Türkei: Putschversuch als Neugründungs-Mythos

Istanbul: Panzer auf der Brücke über den Bosporus am 15. Juli. Screenshot aus dem YouTube-Video.

Ein Jahr nach der Putschnacht ist die Türkei ein anderes Land - viele Fragen sind weiterhin offen. Anstatt sie zu klären nutzt der Staat jedes Mittel, um oppositionelle Kräfte auszuschalten

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Die Bosporusbrücke bei Nacht. Soldaten, die sich Schießereien liefern. Ein Helikopter, der vor der Kulisse der Istanbuler Altstadt in Flammen aufgeht. Was wirkt wie ein ziemlich trashiger B-Actionfilm ist das neuste Werk des türkischen Regisseurs Ali Avci. Zuletzt war Avci als Produzent des propagandistisch-schmalzigen Erdogan-Biopics "Reis" in Erscheinung getreten, das pünktlich zum Verfassungsreferendum auch in deutschen Kinos lief - und ein heißer Anwärter auf die Goldene Himbeere sein dürfte.

Doch mit seinem Putsch-Streifen "Uyanış" ("Erwachen") ist Avci nun offenbar in Ungnade gefallen. Am Donnerstag wurde er in Istanbul festgenommen. Man wirft ihm Gülen-Nähe und Beteiligung am Putschversuch vor. So absurd das alles klingt: Es ist lediglich ein weiteres Kapitel der "Neuen Türkei", in der es kaum noch eine Rolle spielt, ob jemand nun wirklich ein Gegner der AKP ist oder den Launen des Staatspräsidenten aus anderen Gründen missfällt.

In diesem Fall dürften es die allzu großen künstlerischen Freiheiten sein, die Avci sich genommen hat: Im Trailer wird erst Erdogans Familie von Kugeln durchsiebt - und dann hat der Staatschef selbst eine Pistole am Kopf. Beim Gebet. Solch eine Darstellung kann er nicht gebrauchen. Erst recht nicht jetzt, wo er den Putschversuch zum Gründungsmythos seiner "Neuen Türkei" umdeuten will. Denn der fehlte ihm bislang.

Atatürk hat 1923 die türkische Republik auf den Trümmern des Osmanischen Reiches errichtet. Dergleichen hatte Erdogan nicht vorzuweisen. Bis ihm die Putschisten am 15. Juli 2016 ein "Geschenk Gottes" lieferten. So nannte er die Nacht, in der rund 250 Menschen starben und mehr als 2000 verletzt wurden, in einer Pressekonferenz, als die Soldaten noch auf den Straßen versuchten, die Stellung zu halten.

"Jetzt weiß ich, wie ein Bombeneinschlag klingt"

Es gibt Ereignisse, an die man sich sein Leben lang genau erinnern wird. Sicher weiß jeder noch, wo er am 11. September 2001 war oder wie er vom Reaktorunglück in Tschernobyl erfahren hat. Es sind einschneidende Momente, auch wenn man selbst nicht vor Ort ist. Am späten Abend des 15. Juli saß ich am Schreibtisch und erledigte ein paar organisatorische Dinge, die liegengeblieben waren: beantwortete Mails, machte Überweisungen, sortierte Material für ein Interview, das am nächsten Tag anstand (und dann verschoben werden sollte, als die Ereignisse sich überschlugen).

Mein Handy brummte, SMS von einem Kollegen: "Was ist denn jetzt wieder in der Türkei los?" Da ich nicht wusste, was er meinte, checkte ich Twitter und Facebook und rechnete mit einem weiteren Terroranschlag. Es hatte viele gegeben in den letzten Monaten, Hunderte waren umgekommen. Aber es war ein anderes Bild, das sich bot: Soldaten und Panzer auf den Straßen Istanbuls, Kampfflugzeuge über Ankara. Bosporusbrücke gesperrt, Flughafen besetzt. Ein Putsch.

Ich griff sofort zum Telefon und rief einen Freund in Istanbul an, der sichtlich nervös klang. Alles ok, sagte er, er sei zu Hause, das Militär habe die Bürger aufgerufen, die Häuser nicht zu verlassen. Er war fassungslos. Ich auch. Nur wenige Wochen zuvor hatte mich bei einer Lesung in Frankfurt jemand aus dem Publikum gefragt, ob ich einen Putsch gegen Erdogan für möglich halte. Ich hatte verneint. Und mit der Überzeugung, dass das Militär weit genug entmachtet und unter Kontrolle der AKP war, um solch einen Aufstand auszuschließen, war ich zu der Zeit keineswegs allein. Am Ende hatten sich alle geirrt.

