Türkei unter Zwangsverwaltung

Istanbul. Foto: David Monje

Der Jahreswechsel bringt am Bosporus neues Konfliktpotenzial mit sich

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Neun Monate sind die Kommunalwahlen in der Türkei nun her. Neun Monate, seit die regierende AKP die Rathäuser in den wichtigsten Großstädten des Landes verloren hat. Ein halbes Jahr, seit sie bei der erzwungenen Neuwahl in Istanbul eine scheppernde Niederlage gegen den CHP-Kandidaten Ekrem Imamoglu einfuhr, der dort seither regiert.

In fast allen kurdisch geprägten Gemeinden im Südosten des Landes hatte die HDP die zuvor von der AKP abgesetzten und durch Zwangsverwalter ersetzten Bürgermeister mit Hilfe der Wählerinnen und Wähler wieder ins Amt hieven können. Neun Monate später ist die Hälfte von ihnen erneut abgesetzt, stehen die Gemeinden wieder unter Zwangsverwaltung.

Dass in der Türkei Wahlen stattfinden, heißt nicht, dass hart errungene demokratische Entscheidungen auch akzeptiert werden. Zumindest nicht solange Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan etwas zu sagen hat. Und inzwischen tastet er sich weiter vor: Im westtürkischen Urla regierte seit März die CHP. Doch nun wurde erstmals eine CHP-Gemeinde unter Zwangsverwaltung gestellt.

Istanbul

Dass er es in Istanbul am liebsten genauso machen würde, ist ein offenes Geheimnis. Die Drohungen, die er an Imamoglu richtet, lassen sich längst nicht mehr zählen. Doch er weiß auch, dass das Risiko zu hoch ist. Auf Istanbul blickt die Welt, während sie den Blick von den Kurdengebieten notorisch abwendet, und die Verbrechen, die dort geschehen, für weniger wichtig erachtet. Die Korrespondenten der internationalen Medien sitzen am Bosporus, nicht im anatolischen Hinterland.

Und Istanbul ist nebst Izmir und einigen weiteren Metropolen weiterhin das Zentrum der größten Oppositionsgruppen - auch wenn diese längst dezimiert sind, mehr als hunderttausend Menschen in Haft sitzen und die seit dem Putschversuch vom Sommer 2016 anhaltenden Repressionen und Massenverhaftungen ungebrochen weitergehen.

Allein in den zwei Wochen vor Weihnachten gab es mindestens 800 Festnahmen. Die Vorwürfe sind immer dieselben: Nähe zur PKK, Nähe zur Gülen-Bewegung, kritische Äußerungen in Sozialen Medien. Beweise für tatsächliche Straftaten sucht man in der Regel vergeblich, verurteilt wird trotzdem wie am Fließband.

Jüngstes Beispiel für die staatlich gesteuerte Willkürjustiz: Der seit November 2017 inhaftierte Unternehmer und Kulturmäzen Osman Kavala. Der Vorwurf: Finanzierung und Organisierung der Gezi-Proteste im Sommer 2013. Beweise: Keine.

Damals entzündeten sich an den Plänen zum Abriss des am Taksim-Platz im Istanbuler Stadtzentrum gelegenen Parks landesweite Massenproteste gegen die AKP-Regierung, an denen mehrere Millionen Menschen teilnahmen. Erdogan ließ sie brutal niederschlagen, es gab tausende Verletzte und mindestens acht Tote.

Gezi-Proteste: Justizposse und Drohgebärden

Für die Türkei war Gezi ein Weckruf, der die Erkenntnis mit sich brachte, dass die junge Generation keineswegs so unpolitisch ist, wie man bis dahin gedacht hatte. Für Erdogan war es ein Warnsignal: Zum ersten Mal gab es ernstzunehmenden Widerstand gegen seine Politik mit der Botschaft, dass die Menschen nicht klaglos einfach alles akzeptieren werden.

Anfang Dezember urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass Kavalas Inhaftierung unrechtmäßig ist und er umgehend freigelassen werden muss. EuGh-Urteile sind für die Türkei bindend. Doch Erdogan ignorierte das Gericht - nicht zum ersten Mal. Am 24. Dezember wurde der Prozess gegen Kavala fortgesetzt. Mehrere Zeugen der Anklage entlasteten ihn: Niemand konnte die Vorwürfe gegen ihn bestätigen.

