Türkische Armee bombardiert syrisch-kurdische Enklave Afrin
Gesellschaft für bedrohte Völker wirft Erdogan schwerste Völkerrechtsverletzung vor
Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) wirft der türkischen Regierung vor, mit der Beschießung der kurdischen Enklave Afrin in Nordsyrien das Völkerrecht in schwerster Form zu verletzen. Es hat keinerlei Provokation von der Verwaltung in Afrin gegeben. Trotzdem nimmt das türkische Militär seit gestern Nacht verschiedenen Ortschaften mit Artillerie und Raketenwerfer unter schweren Beschuss. Betroffen sind folgende Ortschaften: Shaykh al Hadid (Shiye), Derbalout, Hammam, Freriye, Sanare und Qarmitlike. Granaten sollen auch im Zentrum der Region Afrin, die sich im Alleingang für autonom erklärt hat, eingeschlagen sein. Es gibt bereits mindestens vier Tote und sieben Verletzte unter den Zivilisten.
Diese Angaben haben sowohl die in London ansässige Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte als auch Freunde und Gewährsleute der GfbV vor Ort in Telefongesprächen bestätigt. "Die Menschen haben sich die ganze Nacht in besser geschützte Räume geflüchtet. Sie hatten Angst, von einer Bombe oder Rakete getroffen zu werden", berichtete mir ein 60-jähriger Kurde aus der Ortschaft Shaykh al Hadid (Shiye) am Telefon. Auch Mutter und Geschwister von mir leben in Afrin.
Die türkische Regierung rechtfertigt ihre Angriffe damit, dass syrisch-kurdische Milizen türkische Stellungen angriffen hätten und für den Anschlag am Mittwoch in Ankara verantwortlich seien. Diese Vorwürfe weisen die Kurden strikt zurück. Kurdische Parteien und Milizen in Syrien haben den Anschlag aufs Schärfste verurteilt und als "feigen Terroranschlag" bezeichnet.
Die Zivilbevölkerung in Afrin wird seit 2012 von radikalislamistischen Gruppen wie die Al Nusra-Front, Ahrar Al Sham, Jaish Al Islam, Jaish Al Mujahidin und der "Islamische Staat" (IS) durch Artillerieangriffe und durch die Blockade von Zufahrtsstraßen zwischen der Enklave und der Provinzhauptstad Aleppo terrorisiert. Immer wieder werden Zivilisten von diesen islamistischen Gruppen verschleppt. Die türkische Regierung hat die Islamisten seit 2012 gewähren lassen, kritisiert die GfbV. "Doch jetzt greift das türkische Militär unmittelbar in den Kampf ein und terrorisiert seinerseits die Zivilbevölkerung. Obwohl viele Menschen in Afrin bleiben wollen, könnten sie durch den massiven Beschuss doch in die Flucht getrieben werden und nach Deutschland oder Europa fliehen."
Ziel der türkischen Regierung ist es, die Entstehung eines kurdischen Autonomiegebietes in Nordsyrien zu verhindern, notfalls durch einen Einmarsch in Nordsyrien. Die Mehrheit der Kurden und anderer Minderheiten wie Assyrer/Aramäer, Christen, Yeziden, Alawiten, Drusen, Ismailiten oder Schiiten lehnen die politische und militärische Einmischung der Türkei in Syrien strikt ab. Die türkische Regierung unterstützt vor allem die radikalislamistischen Gruppen in Syrien und nicht die säkulare Opposition, die ein demokratisches Syrien nach der Assad-Diktatur fordert.
Kamal Sido ist Nahostexperte der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) und stammt aus Afrin.