Türkisches Parlament genehmigt Entsendung von Truppen nach Libyen

Eine Entscheidung Erdogans steht noch aus; die Spekulationen über einen türkischen Militäreinsatz, der auch die Küste betreffen könnte, nehmen Fahrt auf

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Das türkische Parlament hat heute Nachmittag mit großer Mehrheit den Weg für eine Entsendung türkischer Truppen nach Libyen freigemacht. Die regierende AKP und die MHP brachten 325 Ja-Stimmen zustande, die 184 Nein-Stimmen rekrutierten sich aus der CHP, der İYİ-Partei, der Saadet Partisi und der HDP.

Die Parlamentsentscheidung erfolgte in einer außergewöhnlichen, eilig anberaumten Sitzung, ob dies auch bedeutet, dass die Türkei, wie es Präsident Erdogan in seinen jüngsten Ankündigungen durchscheinen ließ, möglichst schnell Truppen nach Libyen entsenden will, steht allerdings noch nicht fest. Das gehört zu einem ganzen Bündel an Spekulationen, die mit der Entscheidung verbunden ist.

Gewissheiten

Sicher ist, dass die Türkei damit ihrem bisherigen verdeckten Militäreinsatz gewissermaßen nachträglich Legitimation verleiht. Grundlage für den Parlamentsentscheid ist ein gegenseitiges Abkommen mit der libyschen Einheitsregierung (GNA), das im Dezember geschlossen wurde und eine militärische Zusammenarbeit zwischen der GNA und der Türkei zum Gegenstand hat.

Bislang ist nicht wirklich deutlich geklärt, ob der international anerkannte libysche Regierungschef Sarradsch offiziell um eine Militärhilfe seitens der Türkei gebeten hat. Aber Erdogan scheint dies so verstanden zu haben und mit der Unterzeichnung des Memorandums sowie dem heutigen Beschluss des türkischen Parlaments rücken solche Ungenauigkeiten politisch in den Hintergrund.

Sicher ist auch, dass das türkische Engagement in Libyen das Prestige der Türkei, ihre Rolle als wichtige Regionalmacht fördern soll. Präsident Erdogan verknüpfte den für viele überraschenden außenpolitischen Coup, der den türkischen Libyen-Einsatz auf eine neue Basis stellt, mit Identitätspolitik: In Libyen gebe es eine Million ethnischer Türken, wird er vom libyschen Journalisten Mohamed Eljarh zitiert.

... und Spekulationen

Im Dezember gab es erste Hinweise darauf, dass die Türkei als Unterstützer ihres Einsatzes in Libyen bereits syrische Milizen ins Land gebracht habe. Nach den Weihnachtstagen äußerte ein Beobachter im Twitter-Nachrichtengetümmel, dass turkmenische Syrer, die zur Sultan-Murad-Brigade gehören sowie andere mit der Türkei verbundene syrische Milizen künftig in Libyen aufseiten der Türkei kämpfen sollen.

Bisher gibt es dazu aber noch keine verlässlichen Berichte, auch der diesbezügliche Bericht von Middle East Eye, der bereits von in Libyen anwesenden Syrern Kunde macht, stützt sich auf ungenannte Quellen und referiert hauptsächlich Absichten.

Damit beginnt auch das Gelände der Spekulation über die Absichten und die Dimensionen des offiziellen türkischen Militäreinsatzes.

Bislang hat sich der türkische Präsident Erdogan noch nicht definitiv dazu geäußert, wann er türkische Truppen nach Libyen schicken will, wie viele und welche Truppengattungen es sein sollen. Er gab Hinweise darauf, dass sowohl Luft- und See- wie auch Landstreitkräfte sein können. Der nächste Schritt nach dem Parlamentsentscheid wäre nun eine konkrete Anweisung, die von ganz oben kommt.

Da das Parlament eilig zusammengerufen wurde, wird nun auch erwartet, dass Einzelheiten zur Truppenentsendung auch in Bälde bekannt werden. Zum möglichen Einsatzgebiet würde auch die libysche Küste gehören, wie in Hürriyet News zu lesen.

Nur ein Abschreckungssignal?

Es gibt aber auch die Spekulation, dass sich die Türkei zunächst mit diesem lauten Signal an die internationale Öffentlichkeit, wonach alles für einen offiziellen Militäreinsatz in Libyen vorbereitet ist und dieser schnell erfolgen kann, begnügt. Für eine Zurückhaltung bei der Umsetzung der heutigen Entscheidung spräche, dass der türkische Vizepräsident Fuat Oktay eben genau dies als Möglichkeit skizzierte.

Reuters gibt ihn damit wieder, dass die Türkei ein Abschreckungssignal an die kriegsführenden Parteien geben will und dass es doch sein könnte, dass die andere Seite - das wären die Truppen von General Haftar - aufgrund der türkischen Entscheidung die Offensive auf Tripolis und damit auf die GNA fallen lassen.

Das erscheint zwar angesichts der kompromisslosen Haltung, die den Oberbefehlshaber der LNA, Haftar, kennzeichnet, auf den ersten Blick als eher unwahrscheinlich. Vorstellbar wäre aber schon, dass Erdogan bei seinem heutigen Telefongespräch mit US-Präsident Trump und einem anstehenden Gespräch mit dem russischen Präsidenten Putin versuchen könnte, dass der Druck auf Haftar erhöht wird.

Weder die USA noch Russland haben nach Lage der Dinge Interesse daran, dass die Situation in Libyen eskaliert. Beide Präsidenten verstehen sich - bis zu gewissen Grenzen - mit Erdogan.

Auch Kenner der libyschen Verhältnisse wie z.B. Jalel Harchaoui halten es für unwahrscheinlich, dass die Türkei in Libyen einen Konfrontationskurs mit Russland, wo es eine starke Fraktion für Haftar gibt, riskiert. Harchaoui geht von zwar komplizierten, aber gemeinsamen Interessen aus, was darauf hinauslaufen würde, dass es zu keiner großen türkische Militäraktion ohne Absprache mit Putin kommen würde.

Warnungen

Doch gibt es auch andere, warnende Stimmen. So zum Beispiel der Österreicher Wolfgang Pusztai, der Libyen ebenfalls gut kennt und der eindringlich davor warnt (hier Minute 4:30 bis 9:38), dass eine Ausdehnung des türkischen Militäreinsatzes eine scharfe ägyptische Gegenreaktion evozieren könnte und damit die Gefahr mit sich bringt, dass der Libyen-Konflikt die MENA-Region ‏mithineinzieht.

Wichtig wäre, dass es zu einer Waffenstillstandsvereinbarung komme, so Pusztai. Dann hätte die Libyen-Konferenz, die für Anfang dieses Jahres in Deutschland geplant ist, eine Minmal-Chance auf Erfolg. Ohne einen Waffenstillstand geht der Proxy-Milizenkrieg in Libyen weiter und wenn die Türkei mit eigenen Truppen mitmacht, dann werden die Gegner auf der anderen Seite nachziehen.

Das ist auch die Dynamik, die beim bisherigen verdeckten Einsatz der Interessensmächte, angefangen von den Vereinten Arabischen Emiraten bis hin zu Frankreich, zu beobachten war.