Türkei: Der letzte Tanz der Demokratie
Seite 2: Deutsche Erdogan-Fans
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Und was seine Anhänger betrifft: Kaum waren die Zahlen bekannt, zogen Erdogan-Fans auch in deutschen Städten hupend und feiernd durch die Straßen. Es dauerte nicht lange, bis wieder die üblichen türkenfeindlichen Reflexe aufkamen - die natürlich durchaus mit ein Grund dafür sind, dass Erdogan mit mehr als 65 Prozent ein überwältigendes Ergebnis bei den Wählern in Deutschland einfahren konnte.
Das soll nicht heißen, dass dieses Ergebnis kein Problem darstellt und man es verharmlosen sollte. Im Gegenteil. Wie Cem Özdemir (Grüne) zutreffend feststellte: "Die feiernden deutsch-türkischen Erdogan-Anhänger feiern nicht nur ihren Alleinherrscher, sondern drücken damit zugleich ihre Ablehnung unserer liberalen Demokratie aus. Wie die AfD eben. Muss uns beschäftigen." Wie nah sich AfD und AKP und ihre Anhänger sind, habe ich hier bereits vor einiger Zeit ausgeführt (AfD und AKP sind Brüder im Geiste). Es ist die grundsätzliche Ablehnung beziehungsweise das grundsätzliche Unverständnis für elementare demokratische und humanistische Werte, das sie eint, und das ist hier ebenso ein Problem wie in der Türkei.
Dennoch verbietet es sich, zu verallgemeinern und die in Deutschland lebenden Menschen mit türkischem Hintergrund als homogene Gruppe zu verklären. Das entspricht nicht ansatzweise der Realität. In Deutschland machen diese Menschen eine Gruppe von drei Millionen aus, unter ihnen auch Kurden, Aleviten, Armenier und solche mit türkisch-griechischen Wurzeln sowie viele, die in Deutschland geboren und sozialisiert wurden. Weniger als die Hälfte dieser drei Millionen ist durch den türkischen Pass in der Türkei wahlberechtigt. Und nur rund die Hälfte dieser Hälfte hat überhaupt gewählt.
Hinter den 65 Prozent, die für Erdogan gestimmt haben, verbergen sich konkret 455.000 Personen. Und das sind eben nicht "die Türken" in Deutschland. sondern eine Minderheit unter ihnen. Dass fast eine halbe Million Menschen in einer Demokratie leben, in ihrem Herkunftsland aber für einen Antidemokraten stimmen, ist bedenklich und muss offen debattiert werden. Es ist aber eben auch ein deutlich kleineres Problem als die rund sechs Millionen unintegrierbaren Biodeutschen, die bei der letzten Bundestagswahl rechtsradikal gewählt haben.
Genau dieses Augenmaß darf nicht außer Acht bleiben, wenn in den nächsten Tagen auflagengeile Medien und rechtspopulistische Politiker sowie ihre Fans unreflektiert ins antitürkische Horn blasen.
Erdogan kann jetzt auch ohne Ausnahmezustand durchregieren
Aber zurück zu Erdogans Wahlsieg. Gegen Ende seiner Rede versprach er, nun seine Wahlversprechen möglichst schnell umzusetzen, konkret: "Wachstum, Investitionen, Wohlstand." Ob ihm das gelingt, ist mehr als fraglich. Die Wirtschaft schwächelt, die Inflation galoppiert und Geld, das er investieren könnte, hat er faktisch nicht. Das Land ist hoch verschuldet. Investoren aus der EU haben dem Land zuletzt den Rücken gekehrt. Daher sucht er engere Bündnisse mit Russland, Iran und China. Ein Spiel, das auf lange Sicht auch die NATO-Mitgliedschaft der Türkei infrage stellen und zu neuen Verwerfungen auf dem internationalen Parkett führen dürfte.
Jeder der 81 Millionen türkischen Bürger, sagte Erdogan, sei ein Gewinner. Und auch Ince ermahnte ihn, der nun Staats- und Regierungschef zugleich ist und über ein entmachtetes Parlament hinwegregieren kann, genau das nicht zu vergessen. Doch das dürften leere Wünsche und Worte bleiben.
Knapp die Hälfte der Türken hat gestern klargestellt, dass sie nicht hinter Erdogan stehen. Und wie er mit abweichenden Meinungen und Lebenswelten umgeht, ist hinlänglich bekannt. Jener Teil der 81 Millionen, der nicht seine Linie vertritt, wird es in Zukunft noch schwerer haben als bisher. Es ist kaum zu erwarten, dass die Verfolgung von Andersdenkenden nun ein Ende findet. Eher dürften sich die zahlreichen, teils noch im Bau befindlichen neuen Gefängnisse rasch füllen. Sollte die HDP im Parlament zu aufmüpfig werden, könnte Erdogan die Partei einfach per Dekret verbieten. Er braucht nun keinen Ausnahmezustand mehr, um durchzuregieren.
Was vor einigen Wochen hoffnungsvoll begann und gestern zu einem ernüchternden Ende kam, war der letzte Tanz der türkischen Demokratie.