Türkei: Putschversuch als Neugründungs-Mythos
Seite 2: "Unser Land ist im Arsch"
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Jahre hatte ich in Istanbul verbracht, war seit 2010 immer wieder zwischen Deutschland und der Türkei hin und her geflogen, hatte zeitweise gar mit dem Gedanken gespielt, einfach am Bosporus zu bleiben. Doch je brenzliger es vor Ort wurde, desto mehr zögerte ich. Im Rückblick war das Zögern gut begründet.
In den Tagen nach dem Putschversuch war es kaum mehr möglich, Interviews zu führen. Zu groß war bei vielen die Angst vor Repressionen, wenn sie in deutschen Medien ihre Meinung sagen. Selbst am Telefon wurde manch einer vorsichtig, weil er angesichts der Verhaftungswellen, die auf den 15. Juli folgten, fürchten musste, selbst hinter Gittern zu landen. "Unser Land ist im Arsch", brachte es eine Kollegin aus Istanbul auf den Punkt. Ich konnte ihre Verzweiflung gut nachvollziehen.
Erdogan machte Fethullah Gülen und seine Bewegung für den Putschversuch verantwortlich und kündigte an, die Putschisten hart zu bestrafen, brachte gar die Wiedereinführung der Todesstrafe ins Spiel. Es ist selbstverständlich, dass ein Land, das so etwas erlebt, den Ausnahmezustand ausruft und die Verantwortlichen vor Gericht bringt. Aber darum ging es zu keinem Zeitpunkt. Noch in der Nacht zum 16. Juli wurden mehr als dreitausend Menschen festgenommen. In den darauf folgenden Wochen begann eine in der Geschichte der türkischen Republik beispiellose Verfolgung von Oppositionellen.
Zehntausende landeten im Gefängnis. Echte oder vermeintliche Gülen-Anhänger, Journalisten, Akademiker, Anwälte, Richter, Gewerkschafter, Studenten, Politiker, gewählte Abgeordnete und Bügermeister, Polizisten, Soldaten, Generäle, Unternehmer, Hausfrauen. Mehr als 130.000 Personen wurden aus dem Staatsdienst entlassen, ebenso mehr als die Hälfte der militärischen Führung. 149 Medienhäuser wurden geschlossen, rund 1000 Unternehmen wurden enteignet. Fast 200.000 Menschen dürfen das Land nicht mehr verlassen, ihre Pässe wurden eingezogen. Die Justiz wurde gesäubert, auch das Verfassungsgericht.
Die Gewaltenteilung, die nur noch auf dem Papier existierte, wurde mit der Verfassungsänderung vom April 2016 aufgehoben, das Parlament entmachtet. Es werden neue Gefängnisse mit einer Kapazität von mehr als 100.000 gebaut, während in den bestehenden Haftanstalten die Folter wieder Einzug gehalten hat. Menschenrechtsorganisationen beklagen schwere Misshandlungen und sexuelle Gewalt. Wie in den frühen Achtzigern verschwinden Menschen spurlos, und wer wieder auftaucht, wird gleich beerdigt.
Wer kann, der verlässt das Land. Viele Akademiker, Schriftsteller, Journalisten, Anwälte sind in Deutschland angekommen und versuchen hier, sich eine neue Existenz aufzubauen. Wann und ob sie je zurückkehren können, ist ungewiss. Erdogan hat angedroht, vielen von ihnen die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Aber nicht nur türkische Staatsbürger sind in der Türkei von Repressionen bedroht. Auch zahlreiche Menschen mit EU-Pässen sind in Haft, darunter die deutschen Journalisten Deniz Yücel und Mesale Tolu.
