Türkei: Der letzte Tanz der Demokratie
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Die Hoffnungen der Opposition auf einen demokratischen Wandel sind zerschlagen. Ein Kommentar
"Die Demokratie ist nur ein Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind." Das sagte Recep Tayyip Erdogan vor rund zwanzig Jahren. Am gestrigen Abend ist er abgesprungen. Er hat sein Ziel erreicht. Die Verfassungsreform ist in Kraft, die Türkei ein Präsidialsystem, in dem Erdogan per Dekret und ohne nennenswerte Gegenwehr walten kann, wie es ihm beliebt. Das Land trägt damit alle Merkmale einer Diktatur.
Bei seiner Ansprache nach Verkündigung der Wahlergebnisse sagte Erdogan gestern: "Die Demokratie ist der Gewinner dieser Wahl." Daran stimmt freilich nichts. Aber dazu später.
Noch während die Auszählung lief, erklärte Erdogan sich zum Wahlsieger. Die Opposition protestierte, ebenfalls Gruppen unabhängiger Wahlbeobachter: Sie forderten, das Ende der Auszählung und das offizielle Ergebnis der Obersten Wahlkommission YSK abzuwarten. Sie verwiesen auf Unregelmäßigkeiten und Manipulationsversuche, die im Laufe des Wahltages vor allem im kurdisch geprägten Südosten des Landes dokumentiert wurden.
Spät in der Nacht kam dann die Bestätigung der Ergebnisse aus Ankara - zu dem Zeitpunkt wurde auch anhand der unabhängigen Zählungen klar, dass das Ergebnis korrekt ist. Die Abweichungen waren minimal. Das bedeutet: Es gab zwar de facto Manipulationen. Sie waren aber letztlich nicht ausschlaggebend für das Wahlergebnis. Das zumindest muss man zum jetzigen Zeitpunkt und anhand der Quellenlage annehmen.
Das heißt auch: Eine leichte Mehrheit der türkischen Bevölkerung hat, bei einer hohen Wahlbeteiligung von knapp 87 Prozent, Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan in seinem Amt bestätigt. Er holte 52,6 Prozent der Stimmen. Oppositionskandidat Muharrem Ince (CHP) kam dagegen nur auf 30,6 Prozent. Er räumte am Vormittag bei einer Pressekonferenz in Ankara seine Niederlage ein.
War es also eine freie demokratische Wahl, wie nun sowohl Erdogan als auch seine Anhänger behaupten? Nein, die Wahl war aus mehreren Gründen nicht frei, demokratisch und fair. Zum einen wurde sie im andauernden Ausnahmezustand durchgeführt. Während des nur wenige Wochen dauernden Wahlkampfes gab es massive Repressionen und Einschüchterungen gegenüber der Opposition sowie zahllose Angriffe auf und Festnahmen von Oppositionswahlkämpfern.
Der Präsidentschaftskandidat der linksliberalen HDP sitzt in Haft und konnte keinen wirklichen Wahlkampf führen. Die Medien sind weitgehend gleichgeschaltet, über 180 Journalisten sind in Haft. Die regierende AKP dominierte die Berichterstattung, während kritische und reflektierte Stimmen sowie die Positionen der Opposition medial nahezu keine Rolle spielten.
Mehr als hunderttausend Menschen, die der AKP kritisch gegenüberstehen, sind angeklagt, ein Großteil von ihnen in Haft. Auch in Deutschland trauten sich viele Oppositionelle aus Angst vor Repressionen nicht, in den türkischen Konsulaten ihre Stimme abzugeben. Es herrschte, wie es der Journalist Can Dündar formulierte, "eine Wolke aus Angst". Unter solchen Vorzeichen von einer freien und demokratischen Wahl zu sprechen ist absurd.
Das Ende demokratischer Strukturen für lange Zeit
"Die Demokratie ist der Gewinner dieser Wahl", sagte Erdogan. Richtig ist das Gegenteil. Dieses Wahlergebnis besiegelt das Ende demokratischer Strukturen in der Türkei - und das für wahrscheinlich sehr lange Zeit. Die letzten zwei Jahre seit dem gescheiterten Putschversuch nutzte Erdogan, um die Gewaltenteilung, die Presse- und Meinungsfreiheit abzuschaffen, also die Fundamente eines jeden demokratischen Rechtsstaates.
Er hat zehntausende Kritiker und Gegner inhaftieren lassen, Hunderttausende sind Verfolgung und Repressionen ausgesetzt, die über die Grenzen der Türkei hinaus reichen. Selbst vor der Entführung seiner Gegner aus dem Ausland schreckt er nicht zurück. Er hat hunderte Unternehmen enteignet und verstaatlicht, wobei sich Nutznießer der AKP die Taschen gefüllt haben wie zuvor schon er selbst in einem Korruptionsskandal, den er erstickte, indem er die Richter, Staatsanwälte und Ermittler austauschte. Er hat die Unabhängigkeit der Universitäten beendet und eigenmächtig neue Rektoren eingesetzt. Aktuell werden die Universitäten strukturell zerschlagen und auch die Lehrpläne - nach denen der Schulen - auf Linie gebracht. Das führt schon seit geraumer Zeit zu einem Exodus von Wissenschaftlern und Intellektuellen. Auf lange Sicht wird dieser Schritt der Türkei gesellschaftlich und wirtschaftlich wohl den größten Schaden zufügen.
"Die Gewinner der Wahl am 24. Juni", sagte Erdogan gestern weiter, "ist die türkische Nation, sind die Unterdrückten dieser Welt." Die inhaftierten und gefolterten Oppositionellen im eigenen Land klammert er freilich aus. Wer leidet, weil er Erdogan kritisiert, ist in seinen Augen eben nicht unterdrückt, sondern ein Terrorist, der seine gerechte Strafe erhält.
Eine zutiefst faschistische Sichtweise, die von der Mehrheit seiner Anhänger geteilt wird. Denn noch immer gilt in der Türkei für viele nicht der Täter als Verbrecher, sondern derjenige, der das Verbrechen als solches benennt. Für Erdogan ist das praktisch. Denn nach dieser Lesart wird er immer der Mann mit der weißen Weste sein, umzingelt von Verrätern und Feinden. Wie passend das doch ist, dass seine Partei bei ihm und seiner Gefolgschaft daher nie AKP, sondern stets AK Parti - Weiße Partei - genannt wird.