Türkei Tribunal: Türkischer Präsident auf der Anklagebank
- Türkei Tribunal: Türkischer Präsident auf der Anklagebank
- Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen
- Staatsterror
- Auf einer Seite lesen
Das Permanente Völkertribunal wird in ein bis zwei Monaten über die Anklagen entscheiden. Die Schlussfolgerungen werden dann dem EU-Parlament in Brüssel vorgetragen
Während in Afrin die kurdischen Selbstverteidigungseinheiten YPG/YPJ unter ständigen Luftangriffen türkischer Kampfjets die Evakuierung der Zivilbevölkerung organisierten, fand in Paris am Donnerstag und Freitag vergangener Woche ein vom Permanent Peoples' Tribunal (PPT) ausgerichtetes Türkei-Tribunal statt, welches die fortwährenden Kriegsverbrechen, Menschenrechtsverletzungen und den Staatsterror der Jahre 2015 und 2016 in der Türkei zum Thema hatte.
Das Permanente Völkertribunal führt derartige Veranstaltungen seit 1979 zu verschiedenen Ländern durch. Gegründet wurde das PPT in Anlehnung an die Russell-Tribunale zu Vietnam (1966 bis 1967) und zu Lateinamerika (1973 bis 1976) im italienischen Bologna. Es hat bis heute 45 Sitzungen zu Menschenrechtsverletzungen in verschiedenen Ländern abgehalten.
Sieben Richter und Richterinnen
Das Tribunal ist von staatlichen Instanzen unabhängig. Ihm standen sieben unabhängige Richter aus verschiedenen Ländern vor. Neben dem Hamburger Völkerrechtler Norman Paech waren dies der Italiener Domenico Gallo, der irische UN-Mitarbeiter Denis J. Halliday, die italienische Politikerin, Journalistin und ehemalige Europaparlamentarierin (1979 bis 1994) Luciana Castellina, Teresa Almeida Cravo aus Portugal und Majid Benchikh aus Algerien.
Den Vorsitz führte Philippe Texier, der gleichzeitig stellvertretender Präsident des PPT ist.
Die sieben Richter und Richterinnen hatten den Auftrag, eine hundertseitige Anklageschrift gegen den türkischen Staat, gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan und gegen mehrere Militär- und Geheimdienstbeamte anhand von Zeugenaussagen zu prüfen.
Die Anklage
Die Verhandlung eröffnete Richter Gallo mit einem Eingangsstatement. Gallo erläuterte die Geschichte des PPT und den Ablauf des Tribunals. Die türkischen Regierungsvertreter seien offiziell zu ihrer Verteidigung geladen worden, sie hätten jedoch nicht reagiert, berichtete Gallo.
Der belgische Rechtsanwalt und Generalsekretär der Internationalen Vereinigung demokratischer Anwälte (IADL), Jan Fermon und die italienische Menschenrechtsanwältin Sara Montinaro verlasen die Anklageschrift und verwiesen darauf, dass der türkische Staat wie eine kriminelle Organisation agiere. Sie warfen dem türkischen Staat gezielte Tötungen kurdischer Aktivisten und Intellektueller vor:1
Die türkische Republik hat während des Zeitraums von 1.Juni 2015 bis 1. Januar 2017 Kriegsverbrechen begangen bei Konfrontationen, die sich in dieser Zeit in mehreren Städten im Südosten Anatoliens mit einer mehrheitlich kurdischen Bevölkerung ereigneten. (...)
Die türkische Republik organisierte, ordnete Verbrechen an oder ermöglichte sie: Bombenangriffe, gezielte Tötungen, Entführungen auf türkischem Boden oder außerhalb in unterschiedlichen europäischen Ländern; Verbrechen, die sich gegen Vertreter, Medienvereinigungen und Institutionen richteten, die Kurden repräsentieren, die in der Türkei leben.
Anklageschrift, Permanent Peoples' Tribunal
Fermon erläuterte, dass es praktisch keine Möglichkeit gebe, die Ereignisse in der Südosttürkei juristisch zu überprüfen, da die Türkei als eines von wenigen Ländern das Statut von Rom nicht ratifiziert habe.
Daher könne der Internationale Strafgerichtshof hier nicht tätig werden. Das Völkertribunal sei deswegen das einzige Gericht, vor dem die Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen angeklagt werden könnten.
Kein Kampf gegen Terrorismus, sondern Konflikt der Regierung mit einer Minderheit?
Jan Fermon stellte die These der Anklage vor, dass es sich in der Türkei um einen bewaffneten Konflikt zwischen einer Minderheit und der türkischen Regierung handele und nicht, wie von Ankara behauptet, um einen 'Kampf gegen Terrorismus'. Gleichzeitig verletze die türkische Regierung systematisch das Recht der Kurden auf Selbstbestimmung.
