Türkei: Taktische Freisprüche, willkürliche Anklagen
Prozesse gegen türkische Oppositionelle enden überraschend mit Freisprüchen - die später wieder kassiert werden. Willkürjustiz als Machtinstrument. Ein Kommentar
Gut drei Jahre zog sich der Prozess gegen die inzwischen in Deutschland lebende türkische Schriftstellerin Asli Erdogan hin. Von August bis September 2016 war sie in Haft und gehörte damit zu den ersten Opfern der bis heute anhaltenden Verfolgung von Oppositionellen in der Türkei nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016.
Kurz nach ihrer Freilassung, die damals überraschend kam, erhielt sie in Frankfurt für zwei Jahre ein Stipendium der Städte der Zuflucht, einem Programm, das weltweit verfolgte Autorinnen und Autoren unterstützt.
Ähnlich überraschend war der Freispruch in der vergangenen Woche. Noch kurz zuvor hatte die Staatsanwaltschaft neun Jahre Haft wegen Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gefordert. Es war ein Schauprozess, so wie jeder der zahllosen Prozesse gegen Oppositionelle.
Beweise ...
In der Beweisakte: Artikel, die Asli Erdogan über die Massaker der türkischen Armee in Cizre geschrieben hatte; ein weiterer Vorwurf: Ihre symbolische Übernahme der Redaktionsleitung der heute längst verbotenen kurdischen Tageszeitung Özgür Gündem. Sie war damals nur eine von vielen, die sich mit der unter Druck geratenen Redaktion solidarisch gezeigt hatten.
Doch Solidarität ist im Staat von Recep Tayyip Erdogan gefährlich. Bis heute vergeht kaum eine Woche, in der nicht Hunderte neue Haftbefehle ausgestellt werden - gegen Menschen, die vermeintlich der Gülen-Bewegung oder der PKK angehören; gegen kritisch berichtende Journalisten; gegen Menschen, die Kritisches auf Twitter oder Facebook posten; gegen Menschen, die Aufrufe gegen den Krieg in Syrien unterzeichnen. Und so weiter.
Frei?...
Für Asli Erdogan war und ist der Druck enorm - auch nach dem Freispruch. Auch in Deutschland wird sie von Erdogan-Anhängern regelmäßig angefeindet und bedroht, Veranstaltungen mit ihr standen schon mehrfach unter Polizeischutz; der heute in Berlin lebende Journalist Can Dündar kennt diese Verhältnisse: er geht ohne Personenschützer schon lange nicht mehr in die Öffentlichkeit.
Dass es vielen gelungen ist, aus der Türkei zu flüchten, heißt keineswegs, dass sie frei sind. Und solange Anklagen bestehen, können sie nicht frei reisen, weil unklar ist, welche Länder an die Türkei ausliefern. Vor allem aus osteuropäischen Ländern ließ Erdogan mehrfach Menschen entführen und in die Türkei bringen.
62 Deutsche in türkischer Haft
Dass der deutsch-türkische Schriftsteller Dogan Akhanli frei ist und nicht nach seiner Festnahme in Granada vor zwei Jahren an die Türkei ausgeliefert wurde, ist in erster Linie dem engagierten Einsatz des damaligen Außenministers Sigmar Gabriel sowie massivem medialen Druck zu verdanken.
Andere hatten weniger Glück - wohl auch, weil sie weniger prominent sind und sich das öffentliche Interesse in Grenzen hält. Das beste Beispiel dafür sind die insgesamt 62 Deutschen, die sich noch in türkischer Haft befinden, und nochmal so viele dürfen das Land nicht verlassen.
Ähnlich aufsehenerregend war der Gezi-Prozess. Insgesamt sechzehn Angeklagten wurde vorgeworfen, im Sommer 2013 den Gezi-Aufstand organisiert zu haben, den Erdogans Regierung als Putschversuch wertet, weil im Zuge der Proteste, an denen mehrere Millionen Menschen teilnahmen, auch deren Rücktritt gefordert wurde.
Der Fall Kavala
Fünfzehn der Angeklagten waren bereits wieder auf freiem Fuß, sechs von ihnen war es gelungen, die Türkei zu verlassen. Nur der Kulturmäzen Osman Kavala war noch in Haft. Seit zweieinhalb Jahren sitzt er in der Haftanstalt Silivri bei Istanbul, einem Hochsicherheitsgefängnis, in dem sich überwiegend politische Häftlinge befinden.
Ähnlich wie beim Prozess gegen Asli Erdogan forderten die Ankläger auch hier erst vor kaum zwei Wochen aberwitzige Haftstrafen. Kavala sollte demnach lebenslänglich in Haft bleiben. Und dann an Dienstagmittag die Überraschung: Freispruch für alle Angeklagten. Es gäbe keine Beweise für deren Schuld, so der Richter.
Die Freude war ebenso groß wie die Erleichterung, umgehend machten sich rund hundert Unterstützer Kavalas auf den Weg nach Silivri. Doch am frühen Abend wiederholte sich dann, was bereits aus vielen politischen Prozessen bekannt ist: Es erging ein erneuter Haftbefehl gegen Kavala - diesmal wegen Beteiligung am Putschversuch von Juli 2016. Er bleibt in Haft.
