhaftungen statt, zugleich wird der Druck auf Kritiker der Regierung immer weiter erhöht.
Erdogan besteht darauf, dass sein Land eine Demokratie ist - immerhin seien er und seine Partei von einer Mehrheit der Bevölkerung gewählt. Nur spielen Dialog und Konsens in diesem Demokratieverständnis keine Rolle. Demokratie ist, was die Mehrheit diktiert. Während der Staatschef davon schwadroniert, sein Land habe "die freieste Presse der Welt", liegt die Türkei mit den weltweit meisten inhaftierten Journalisten auf den letzten Rängen des World Press Freedom Index. Allein während der Gezi-Proteste wurden demnach 153 Journalisten verletzt und 39 verhaftet. Zahlreiche weitere verloren aufgrund kritischer Berichterstattung ihren Job.
Der Trend setzt sich fort. Die in Diyarbakir lebende niederländische Journalistin Frederike Geerdink ist wegen Verbreitung von terroristischer Propaganda angeklagt - gefordert wird die Höchststrafe von fünf Jahren Haft. Geerdink hatte Fotos einer Demonstration, auf der PKK-Flaggen geschwenkt wurden, auf Facebook und Twitter gepostet. Mit anderen Worten: Sie hat ihren Job gemacht und ein Ereignis von öffentlichem Interesse dokumentiert.
Kritische Stimmen werden eingeschüchtert
Während Journalisten mit türkischem Pass regelmäßig Repressalien ausgesetzt sind, kam es in der Vergangenheit allenfalls vereinzelt zu Anklagen gegen ausländische Journalisten. Der renommierte Journalist Can Dündar, Chefredakteur der Tageszeitung Cumhuriyet, soll sogar für neun Jahre hinter Gitter. Grund: Er soll Präsident Erdogan beleidigt haben. Das ist kein Einzelfall: Fast wöchentlich werden Klagen wegen Beleidigung des Staatspräsidenten erhoben, derzeit laufen auch Verfahren gegen eine ehemalige Schönheitskönigin und gegen einen noch minderjährigen Schülersprecher.
Eine ähnliche Klage gab es Ende 2013 gegen den Schriftsteller Emrah Serbes. Serbes ist ein Star in der Türkei, seine Romane um den Polizisten "Behzat C.", in denen er das korrupte Polizeisystem vorführt, sind Bestseller und zogen mehrere Kinofilme sowie eine Fernsehserie nach sich. In seinem aktuellem Buch "Deliduman", das im Sommer auch auf Deutsch erscheint, befasst er sich mit den Gezi-Protesten. Verurteilt wurde er letztlich nicht, auch aufgrund internationaler Medienaufmerksamkeit.
Wer weniger prominent ist, hat in der Regel auch weniger Glück. Aber selbst wenn es in derartigen Fällen längst nicht immer zu Verurteilungen kommt, ist die Richtung klar: Mit Verhören, Hausdurchsuchungen und Anklagen soll Druck ausgeübt, kritische Stimmen sollen eingeschüchtert werden. Umgekehrt ist Erdogan da weniger zimperlich: Die Gezi-Demonstranten bezeichnete er als "Plünderer", Männer, die in Röcken gegen Gewalt gegen Frauen demonstrierten, nachdem mehrere Fälle von Vergewaltigung und Mord bekannt geworden waren, verglich er mit maskierten Terroristen.
Die deutsche Journalistin Sabine Küper-Büsch lebt und arbeitet in Istanbul und berichtet dort unter anderem über Kunstprojekte und Stadtentwicklung, macht aber auch Reportagen für öffentlich-rechtliche Formate in Deutschland, so zuletzt über die Jeziden im Nordirak oder die Verstrickungen von türkischem Staat und der Terrorgruppe Islamischer Staat (IS). Bei ausländischen Journalisten, so erzählt sie, seien die türkischen Behörden vorsichtiger, man wolle internationale Aufmerksamkeit vermeiden, verweist aber auch auf einen CNN-Korrespondenten, der 2014 am Taksim-Platz verhaftet und von einem Polizisten getreten wurde.
"Bei uns wurde, nachdem wir ein Interview mit einem Kollegen von Taraf gemacht hatten, der der Gülen-Bewegung nahesteht, eingebrochen." Die Bewegung des islamistischen Predigers Fetullah Gülen, der im US-Exil lebt, war einst mit Erdogan verbündet, inzwischen bekriegen sich beide Lager, Gülen und Erdogan gelten als Erzfeinde. "Unser gesamtes technisches Equipment wurde geklaut. Kameras, Computer, Smartphones. Das war ein Schwund von 60.000 Euro, freien Journalisten kann so etwas das Genick brechen. Ich kann nicht beweisen, wer den Einbruch verübt hat, aber ich weiß, wer es war." Auch türkische Kollegen, so Küper-Büsch weiter, würden eingeschüchtert, oft gingen die Behörden subtil vor um öffentliche Aufmerksamkeit zu vermeiden. "Wir hatten Angst - die Strategie ist also erfolgreich. Die AKP-Leute sitzen bei der Polizei, in der Stadtverwaltung, überall, und nutzen ihre Seilschaften. Erdogan hat sich im Sommer offen vor den türkischen Unternehmer-Verband gestellt und gesagt: entweder ihr haltet die Klappe und verdient mit, oder ihr zahlt drauf, das verspreche ich euch."