Als ich Deniz Yücel zuletzt über den Weg gelaufen bin, auf der Frankfurter Buchmesse 2016, hatte er auf der Weltempfang-Bühne ein Gespräch mit Can Dündar geführt. Dündar hatte von seiner Zeit in Einzelhaft im Gefängnis Silivri bei Istanbul berichtet. Dort sitzt Deniz Yücel nun selbst - seit mehr als vier Monaten. Seine Freunde in Deutschland setzen sich täglich für ihn ein, veranstalten Solidaritätsabende wie zuletzt Anfang Juli in Köln. Bei der Bundesregierung stößt das noch immer auf weitgehend taube Ohren. Was aus Berlin kommt, sind wenig überzeugende Lippenbekenntnisse.
Offene Fragen, ungewisse Zukunft
Ein Jahr nach der Putschnacht sind noch viele Fragen offen. Wer genau hat den Putschversuch organisiert, wie viele in der Armeespitze waren eingeweiht? Wenn es stimmt, dass der Geheimdienst MIT bereits Stunden vor Beginn der Aktion wusste, was sich zusammenbraut, wann erfuhr dann Erdogan davon, der noch immer behauptet, er sei erst am Abend informiert worden, als bereits die Panzer rollten?
Die Opposition wirft der Regierung einen "kontrollierten Putsch" vor: Die AKP habe gewusst, was ansteht, sagt die CHP, und ließ es passieren, um danach einen Grund zu haben, um ihre Gegner auszuschalten. Der parlamentarische Untersuchungsausschuss sei eine Farce - von Anfang an hatte die AKP die Kontrolle. Ersuche der CHP, Armeechef Hulusi Akar und Geheimdienstchef Hakan Fidan anzuhören, wurden abgewiesen, der Abschlussbericht nicht abgestimmt. Es scheint nur darum zu gehen, die Behauptungen der AKP zu stützen: Hinter dem Putschversuch steckt Fethullah Gülen, behauptet sie. Beweise dafür gibt es nicht. Anstatt die Ereignisse minutiös aufzuklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, bleibt Erdogan bei seinem Narrativ, wischt alle Zweifel vom Tisch und erklärt einfach jeden, der ihm wirklich oder vermeintlich im Weg steht, zum Gülen-Anhänger - so wie jetzt den Regisseur Ali Avci.
Die Türkei geht einer ungewissen Zukunft entgegen
Der Braindrain, der derzeit stattfindet, wird die türkische Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur wahrscheinlich um Jahrzehnte zurückwerfen. Erdogan führt sein Land in die Isolation, auch im Osten findet er kaum noch Verbündete. Er braucht die EU, kann aber innenpolitisch von seinem Konfrontationskurs nicht mehr abweichen ohne das Gesicht zu verlieren. Er pumpt Milliarden aus der Staatskasse in die Wirtschaft, weil er weiß, dass die Inflation und die Arbeitslosigkeit ihm bei der Wahl 2019 das Genick brechen können. Und diese Wahl braucht er noch, denn erst mit ihr tritt die im Referendum beschlossene Verfassungsänderung voll in Kraft. Verliert er diese Wahl, dann verliert er nicht nur seine Regierung, sondern dann ist auch davon auszugehen, dass er über kurz oder lang vor Gericht gestellt wird. Und der Korruptionsskandal dürfte dann sein kleinstes Problem sein.
Erdogan steht mit dem Rücken zur Wand, und er weiß das. Es wird offensichtlicher, je aggressiver und irrationaler er um sich schlägt. Genau in diesem Augenblick gelang es der Opposition vergangenen Sonntag in einem überparteilichen Bündnis, mehr als eine Million Menschen in Istanbul zu einer Demonstration für Gerechtigkeit zu versammeln. Es war an diesem Abend, an dem die Kollegin, die vor einem Jahr noch meinte, ihr Land sei "im Arsch", mir sagte: "Seit Gezi war ich nicht mehr so hoffnungsvoll. Er kann uns nicht alle einsperren, wir sind viele. Wir brauchen Geduld, aber heute hat sich etwas verändert." Ich kann ihre Euphorie nachempfinden. Und ich hoffe, dass sie Recht behält. Die Türkei ist ein großartiges Land. Sie hat etwas Besseres verdient, als den herrschenden Despotismus. Und sie hat das Potential dazu.