Erneute Festnahme
In zahlreichen anderen Fällen wurden Menschen nur Stunden oder gar Minuten nach ihrer Freilassung wieder festgenommen. Aufsehen erregte Ende 2019 der Fall des Schriftstellers Ahmet Altan, der nach Jahren in Silivri erst freigelassen und dann eine knappe Woche später in seiner Istanbuler Wohnung am späten Abend erneut von der Polizei abgeholt wurde. Auch sein Prozess wird künstlich in die Länge gezogen.
Der Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner bezeichnet das als "psychologische Folter". Asli Erdogan erzählte von Mitgefangenen, die unter dem Effekt dieses Vorgehens psychisch zerbrochen seien. Der türkische Staat wendet dieses Mittel offensichtlich zielgerichtet an, um genau diesen Effekt zu erreichen und jene Oppositionellen, die noch frei sind, einzuschüchtern.
Sämtliche Angeklagten in diesen Prozessen haben eines gemein: Sie haben gegen kein Gesetz verstoßen. Weder sind sie Terroristen noch haben sie Terrorpropaganda betrieben. Und so gleichen sich auch die Anklageschriften und Beweisführungen jedes Mal.
Sie enthalten konstruierte, oft haarsträubende Vorwürfe (wie zum Beispiel den, dass jemand gleichzeitig Mitglied der PKK, des IS und der Gülen-Bewegung sein soll - drei Organisationen, die nicht in Verdacht stehen, auch nur die geringsten Sympathien füreinander zu hegen) und im Fall von Journalisten und Schriftstellern Auszüge aus deren Texten. Can Dündar bezeichnete die Anklageschrift gegen ihn als "unautorisierte Sammlung meiner Artikel".
Was will Erdogan?
Die große Frage, die nun im Raum steht: Was bezweckt Erdogan mit dem aktuellen Vorgehen? Die ersten Kommentatoren der Freisprüche von Asli Erdogan und Osman Kavala sahen darin ein Signal dafür, dass es in der Türkei doch noch einen kleinen Rest rechtsstaatlicher Unabhängigkeit gibt, wenn Richter feststellen, dass die Anklage keinerlei Beweise vorgelegt hat und daher Freisprüche erfolgen müssen.
Doch das wird einerseits mit dem erneuten Haftbefehl gegen Kavala ad absurdum geführt. Andererseits müssten nach dieser Logik auch Ahmet Altan, die ehemaligen HDP-Chefs Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag, die noch inhaftierten 117 Journalisten sowie die Zehntausenden weiteren politischen Häftlinge umgehend freigelassen werden, wie es Menschenrechtsorganisationen seit Jahren fordern. Doch damit ist nach wie vor nicht zu rechnen.
Eine andere Theorie lautet: Da es zwischen Ankara und Moskau kriselt, will Erdogan sich wieder den Europäern zuwenden, und dafür muss er ihnen entgegenkommen. Dieses Spiel gab es schon mehrfach, zuletzt bei der Freilassung des Journalisten Deniz Yücel (für den die Staatsanwaltschaft zur Zeit sechzehn Jahre Haft fordert).
Doch auch das ist zweifelhaft. Zum einen, weil der Umgang mit Kavala hier ebenfalls einen negativen Effekt hat. Zum anderen, weil es den wiederholt geforderten Druck Berlins auf Ankara ohnehin kaum noch gibt - im Gegenteil. Zuletzt hatte es wiederholt Zugeständnisse der Bundesregierung an Erdogan gegeben, sei es in der Frage des Flüchtlingsdeals, sei es das Wegschauen und die allenfalls halbgare Kritik am Umgang mit politischen Gegnern.
Richter im Fokus von Ermittlungsverfahren
Wie sich am Mittwochabend herausstellte, war es dann doch ganz anders: Offenbar hatten die Richter sich tatsächlich an Recht und Gesetz und nicht am Willen des Staatspräsidenten orientiert. Das Ergebnis: Nun stehen sie selbst im Fokus von Ermittlungsverfahren. Und wen wundert es noch? Die Fälle, in denen Richter, die unbequeme Urteile sprachen, nur wenig später selbst in Haft gelandet oder in irgendein unbedeutendes Provinzkaff versetzt wurden, kann man schon längst nicht mehr zählen...
Unterm Strich ändert die aktuelle Situation nichts an den Fakten, sondern bestätigt sie noch: In der Türkei herrscht eine Willkürjustiz, die der Machterhaltung des Präsidentenpalastes dient und von diesem auch als Druckmittel gegen andere Staaten verwendet wird, was die politischen Gefangenen letztlich zu Geiseln macht, die keinerlei Chance haben, mit rechtsstaatlichen Mitteln Einfluss auf ihre Situation zu nehmen. Ohne Druck von außen - das hat sich auch in der Vergangenheit mehrfach gezeigt - wird sich nichts ändern.
Der Druck von NGOs und Menschenrechtsorganisationen reicht bei weitem nicht aus, solange kein politischer und wirtschaftlicher Druck hinzukommt. Genau das ist es, was jene, die Erdogan entkommen sind, seit Jahren fordern, sei es Can Dündar, Dogan Akhanli, Peter Steudtner, Asli Erdogan und viele weitere.
Es ist an der Zeit, ihnen endlich zuzuhören und ihre Perspektive ernstzunehmen. Erdogans repressives und menschenverachtendes System zu legitimieren, indem man mit ihm kooperiert, verbietet sich von selbst.
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