Türkei: Schauprozess gegen die HDP

Staatsanwaltschaft wertet einen Aufruf zu Massenprotesten gegen die Dschihadistenmiliz "Islamischer Staat" als Aufforderung zur Gewalt

Gegen 108 Personen begann am Montag in Ankara ein Gerichtsprozess wegen der "Zerstörung der Einheit des Staates und Integrität des Landes". Die Mehrheit der Angeklagten sind Politiker und Politikerinnen der oppositionellen HDP. Die Opposition wirft der Justiz vor, einen Schauprozess zu führen, der die HDP schwächen und deren Wähler einschüchtern soll.

In der Anklageschrift geht es vor allem um die Proteste gegen die Eroberung von der nordsyrischen Stadt Kobane an der Grenze zur Türkei durch den sogenannte Islamischen Staat (IS), bei dem 37 Menschen ums Leben kamen.

2014: Der IS überfällt Kobane

2014 überfällt der IS die Stadt Kobane. Die überwiegend kurdische Bevölkerung und die Selbstverteidigungseinheiten der Demokratischen Föderation von Nord- und Ostsyrien, leisten erbitterten Widerstand: Die kurdische Bevölkerung auf der türkischen Seite musste fassungslos zusehen, wie die Stadt ihrer Verwandten in Schutt und Asche versank.

Auf der türkischen Seite der Grenze ist die Stadt Suruc nicht weit entfernt. Viele Familien dort haben Verwandte in Kobane. Denn die Grenze zwischen der Türkei und Syrien wurde durch das Sykes-Picot-Abkommen 1916 quer durch die Familien gezogen. Wir kennen das mit dem Mauerbau in den 1960er Jahren zwischen der BRD und DDR. In Suruc, wie auch in der gesamten Türkei gab es Proteste und Demonstrationen gegen die Weigerung der türkischen Regierung, der Bevölkerung Kobanes zu Hilfe zu kommen.

Der Grenzübergang in Kobane war ein wichtiger Grenzübergang für den IS für den Nachschub von Kämpfern und Waffen. Die türkische Regierung unterstützte damals den IS logistisch und ließ dessen Kämpfer über die Grenze passieren, während dort Militärs verhinderten, dass Freiwillige aus der Türkei zur Unterstützung der SDF nach Kobane gelangen konnten. Die offensichtliche Unterstützung des IS durch die türkische Regierung brachte viele Menschen in der Türkei auf die Straße.

Bei den Protesten starben 37 Menschen in Auseinandersetzungen mit der Polizei einerseits und den Milizen der kurdisch-islamistischen Hüda-Partei, die mit dem IS sympathisierten, andererseits.

Die Anklage

Die Staatsanwaltschaft wirft den 108 Politikern vor, die Proteste organisiert und damit den Tod dieser 37 Menschen verschuldet zu haben. Angeklagt ist der gesamte HDP-Vorstand von 2014, darunter auch die damaligen Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag, die seit 2016 inhaftiert sind.

Demirtas wird vorgeworfen, über den Kurznachrichtendienst Twitter einen Aufruf zu Massenprotesten gegen die Dschihadistenmiliz "Islamischer Staat" (IS) verbreitet zu haben, den die Generalstaatsanwaltschaft als Aufforderung zur Gewalt wertet.

Dabei war die Türkei als Nato-Mitglied vordergründig Teil der internationalen Anti-IS-Allianz. Im Hintergrund lieferte sie dem IS die Koordinaten der Luftüberwachung über die Stellungen der SDF (Syrian Democratic Forces).

Der Journalist Thomas Seibert bezweifelt, dass es in dem Prozess um diese konkreten Vorwürfe geht, die türkische Justiz habe in den letzten sieben Jahren nichts gefunden, was man den Angeklagten konkret vorwerfen könnte. Für Seibert geht es darum, die Partei HDP unter Druck zu setzen und die Opposition zu spalten.

Denn Erdogan verliert an Rückhalt bei den Wählern und hat, wie 2014, keine Mehrheit mehr, gäbe es heute Wahlen. Von daher versuche die türkische Regierung durch das laufende Verbotsverfahren gegen die HDP und diesen Prozess bei den Wählern den Eindruck entstehen zu lassen, die HDP sei der politische Arm der Arbeiterpartei Kurdistans, PKK.

