Tunesien: Auf dem Weg zu einem zivilen Staat

Die Abstimmung zur neuen Verfassung lässt hoffen, dass nicht jede "Arabellion" im blutigen Chaos endet

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"Die neue tunesischen Verfassung wendet sich von der Scharia ab" - Tunesien werde darin als ziviler Staat bezeichnet, der die Gewissens- Glaubens- und Religionsfreiheit garantiert. Der entsprechende Artikel sei mit deutlicher Mehrheit verabschiedet worden, berichtet freudig die französische Zeitung Le Monde. Die derzeit laufende Abstimmung über den Entwurf zu einer neuen Verfassung weise darauf hin, dass Tunesien im Begriff ist, eine Ausnahmstellung in der arabischen Welt verfassungsmäßig festzuschreiben. Das sei umso bemerkenswerter, als die verfassungsgebende Versammlung von Islamisten der Ennahda dominiert wird.

Angesichts der blutigen Kämpfe und Grausamkeit und der Herrschaft des Krieges, in das der viel bejubelte arabische Frühling (wie viel Vorworte zu Büchern darüber müssen umgeschrieben werden?) abstürzte, hätte man gute Lust den Bericht über die neue tunesische Verfassung an dieser Stelle abzubrechen, eine schöne hoffnungsvolle Kurznews...

Auch Tunesien blieb von politischen Morden, Angst vor Staatsstreichen, blutig verlaufenden Demonstrationen, undurchsichtigen Machtkämpfen, alltäglichem Terror von Glaubenseiferern, die mit salafistischem Hochdruck an einer Gehorsamsdiktatur arbeiten, nicht verschont. Aber am Ende wird alles doch ganz gut und die säkularen Grundfeste, die sich in den Jahren vor der Renaissance der Islamisten gebildet hatten, intakt?

In dem oben genannten Artikel heißt es, dass Abstimmung mit großer Mühe voranschreitet. Das ist auch den Berichten aus tunesischen Medien zu entnehmen. Heute ist die Abstimmung laut Kapitalis, einem oppositionellem kritischen Medium, links ausgerichtet, unterbrochen, weil die säkularen Abgeordneten eine Entschuldigung dafür verlangen, dass einer der ihren von einem Ennahda-Abgeordnetem als "Takfir", Ungläubiger, bezeichnet wurde, als "Feind des Islam", was in der islamischen Welt einem Todesurteil gleichkomme und auch zu ersten Todesdrohungen geführt haben soll.

Streitpunkte

Gefordert wird, dass der "Kriminalisierung des 'Takfir'" in der neuen Verfassung keinerlei Basis gegeben wird. An diesem Einzelpunkt zeigt sich, dass auch die neue Verfassung noch nicht davor gefeit ist, Spielraum für eine juristische Auslegung zu liefern, die einer religiös inspirierten Regierung Mittel in die Hand gibt, Gegner rasch, mit wenig Aufwand kaltzustellen. "Takfir" oder "Kuffar" ist ein Enthauptungs- bzw. Totschlagargument in sämtlichen Auseinandersetzungen, die seit dem Einmarsch der Amerikaner im Irak mit neuer Inbrunst hochgekocht sind.

An dem Punkt zeigt sich auch, wie hart und mühsam die Auseinandersetzungen bei der Abstimmung geführt werden und dass bisher noch alles in der Weise entschieden ist, wie es der Bericht von Le Monde hoffen lässt. Bezeichnend sind auch die beiden anderen Streipunkte, die seit gestern abend die Abstimmung aufhalten: die Gleichberechtigung der Frauen und die Zusammensetzung des künftigen Wahlausschusses (nach der Verabschiedung der Verfassung sind neue Parlamentswahlen vorgesehen).

Auch der Streit über die Formulierung der Gleichstellung der Frauen in der neuen Verfassung ist exemplarisch. Mehrheitlich wurde am Montag der Artikel 20 in folgendem Wortlaut verabschiedet (Übersetzung des Autors aus dem französischen):

Alle Bürger und Bürgerinnen haben die gleichen Rechte und Pflichten. Sie sind gleich vor dem Gesetz, ohne dass sie in irgendeiner Weise diskriminiert werden dürfen. (Französisch)

Auch die Webseite Jeune Afrique lobt dies als "einzigartig in der arabischen Welt", ähnlich wie Le Monde. Demgegenüber präsentiert die Maghreb-Ausgabe der Huffington Post Gegenbeispiele aus den Verfassungen in Marokko, Algerien und Ägypten, wo die rechtliche Gleichstellung der Frauen ebenfalls verfassungsmäßig verankert sei, sogar um Einiges präziser.