Auf dem Weg in einen Polizeistaat
Auch das Internet soll weiter zensiert werden. Schon in den letzten Jahren wurden Websites wie Twitter und YouTube in der Türkei blockiert, ein neues Gesetz ermöglicht es Angehörigen der Regierung, Websites mit missliebigem Content sperren zu lassen. Ein Richter muss die Sperrung binnen 48 Stunden bestätigen. Zuletzt drohte Erdogan Twitter und Facebook, Beobachter fürchten eine neue Welle der Zensur im Vorfeld der Parlamentswahlen.
Ein neues Sicherheitsgesetz, das die AKP Ende Februar gegen massiven Widerstand der Opposition durchs Parlament paukte, verwandelt die Türkei de facto in einen Polizeistaat, in dem Bürgerrechte keine große Rolle mehr spielen. Am 21. Februar demonstrierten Tausende in Istanbul gegen das Gesetz, auch in dem Wissen, dass solche großen Demonstrationen bald der Vergangenheit angehören könnten. Denn die neue Rechtslage gibt der Polizei einen Freibrief, jeden ohne Angabe von Gründen festnehmen und mindestens 48 Stunden lang festhalten zu können, und das ohne dass ein Richter eingeschaltet werden muss. Wie schon beim Internetgesetz muss eine richterliche Absegnung erst im Nachhinein erfolgen. Vermummung wird gänzlich verboten und bietet einen Grund zur Strafverfolgung - das ist besonders perfide angesichts der Tatsache, dass die Polizei in der Regel ohne Vorwarnung Tränengas in großen Mengen einsetzt und die Betroffenen sich dann aus Selbstschutz etwas vor das Gesicht halten müssen - sei es nun ein Schal oder eine Gasmaske. Auch unbeteiligte Passanten werden so kriminalisiert. Als Höchststrafe sind fünf Jahre angesetzt.
Darüber hinaus wird der Polizei der Gebrauch von Schusswaffen erleichtert - es läuft letztlich darauf hinaus, dass alles, wofür die Polizei während der Gezi-Proteste international kritisiert wurde, legalisiert wird. Human Rights Watch und Amnesty International schlagen daher Alarm: Sie befürchten eine Ausweitung der Gewalt gegen Kritiker der Regierung und weitere Einschränkungen bei Meinungsfreiheit und Bürgerrechten in der Türkei.
Dass die AKP als Sieger aus den letzten Wahlen hervorging, ist aber auch der Schwäche der Oppositionsparteien geschuldet. Die kemalistische CHP und die nationalistische MHP brüten seit Jahren konzept- und visionslos im eigenen Saft und definieren sich fast ausschließlich über die Abgrenzung zur AKP, ohne aber dem Wahlvolk programmatische Alternativen zur herrschenden Politik aufzeigen zu können. Daran versucht sich allein die kurdische HDP, deren Kandidat Selahettin Demirtas bei den Präsidentschaftswahlen knappe zehn Prozent der Stimmen einfuhr. Doch eine kurdische Partei ist für die Mehrheit der Türken nach wie vor nicht wählbar, ungeachtet ihrer Inhalte.
Allerdings scheint die Zustimmung zur AKP derzeit wieder zu bröckeln. Aktuellen Umfragen zufolge liegt sie bei nur noch 39% und würde damit bei den Parlamentswahlen die absolute Mehrheit verpassen. Die aber benötigt sie für die von Erdogan angestrebte Verfassungsänderung, die schon bei einem Anlauf im Vorjahr nicht durchs Parlament kam. Ein schlechtes Abschneiden am 7. Juni wäre für die AKP folglich eine herbe Niederlage und vor allem für Erdogan persönlich ein heftiger Rückschlag, der seine Haltung bereits verdeutlicht, indem er Parlamentssitzungen leitet, obwohl das für das Amt des Staatspräsidenten gar nicht vorgesehen ist.
Weiteres Ungemach im Präsidentenpalast droht durch den Whistleblower, der seit Monaten via Twitter unter dem Namen Fuat Avni für Furore sorgt, weil er regelmäßig intime Informationen aus Regierungskreisen mit der Öffentlichkeit teilt und so durch seine Vorankündigung schon Großrazzien in Medienhäusern verhindert oder verschoben hat. Erdogan forderte ihn unlängst auf: "Sei ein Mann! Warum versteckst du dich?" Und Fuat Avni antwortete prompt: "Ein Mann versteckt sich nicht hinter seiner Tochter. Zeig dich, wenn du ein Mann bist." Damit spielt er unter anderen auf die Ambitionen von Erdogans Tochter an, künftig in der Politik mitmischen zu wollen. Während die AKP das Gülen-Netzwerk für den Whistleblower verantwortlich macht, vermuten andere, er müsse aufgrund seiner Informationen im engsten AKP-Kreis sitzen. Wer weiß - vielleicht sogar in Erdogans Büro. Den Spekulationen hierzu sind derzeit kaum Grenzen gesetzt.