Der ewige Sündenbock PKK

Dieses Totschlagargument funktioniert in der Türkei wie auch in Deutschland leider immer noch, um legitime Forderungen wie die Anerkennung als größte ethnische Minderheit, ihrer Sprache und Kultur zu kriminalisieren. Die HDP hat immer wieder darauf hingewiesen, dass es, wie in vielen Parteien und auch Befreiungsbewegungen so auch in der Arbeiterpartei Kurdistans ideologische und programmatische Veränderungen gegeben hat.

Dazu gehört zum Beispiel die Abkehr von einem nationalistisch-stalinistischen Kurs hin zum "Demokratischen Konföderalismus" und der Abkehr von der Forderung eines eigenen Kurdenstaates. 2015 rief der inhaftierte Vorsitzende Abdullah Öcalan die PKK zum Gewaltverzicht auf, an den sich die PKK international auch hielt.

Auch wenn 2015, also 1 Jahr nach dem erfolgreichen Kampf um Kobane gegen den IS, vordergründig der damalige türkische Premier Ahmet Davutoglu von einer neuen Phase im Friedensprozess sprach und Präsident Recep Tayyip Erdogan von einer "sehr, sehr wichtigen" Entwicklung, lief die Unterstützung des IS auf Hochtouren.

In der Türkei wurden in Trainingscamps IS-Kämpfer ausgebildet, die Türkei war das Schleuserland für IS-Kämpfer aus aller Welt. In türkischen Krankenhäusern nahe der syrischen Grenze wurden Abteilungen für verletzte IS-Terroristen bereitgestellt. Spätestens da müsste den Türkei-Experten und Analysten das Doppelspiel der Türkei bewusst geworden sein.

Der Schauprozess

Der Prozess scheint auch deshalb ein Schauprozess zu sein, weil das türkische Verfassungsgericht am 31. März aus formalen Gründen einen Antrag auf das Verbot der prokurdischen Oppositionspartei HDP zurückgewiesen hatte. Die Anklagepunkte dieses Prozesses sind auch im Verbotsverfahren gegen die HDP von Bedeutung.

Auch der Start zum Schauprozess war schon äußerst fragwürdig, denn den Verteidigern wurde der Zutritt zum Sitzungssaal verweigert, da angeblich ihre Plätze von Nebenklägern besetzt waren.

Unter den rund 2.500 Nebenklägern befinden sich mehrere Ministerien, die Polizei und der Geheimdienst, die Regierungsparteien AKP und MHP sowie die oppositionelle CHP und die Hüda-Partei.

Junge Welt

Ein Prozess ohne Anwesenheit der Verteidiger? Führende Angeklagte wie der ehemalige HDP-Vorsitzende, eine der Schlüsselpersonen, durften nur per Video aus dem Gefängnis teilnehmen. Mit Rechtsstaatlichkeit hat das nichts zu tun.

Die Anklageschrift umfasst 3520 Seiten, für 38 Angeklagte, darunter der ehemalige Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas. Für Demirtas fordert die Staatsanwaltschaft allen Ernstes 15.000 Jahre Haft unter erschwerten Bedingungen. In der Anklageschrift wird er des 37-fachen Mordes und des 29-fachen Mordversuchs angeklagt, obwohl er keinen einzigen Menschen ermordet hat.

Er soll in 761 Fällen Körperverletzung gegen Sicherheitskräfte und Bürger begangen haben, 3.777-fache Sachbeschädigung, 395 Diebstähle und 15 Plünderungen, und 13 Mal die türkische Fahne verbrannt haben. Mal abgesehen davon, dass Demirtas für meist nicht belegte Vergehen bei Protesten verantwortlich gemacht wird: Wie oft müsste dieser Politiker wiedergeboren werden, um diese Strafe abzusitzen?

Die Reaktion der Bundesregierung ist entlarvend: Die Tagesschau zitierte die Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik, Bärbel Kofler, die den Prozess kritisierte.

"Demirtas dürfe nicht weiter mit fragwürdigen Anklagen verfolgt werden, sondern müsse im Einklang mit dem Urteil des EGMR freigelassen werden. Sie werde das weitere Verfahren genau beobachten und erwarte, dass rechtsstaatliche Standards eingehalten werden."

Doch was hat die Aussage einer Beauftragten der Bundesregierung für ein Gewicht?

Warum äußert sich nicht der Sprecher der Bundesregierung, Steffen Seibert dazu, wo er doch so deutliche Worte zum ersten Gerichtstermin gegen den russischen Oppositionellen Nawalny und seiner Stiftung formulierte: "Mit Mitteln der Terrorbekämpfung gegen politische Meinungen vorzugehen, das ist mit rechtsstaatlichen Mitteln in keiner Weise vereinbar."