Spielraum für repressive Auslegungen

Die Vagheit vieler Artikel im tunesischen Verfassungsentwurf wird im Detail von dem früheren Diplomaten Farhat Othman auf der oppositionellen Webplattform Nawaat.org kritisiert. Zwar räumt Othman ein, dass es Errungenschaften gebe, aber diese seien sehr fragil.

So sei im oben zitierten Artikel 20 an keiner Stelle ausdrücklich und wörtlich von der "Gleichheit der Geschlechter" die Rede, auch der Begriff der Diskriminierung werde an keiner Stelle konkretisiert, er bleibe abstrakt. Bei Erbstreitigkeiten sei abzusehen, dass eine "weiträumige Interpretation" nötig sei, um die Formulierung in der Verfassung in konkrete Gleichstellungsansprüche zu übersetzen.

Dass die Formulierungen auch Spielräume in bedenklicher Weise geben, zeigt Othman am Artikel 21, demzufolge "Das Recht auf Leben heilig (ist); dies kann nur in extremen Fällen, die Gesetze festlegen, eingeschränkt werden". Dies sei nicht nur die verfassungsmäßige Grundlage für die Todesstrafe, sondern gebe auch die Möglichkeit zu einer restriktiven Gesetzgebung, die etwa Abtreibungen verbietet, so Othman.

Sein Hauptkritikpunkt, wonach die einzelnen Artikel einen großen Spielraum für eine repressive Auslegung geben, wird politisch relevant, wenn man sich vor Augen hält, was im Le Monde-Artikel nur ganz am Schluss als Zusatz erwähnt wird: Dass die Richter gegen den Verfassungsentwurf opponieren, weil darin vorgesehen sei, die Justiz von der Exekutive abhängiger zu machen. So allgemein gehalten die Verfassung sei, so nötig sei es, dass für die Auslegung unabhängige Richter eingesetzt werden.

Islam und Zivilgesellschaft - und Gewerkschaften

Der Kampf gegen die Islamisten sei längst nicht zugunsten der säkularen Kräfte entschieden, so Othman. Wie auch im Bericht der Le Monde und im Verfassungsentwurf selbst ersichtlich ist, wird der Staat als Wächter der Religion ("L'Etat est le protecteur du sacré") verankert, auch kommt dem Islam, trotz der Formulierung, dass Tunesien ein ziviler und freier Staat ist, eine verfassungsmäßige Rolle zu. Artikel 1 ist demnach in folgender Form zugestimmt worden:

Tunesien ist ein freier Staat, unabhängig und souverän, der Islam ist seine Religion, Arabisch seine Sprache und die Republik seine Regierungsform.

Daran wie die Nichtgläubigen, Säkularen künftig behandelt werden, wenn sie Kritik auch an der Religion üben und sich dabei auf die garantierte Meinungs- Gewissens-und Religionsfreiheit (die mit großer Mehrheit angenommen wurde) berufen, wird es ankommen. Dafür braucht es eine starke Zivilgesellschaft.

Dass Tunesien nach den Aufständen in eine bessere Richtung geschwenkt ist, ist dem Umstand zu verdanken, dass die Gewerkschaft UGTT aus der schweren Krise nach dem politischen Mord an dem Link auf /8/154695 als wichtiger und zentraler politischer Akteur aufgetreten ist und dies auch konnte - im Unterschied zu anderen arabischen Ländern, die vorrangig die Islamisten zum Blühen brachten.

So findet sich in der neuen Verfassung auch das Recht auf Streiks und Gewerkschaften präziser formuliert. Sehr deutlich ist auch die Verurteilung der Folter, eine Erfahrung, die alle Oppositionellen unter dem Regime Ben Alis gemacht haben, was sich darin ausdrückt, dass sie als "unverjährbares Verbrechen" verankert wird. So viel Deutlichkeit wünschen sich die Kritiker auch für andere Teile der Verfassung.