Türkei versinkt vor den Wahlen im Misstrauen
Erdogan macht den IS, die PKK, die PYD und den syrischen Geheimdienst für den Anschlag in Ankara verantwortlich, nach einer Umfrage ist die Meinung ganz nach Lagern gespalten, 21 Prozent sehen auch die AKP dahinter
Am 10. Oktober starben bei zwei Selbstmordanschlägen auf eine von Kurden organisierte Friedensdemonstration in Ankara 102 Menschen, über 500 wurden verletzt. Schon im Juli waren 32 Menschen, vorwiegend kurdische Aktivisten, bei einem Anschlag in Suruc getötet worden. Jetzt will ein Staatsanwalt nach einer Klage der Ankara Bar Association gegen die Sicherheitsbehörden und den Innenminister wegen Amtsverletzung ermitteln, da die Sicherheitsvorkehrungen nicht ausreichend gewesen seien.
Tatsächlich war einer der Selbstmordattentäter Mitglied einer bekannten IS-Gruppe. Sein Bruder, der dieser ebenfalls angehört hatte, soll den Anschlag in Suruc durchgeführt haben. Offenbar wurden nach Suruc nicht genügend gegen die Verdächtigen vorgegangen. Aber nicht nur die offenkundige Nachlässigkeit der Sicherheitsbehörden ist ein Skandal, wenn man nicht vom Gewährenlassen sprechen will, sondern auch, dass die Staatsanwaltschaft erst die Genehmigung des Innenministers benötigt, um gegen ihn und Polizeiangehörige ermitteln kann. Zudem muss das Parlament die Immunität des Ministers aufheben, was angesichts der AKP-Mehrheit zumindest vor den Wahlen sehr unwahrscheinlich ist.
Wie sich herausstellt, war eigentlich zuerst in Ankara ein Anschlag auf die Zentrale der prokurdischen Partei HDP geplant gewesen, offenbar fanden die Attentäter den Anschlag auf den Friedensmarsch besser geeignet für ihre Zwecke. Geplant war angeblich auch ein Anschlag auf die zweite Vorsitzende der HPD Yüksekdag am 18. Oktober während einer Wahlkampveranstaltung. Die Partei hatte aber nach dem Anschlag in Ankara alle Großveranstaltungen abgesagt.
Die türkische Regierung steht kurz vor den Wahlen auch damit unter hohem Druck, schließlich war man sich nicht zu schaden, die Anschläge auch den Kurden selbst zuzuschreiben. Präsident Erdogan kann davon noch immer nicht lassen und will offenbar irgendwie die islamistischen Terroristen und die PKK, die Assad-Regierung und die syrischen Kurden zusammenbringen, um sie als gemeinsamen Feind zu brandmarken. Gestern sagte er auf einer Veranstaltung, dass der Anschlag ein "kollektiver Terrorakt" sei, bei dem "Daesh (der Islamische Staat), die PKK, Mukhabarat (der syrische Geheimdienst) und die PYD in Nordsyrien eine Rolle gespielt haben". Dass Erdogan solche zusammengeschusterten Wahngebilde öffentlich äußert, offenbar entweder seine Dreistheit oder die Verzweiflung vor den Wahlen, bei den Wahlen an seinen Träumen, eine Art Sultanspräsident zu werden.
Die Menschen haben Angst vor Erdogan
In der Türkei selbst ist die Meinung ähnlich konfus. Die Menschen scheinen alles Mögliche zu glauben. Nach einer Umfrage der Gezici Research Company, die am 17. Und 18. Oktober durchgeführt wurde, glauben 25 Prozent der Türken, dass der Anschlag auf den IS zurückgeführt werden kann, und 28 Prozent, dass die PKK dafür verantwortlich sei, das Massaker an den Kurden veranstaltet zu haben. Allerdings vermuten 21 Prozent, dass Erdogan oder die AKP selbst dahinter stecken, 10,1 Prozent glauben, dass die HDP für den Anschlag auf ihre eigenen Leute verantwortlich ist, 14 Prozent sehen irgendwelche ausländischen Mächte hinter dem Anschlag. 58,6 Prozent sehen zumindest eine Mitverantwortung der Regierung, die nicht ausreichend für Sicherheit gesorgt habe, nur 27,5 Prozent sind anderer Meinung.
Das Ergebnis lässt erkennen, wie zerrissen die politische Landschaft in der Türkei ist, und welch großes Misstrauen vorherrscht, weil man allen alles zutraut. Die AKP-Anhänger sehen zu 20 Prozent den IS als Schuldigen, aber zu 40 Prozent die PKK. Die CHP-Anhänger sehen hingegen zu 41 Prozent Erdogan oder die AKP als Verantwortliche, 32 Prozent vermuten den IS dahinter, 13,8 Prozent die PKK.
Der PKK-Terrorismus gilt den meisten als derzeit wichtigstes Problem, gefolgt von der Arbeitslosigkeit und der Wirtschaftskrise. Nur 21,1 Prozent nannten den Terrorismus des Islamischen Staats. Erdogans Ansehen scheint ins Wanken zu geraten. Immerhin 68,5 Prozent gaben an, vor ihm Angst zu haben, nur 25,5 Prozent vertrauen ihm.
Bei der Sonntagsfrage hat sich gegenüber dem Wahlergebnis im Juni wenig verändert. Erdogan dürfte es vermutlich auch im November nicht schaffen, eine absolute Mehrheit zu erreichen. Die Türkei verharrt in Instabilität und wird daher immer gefährlicher, weil sie zentral am Syrienkonflikt mitwirkt und von diesem betroffen ist. Nach der Umfrage würden 41,3 Prozent die AKP wählen, 27 Prozent die CHP, 15,6 Prozent die MHP und 12,5 Prozent die HDP, die wieder ins Parlament einziehen und damit die Machtträumen von Erdogan untergraben würde.