Türkische Luftwaffe bombt in Nachbarländern
Erwartungsgemäß und trotz aller Ungereimtheiten dient der Anschlag von Istanbul als Vorwand für türkische Angriffe in Nordsyrien und dem Nordirak. Beschuldigt werden PKK und YPG. Bekannt hat sich zu dem Anschlag bisher keine Organisation.
Wie von Vielen befürchtet, nimmt die türkische Regierung das Attentat in Istanbul am 13. November zum Anlass, um erneut völkerrechtswidrige Militärinterventionen in Nordsyrien und dem Nordirak durchzuführen. Beweise für eine Beteiligung der kurdischen Militäreinheit YPG in Nordsyrien oder der PKK im Nordirak am Attentat in Istanbul gibt es bislang nicht. Dafür aber jede Menge Merkwürdigkeiten und Ungereimtheiten.
US-Warnung bewahrheitet sich schnell
Das US-Generalkonsulat in Erbil in der Kurdistan-Region Irak (KRI) gab am vergangenen Freitag eine Sicherheitswarnung heraus, in der es vor einer möglichen türkischen Militäroperation in den kommenden Tagen warnte. Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu erklärte am Freitag, dass das türkische Militär weiterhin "Operationen" in Nordsyrien und im Nordirak durchführen werde. Dies berichtete auch die kurdische Nachrichtenagentur ANF.
Die türkische Regierung beschuldigt die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und die syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), die Teil der Syrian Democratic Forces (SDF) sind, für den Anschlag in Istanbul verantwortlich zu sein. Die PKK, die YPG sowie die Vertreter der Selbstverwaltung von Nord- und Nordostsyrien wiesen die Anschuldigungen zurück. Bis jetzt hat sich noch niemand zu dem Anschlag bekannt. Anstatt in alle Richtungen zu ermitteln, stehen für die türkische Regierung die Täter schon fest.
Türkische Kampfflugzeuge greifen Nordsyrien an
Kaum ging die Warnung der USA an die Medien, begann die türkische Luftwaffe in der Nacht von Samstag auf Sonntag mit den Bombardierungen in Nordsyrien. "Die Angriffe richteten sich bisher gegen Kobanê, Tel Rifat, Dêrik und Zirgan. Über Dirbesiyê, Minbic und Qamişlo kreisen ebenfalls türkische Kampfflugzeuge", berichtet die Nachrichtenagentur ANF. Betroffen sind auch Camps für Geflüchtete aus Afrin in der Ortschaft Belûniyê bei Tel Rifat und bei der Gemeinde Zirgan (arab. Abu Rasen), östlich der türkisch besetzten Stadt Serêkaniyê (Ras al-Ain), die Vertriebene aus Serêkaniyê beherbergt.
Im Umland von Dêrik, der Partnerstadt des Berliner Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg, bombardierten Kampfjets der türkischen Armee gleich mehrfach den Ort Teqil Beqil, wenige Kilometer von Dêrik entfernt. In der Nähe dieser Ortschaft befindet sich auch ein US-Stützpunkt. Beim ersten Angriff wurde gezielt ein Elektrizitätswerk zerstört, wobei nach Angaben des ehemaligen Ko-Bürgermeisters Feremez Hamo zwei Arbeiter umkamen.
Nach dem Angriff strömten Menschen aus der Zivilbevölkerung dorthin, um möglichen Opfern zu helfen. Daraufhin setzte eine zweite Angriffswelle ein, wobei auch ein Fahrzeug zerstört wurde. Hamo sprach von elf Toten und mehreren Verletzten, einige Leichen seien bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.
Unter den Toten befindet sich auch der Journalist Isam Abdullah. Der Korrespondent der Nachrichtenagentur ANHA wurde schwer verwundet und starb im Krankenhaus. Der Städtepartnerschaftsverein Friedrichshain-Kreuzberg – Dêrik e.V. sprach den Angehörigen der Opfer sein Beileid aus. Der Verein betreibt mit der Frauenstiftung WJAS seit 2020 im Umland von Dêrik eine überwiegend aus Spenden finanzierte Mobile Klinik. Dies ist zur Zeit einzige Gesundheitsversorgung für Frauen und Kinder im Umland von der Dêrik.
Der Verein ist angesichts der türkischen Angriffe auf zivile Infrastruktur äußerst besorgt, dass auch diese Mobile Klinik zum Angriffsziel werden könnte. In einer ersten Bilanz am Sonntagvormittag berichtet die kurdische Nachrichtenagentur ANF von 26 Toten und 17 Verletzten.