Dreimal in der Geschichte der Republik hatte es Militärputsche gegeben, zuletzt 1980, und unter dem folgenden Militärregime gab es Massenverhaftungen, Folter und Willkür. Die Hüter des Kemalismus waren brutale Despoten. 1997 verhinderte die Regierung einen vierten Putsch, indem sie einer deutlichen Drohung aus der Armeespitze nachgab.

Wenige Jahre später gründete sich die AKP und trat einen Siegeszug an. Die Partei ging auf Reformkurs, schaffte die Todesstrafe ab, trieb die Wirtschaft voran, eröffnete Beitrittsgespräche mit der EU und gewann eine Wahl nach der anderen. In den Ergenekon-Prozessen führte sie gemeinsam mit der Gülen-Bewegung, der sie auf allen Ebenen des Staates zu Posten und Einfluss verholfen hatte, einen Kampf gegen die alte kemalistische Elite und entmachtete sie weitestgehend - unter Verwendung undemokratischer Mittel.

Schon hier wurde klar, dass der Rechtsstaat ein lästiges Übel für Erdogan und seine Clique ist. Trotzdem erhielten sie weiter Zuspruch von jenen, die sie aus der Marginalisierung befreiten: den Religiösen, der anatolischen Landbevölkerung, den verarmten Schichten, deren Situation sich deutlich verbesserte. Für sie bedeutete die AKP tatsächlich ihrem Namen entsprechend "Gerechtigkeit und Fortschritt".

Endgültig kippte die Lage, als Erdogan im Sommer 2013 die Gezi-Proteste, die sich zu einem landesweiten Aufstand gegen seine Regierung ausweiteten, blutig niederschlagen ließ. Wenige Monate später wurde ein Korruptionsskandal publik, in den AKP-Politiker und Familienmitglieder Erdogans verstrickt waren. Er erstickte die Ermittlungen, indem er Ermittler und Staatsanwälte festnehmen ließ. Da er dahinter die Gülen-Bewegung vermutete, begann er, die Anhänger des im US-Exil lebenden Predigers verfolgen zu lassen. Zugleich etablierte er einen nervösen Polizeistaat, der öffentlichen Protest unterdrückte, und zerrte regelmäßig Regierungskritiker vor Gericht. Die AKP zeigte sich zunehmend repressiv - aber es war kaum abzusehen, wie sehr die Lage noch eskalieren sollte.

Im Sommer 2015 erlebte die AKP ihre erste Wahlniederlage, als die prokurdische HDP ins Parlament einzog und Erdogan um seine Mehrheit brachte. Er blockierte die Koalitionsverhandlungen und erzwang Neuwahlen, zugleich kündigte er die Friedensgespräche mit der PKK auf, die ihm weltweit Achtung eingebracht hatten, und ließ wenig später im Südosten der Türkei ganze Städte bombardieren, türkische Soldaten verübten in Cizre Massaker an der Zivilbevölkerung. In Ankara verkündete Erdogan, er werde sich nach den Neuwahlen die Presse vorknöpfen. Zuerst geriet die Cumhuriyet ins Visier. Chefredakteur Can Dündar wurde verhaftet, zusammen mit dem Leiter der Hauptstadtredaktion, Erdem Gül. Dann wurde die Gülen-nahe Tageszeitung Zaman, einst auflagenstärkstes Blatt des Landes, geschlossen und enteignet.

Als der Militärputsch begann war das Land längst in einem bedenklichen Zustand. Aber es war kaum auszumalen, was passieren würde, sollten die Generäle Erfolg haben. Es wurde eine lange Nacht. Ich hing stundenlang am Telefon und tippte Messages, vergewisserte mich, dass Freunde und Kollegen vor Ort in Sicherheit waren, versuchte, mir einen Überblick über die Situation zu verschaffen. Ich sprach mit einem Freund, der nahe des Taksim-Platzes wohnt und hörte im Hintergrund Schüsse. Ein anderer sagte verstört: "Jetzt weiß ich, wie ein Bombeneinschlag klingt."