Türkei: Tauziehen um Demirtas
Der seit drei Jahren inhaftierte HDP-Chef wurde in einem Verfahren freigesprochen, doch ob er aus dem Gefängnis kommt, bleibt ungewiss; zugleich wurde die Istanbuler CHP-Chefin verurteilt
Im November 2016 wurden die Chefs der türkischen Oppositionspartei HDP, Figen Yüksekdag und Selahattin Demirtas, in ihren Privatwohnungen verhaftet. Yüksekdag streamte die Ankunft der Polizei damals live ins Internet. Es waren entsetzliche Minuten eines Jahres, das zum Schicksalsjahr für die Türkei wurde.
Im Sommer war ein Putschversuch von Teilen des Militärs gegen die Regierung von Recep Tayyip Erdogan gescheitert. In der Folge ließ dieser Zehntausende Menschen ins Gefängnis werfen, oppositionsnahe Unternehmen verstaatlichen, Medien wurden verboten, Oppositionelle gnadenlos verfolgt, die Folter wurde wieder zum Alltag in den Gefängnissen, mehrere Menschen starben dort unter teils bis heute ungeklärten Umständen.
Die kleine linksliberale und prokurdische HDP stand schon länger in der Schusslinie, Tausende ihrer Mitglieder waren und sind in Haft - und nun schreckte der Staat nicht einmal mehr davor zurück, das gewählte Spitzenpersonal aus dem Verkehr zu ziehen. Es war ein so überdeutlicher Angriff auf die Demokratie, dass niemand mehr wegsehen konnte.
Demirtas sitzt seither in Untersuchungshaft. Gegen ihn läuft eine Vielzahl an Strafverfahren. Die Vorwürfe kennt man aus all den anderen Verfahren gegen Gegner Erdogans: Terrorpropaganda, Terrorunterstützung, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Und so weiter. Ein erstes Urteil erging im September 2018.
Der Freispruch
Damals wurde Demirtas in einem der offenen Fälle zu vier Jahren und acht Monaten Haft verurteilt. Im Hauptverfahren, in dem die Staatsanwaltschaft insgesamt 142 Jahre Haft forderte, wurde Demirtas nun allerdings freigesprochen, eine Berufung gegen das Urteil durch die Staatsanwaltschaft wies das Berufungsgericht in Ankara Anfang September zurück. Dennoch soll Demirtas aufgrund des Urteils vom Vorjahr vorerst im Gefängnis bleiben.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte ebenfalls 2018 die Untersuchungshaft für Demirtas für unrechtmäßig erklärt und seine Freilassung gefordert, was von der Türkei aber abgelehnt wurde, zudem legten die türkischen Behörden Widerspruch ein. Das Verfahren soll am 18. September fortgesetzt werden.
Derweil haben Demirtas Anwälte beantragt, die Zeit der Untersuchungshaft auf die Haftstrafe vom September 2018 anzurechnen, wie es eigentlich üblich wäre. Sollten sie damit Erfolg haben und sollte der EGMR erneut gegen eine weitere Inhaftierung urteilen, stünde Demirtas' baldiger Freilassung zumindest formal nichts mehr im Weg.
Die Freilassung?
Doch ob er tatsächlich entlassen wird, gilt als fraglich. Selahattin Demirtas ist in der Türkei höchst umstritten. Während seine Wähler ihn als Hoffnung für eine demokratische Türkei sehen, gilt er bei Rechten und Anhängern der Regierungspartei AKP als Unterstützer der PKK - und damit als Terrorist. Auch die größte Oppositionspartei CHP tut sich schwer mit Demirtas. Und das obwohl sie ihm maßgeblich den Sieg bei den wiederholten Kommunalwahlen in Istanbul vor drei Monaten verdankt.
Die HDP hatte zugunsten der CHP auf einen eignen Kandidaten verzichtet und ihre Wähler zur Unterstützung der CHP aufgerufen. Zwar hatten zuletzt CHP-Politiker die widerrechtliche Absetzung von drei gewählten HDP-Bürgermeistern in Mardin, Van und Diyarbakir öffentlich verurteilt; generell ist die Partei aber tief gespalten, wenn es um die Politik den Kurden gegenüber geht. Mehrfach hat sie repressive Maßnahmen Erdogans mitgetragen.
Demirtas hat sich auch vom Gefängnis aus im Rahmen seiner begrenzten Möglichkeiten immer wieder in die Politik eingemischt und seinen Parteikollegen Mut gemacht und sie aufgefordert, nicht aufzugeben, so sehr sie auch wiederholt massiven Repressionen ausgesetzt waren. Während seiner Haftzeit hat Demirtas zwei Bücher geschrieben.
Das erste, eine in Deutschland unter dem Titel "Morgengrauen" erschienene Kurzgeschichtensammlung, avancierte in der Türkei und auch international zum Bestseller. In seinen sensiblen Texten thematisiert der Politiker nicht nur seine Haft, sondern auch die in der Türkei alltägliche Unterdrückung von Frauen und Minderheiten. Auf diesem Weg gelang ihm ein starkes Signal: Trotz aller Versuche der AKP, ihn mundtot zu machen, lässt er sich nicht zum Schweigen bringen. Immer wieder erfährt er Unterstützung durch internationale Solidaritätskampagnen.
Demirtas ist für Erdogan eine reale Gefahr
Sollte Demirtas freigelassen werden, würde er wahrscheinlich im Dialog mit der CHP auf ein großes demokratisches Oppositionsbündnis hinwirken. Gemeinsam mit der Tatsache, dass der AKP-Mitbegründer Ali Babacan und weitere hochrangige Abweichler noch in diesem Jahr eine neue Partei gründen wollen, könnte ein solches Bündnis die Macht Erdogans ins Wanken bringen. Dem Staatspräsidenten ist also sehr daran gelegen, dass Demirtas hinter Gittern bleibt.
Derweil wurde Canan Kaftancioglu, die Istanbuler CHP-Chefin, wegen Präsidentenbeleidigung und Terrorpropaganda zu zehn Jahren Haft verurteilt. Die Aktion kommt so kurz nach der AKP-Niederlage am Bosporus nicht überraschend. Kaftancioglu gilt als der Kopf hinter dem erfolgreichen Wahlkampf von Ekrem Imamoglu, dem neuen Istanbuler Bürgermeister.