Im Zentrum der Angriffe stand die Stadt Kobane, die zum Symbol des Sieges über den "Islamischen Staat" (IS) geworden und daher auch dem islamisch-reaktionären türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan ein besonderer Dorn im Auge ist. Die Luftangriffe auf Kobane hielten den ganzen Sonntag über an. In Kobane wurde eine Corona-Klinik vollständig zerstört.
In der Gemeinde Zirgan (ar. Abu Rasen) wurden das Dorf Til Hermel bombardiert und im Dorf Dehril Ereb ein Weizendepot zerstört. Es gab drei tote und drei verletzte Zivilpersonen sowie drei getötete und fünf verletzte Soldaten der syrischen Armee.
In einem Dorf nahe der seit 2019 von der Türkei besetzten Stadt Girê Spî wurde ein Militärposten der syrischen Armee angegriffen. Dabei wurde ein Soldat getötet, zwei Soldaten wurden verletzt.
In der nordwestlichen Sheba-Region, in der hunderttausende Geflüchtete aus dem türkisch besetzten Afrin in Flüchtlingscamps leben, wurden bei einem Luftangriff auf einen Militärposten der syrischen Armee im Dorf Şêwarxa zehn Soldaten getötet und fünf Soldaten verletzt. Auch dort hielten die Angriffe den Sonntag über an. Zeitgleich zu den Angriffen auf Nordsyrien wurden auch Luftangriffe auf das Kandil-Gebirge im Nordirak geflogen, wo die PKK ihren Hauptsitz hat. Die türkische Regierung beschuldigt die PKK und die kurdischen Militäreinheiten (YPG) der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), für den Anschlag in Istanbul verantwortlich zu sein.
Die Selbstverwaltung Nordsyriens, die YPG und zahlreiche weitere kurdische Organisationen hatten die Vorwürfe zurückgewiesen und davor gewarnt, dass mit der haltlosen Schuldzuweisung ein Vorwand für einen erneuten Angriff auf das Gebiet der Selbstverwaltung geschaffen werden solle.
Türkei hält an ihrer Schuldzuweisung fest
Wie Telepolis bereits berichtete, gibt es erhebliche Zweifel an der türkischen Version zur Urheberschaft des Anschlags in Istanbul. Auch unabhängige Experten vermuten, dass die türkische Regierung mit der Anschuldigung einen Vorwand für einen erneuten Militäreinsatz in Nordsyrien geschaffen hat, zumal der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bereits seit Monaten eine solche Offensive angekündigt hatte.
Erdogan spricht bereits seit Mitte des Jahres von einer möglichen Militäroffensive, die von der Landesgrenze bis zu 30 Kilometer tief in das Nachbarland vordringen soll. Russland und der Iran, beide ebenfalls Akteure im syrischen Bürgerkrieg, haben der Türkei davon abgeraten. Auch die USA hatten Ankara vor einer erneuten Offensive gewarnt.
Ibrahim Kalin, der Sprecher des türkischen Präsidenten, twitterte nun, es sei die "Zeit der Abrechnung: Die Niederträchtigen werden für ihre verräterischen Angriffe zur Rechenschaft gezogen". Das türkische Verteidigungsministerium berichtete, es seien "89 Ziele in Nordsyrien und im Nordirak zerstört" und "Terroristen in großer Zahl neutralisiert" worden. Das Ministerium berief sich dabei auf das Recht zur Selbstverteidigung: "Im Einklang mit unseren Selbstverteidigungsrechten, die auf Artikel 51 der UN-Charta basieren, erfolgte die Luftoperation Pence Kilic im Norden des Irak und Syriens, von wo Terroristen (...) unser Land angreifen".
Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags hatte in der Vergangenheit bei ähnlichen Einsätzen allerdings bezweifelt, dass diese mit dem Völkerrecht vereinbar seien.
Russland, die USA und selbst der Iran hatten der Türkei noch vor wenigen Wochen kein grünes Licht für eine Militäroffensive gegeben. Bisher gibt es noch keine Statements zu der jetzigen Militäroffensive. Allerdings hätten Russland und die USA diese verhindern können, wenn sie den Luftraum für türkische Kampfflugzeuge geschlossen hätten.
An diesem Montag reist die deutsche Innenministerin Nancy Faeser zu einem Treffen mit dem türkischen Innenminister Süleyman Soylu in die Türkei. Bei dem Treffen soll es unter anderem um die deutsch-türkische Zusammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung gehen. Man darf gespannt sein, ob mal wieder wegen geopolitischer Interessen ein Völkerrechtsbruch unterstützt wird. Wertebasierte, gar feministische Außenpolitik? Wo ist sie?
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