Als Beweis für diese These wurden zunächst Experten und Zeugen zu den Themenbereichen "politische Rechte", "wirtschaftliche Partizipation", "kulturelle und Frauenrechte der Kurden" gehört. Sie schilderten die systematische Assimilierungspolitik des türkischen Staates seit der Gründung der Republik.
Der Professor für Menschenrechte und Internationales Recht des Londoner Birkbeck College, Bill Bowring, wies darauf hin, dass es einen wichtigen Paradigmenwechsel in der kurdischen Gesellschaft und ihren Institutionen, die kurdische Arbeiterpartei PKK eingeschlossen, gegeben habe: Man sei von der Forderung nach einem kurdischen Nationalstaat zugunsten einer lokalen Autonomie innerhalb der Türkei und in den umliegenden Staaten mit kurdischer Population abgerückt.
Professor Hamid Bozarslan, Historiker und Soziologe, referierte über den Umgang mit den kurdischen und armenischen Minderheiten des Osmanischen Reiches, wo es noch keine "Türkisierung" gegeben habe. Diese sei erst gegen Ende des Osmanischen Reiches bis zur Gründung der Türkei entstanden. Eine Folge des wachsenden türkischen Nationalismus seien der Genozid an den Armeniern 1915 und die Massaker an den anderen ethnischen Minderheiten wie den Pontosgriechen, Christen, Eziden und Aleviten gewesen.
Der Wissenschaftler Ahmet Yildirim referierte über die Assimilierungspolitik der Türkei. Er ging auf die Propaganda der türkischen Regierung ein, die bei gegebener Situation stets betont, dass auch Kurden politische Ämter innehätten. Er hielt dagegen, dass nur diejenigen Kurden politische Ämter übernehmen konnten und können, die akzeptierten, dass sie ‚Türken‘ sind und die nicht auf ihrer ethnischen Zugehörigkeit bestehen.
Er referierte auch über den Ablauf der Friedensgespräche zwischen der AKP-Regierung und der PKK. Dabei hob er hervor, dass es Abdullah Öcalan gewesen sei, der immer wieder darauf hingewiesen hatte, dass eine Lösung des mittlerweile 100 Jahre andauernden Konfliktes nicht ohne Dialog zwischen der PKK und der Regierung funktioniere. Die Regierung stimmte dem zuerst zu, kündigte allerdings 2014 die Gespräche auf.
Der kurdische Wissenschaftler für Ökonomie, Ahmed Pelda, berichtete über die systematische Benachteiligung der kurdischen Gebiete bei der ökonomischen Entwicklung der Türkei, die gekennzeichnet ist von hoher Arbeitslosigkeit und Analphabetismus.
Der Lehrer und Buchautor Rojan Hazim berichtete über die Probleme des kurdischen Sprachunterrichts und die systematische Beschneidung kultureller Rechte der kurdischen Bevölkerung.
Die Wissenschaftlerin Nazan Üstündag referierte über die systematische Erniedrigung kurdischer Frauen, die sich politisch engagierten. Angefangen von Misshandlungen und Vergewaltigungen auf Polizeistationen auf lokaler Ebene, wurden in den letzten Jahren gezielt Frauen in Führungspositionen verhaftet. Frauenorganisationen, Zeitungen und TV-Sendungen wurden verboten.
Die Frauenfrage wurde aus dem Parlament verbannt. Stattdessen gebe es eine Islamisierung der Gesellschaft, welche die Frauen zurück ins Mittelalter befördere.
Bewaffneter Konflikt zwischen türkischer Regierung und PKK
Der belgische Professor Eric David begründete in seinem Statement, warum es sich gemäß der Genfer Konvention von 1949 in der Türkei um einen bewaffneten Konflikt zwischen zwei Parteien - der türkischen Regierung und der PKK als Konfliktpartei - handele. Die PKK sei deshalb keine Terrorgruppe. In der Türkei handele es sich um einen regionalen Konflikt, bei dem die türkische Regierung systematische Verbrechen gegen die kurdische Bevölkerung begehe.
Nach §7 des römischen Statutes erfülle die Türkei damit den Anklagepunkt 'Verbrechen gegen die Menschlichkeit'. Terrorismus wird hingegen als Morden von Einzelpersonen bzw. Zivilisten definiert, die nicht direkt in den Konflikt involviert sind, so David.
Diesen Tatbestand des Terrorismus erfülle die türkische Regierung mit dem Terror gegen die Zivilbevölkerung, während die PKK-Aktionen sich entgegen der türkischen Propaganda auf militärische Ziele beschränken. Zivilisten seien explizit nicht Ziel der militanten Aktionen der PKK.