Die Haft wird trotzdem fortgesetzt, der nächste Gerichtstermin für Ende Januar angesetzt. Eine Justizposse - eine von vielen. Neben Kavala sind fünfzehn weitere Personen wegen angeblicher Organisation der Gezi-Proteste angeklagt, bei allen ist die Beweislage ebenso dünn. Es ist ein Schauprozess ohne jede Substanz, der der Istanbuler Opposition klarmachen soll: Wer aufbegehrt landet hinter Gittern.

Ob die Drohkulisse wirklich verfängt, ist allerdings zweifelhaft. Würde Erdogan seinen Kontrahenten Imamoglu, der mitunter bereits als aussichtsreicher Präsidentschaftskandidat gehandelt wird, einfach absetzen, dürfte das Proteste auslösen, gegen die Gezi nur ein laues Lüftchen gewesen wäre. Das kann und will Erdogan zum jetzigen Zeitpunkt offenbar nicht riskieren. Also wendet er andere Methoden an und macht Imamoglu die Arbeit schwer, indem er Istanbul finanziell blockiert.

Die Stadtverwaltung ist hoch verschuldet. Die AKP hat die Stadtkassen herabgewirtschaftet und ihrem Nachfolger ein Milliardenloch hinterlassen. Doch von staatlichen Banken erhalten Imamoglu und seine Leute kein Geld. In den letzten Wochen tourte der Istanbuler Bürgermeister daher durch mehrere europäische Länder, wo er immerhin Kredite in Höhe von mehr als achtzig Millionen Euro einsammeln konnte. Doch unter dem Strich ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Das nächste geplante Megaprojekt: Der Kanal Istanbul

Während nun wichtige Projekte wie der Ausbau des Öffentlichen Nahverkehrs in der nach wie vor rasant wachsenden Metropole liegenbleiben, treibt Erdogan dort seine Prestigeprojekte weiter voran. Längst hat er Istanbul seinen Stempel aufgedrückt: Eine neue Brücke über den Bosporus, ein U-Bahn-Tunnel unter dem Bosporus, eine gigantische neue Moschee, ein gigantischer neuer Flughafen, eine neue Moschee am Taksim-Platz, der bislang eine religionsbefreite Zone war.

Nun soll das nächste seit Jahren geplante Megaprojekt anrollen: Der Kanal Istanbul, eine Art zweiter Bosporus, soll einen neuen Wasserweg vom Marmarameer ins Schwarze Meer quer durch den europäischen Teil der Türkei schneiden. Offiziell wird mit einer Entlastung des Schiffsverkehrs durch den Bosporus argumentiert. Doch Umweltschützer schlagen längst Alarm: Der Kanal zerstöre das Gleichgewicht der Natur, erneut müssten Millionen Bäume gefällt werden, zudem sei ein solche Projekt mitten in einem Erdbebengebiet blanker Wahnsinn.

Doch von solchen Argumenten hat sich Erdogan auch zuvor nicht einschüchtern lassen - und dass der Istanbuler Bürgermeister gegen das Projekt ist, ficht ihn erst recht nicht an. Am Ufer des neuen Kanals sollen luxuriöse Wohngegenden entstehen, viele Grundstücke sind längst verkauft. Und zwar soll es für den Bau des Kanals eine öffentliche Ausschreibung geben - doch bislang ist es Tradition, dass solche Großbauten an mit der Regierungspartei verklüngelten Bauunternehmer gehen.

Dass es diesmal anders läuft ist unwahrscheinlich. Und Erdogan muss liefern - denn der Verlust der Stadt durch die Kommunalwahlen bedeutete auch einen Verlust an Einfluss. Für Erdogan ist das ungünstig, ist doch die korrupte Bauindustrie eine seiner wichtigsten Stützen.

Der Haken ist, dass der Kanal Istanbul noch heftiger polarisiert als die Pläne für ein Einkaufszentrum auf dem Grundstück des Gezi-Parks. Am Ende könnte es sein, dass ein neuer Aufstand, eine neue Protestbewegung auch ohne Absetzung des Bürgermeisters kommt.