Tunesien: Das politische Kräftespiel und der Auswanderungsdruck
Seite 4: Ökonomische und soziale Nöte: Verstärkter Auswanderungsdruck
- Tunesien: Das politische Kräftespiel und der Auswanderungsdruck
- Koalition aus moderaten Islamisten, Radikalislamisten und Glücksritterpartei?
- Radikalislamisten im Parlament
- Ökonomische und soziale Nöte: Verstärkter Auswanderungsdruck
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Auf ökonomischer und sozialer Ebene wird die nächste Regierung sich auf starke Anforderungen einstellen müssen. Denn die Situation ist für viele Tunesierinnen und Tunesier schwierig. Und keineswegs nur für die Landarbeiterinnen in den vom Mittelmeer entfernt gelegenen Regionen, deren Lage besonders dramatisch ist und erst jüngst wieder durch tragische Unfälle, die durch die Transportbedingungen ausgelöst werden, ins Licht der Öffentlichkeit rückte.
Auch arbeitslose Hochschulabgänger/innen bis hin zu Inhabern von Doktortiteln machen immer wieder auf ihre Lage aufmerksam. Vor diesem Hintergrund wächst, vor allem in der jungen Generation, verstärkt der Auswanderungsdruck. Unter dem wachsenden Druck des Nachbarlands Italien versuchen die tunesischen Behörden, solche Versuche zum "illegalen" Verlassen des Landes zu unterbinden. Dazu werden sie jedoch, neben repressiven Mitteln, den jüngeren Generationen verstärkt Perspektiven bieten müssen.
Wirtschaftlich ist Tunesien seit dem Umbruch von 2011, in dessen Gefolge manche Investitionen ausblieben oder nach Marokko umgelenkt wurden und der Massentourismus zurückging - zunächst infolge einer Verunsicherung bei europäischen Touristen, ab 2015 auch infolge dschihadistischer Terroranschläge in Tunis im März und in Sousse im Juni jenes Jahres - notorisch angeschlagen.
Am 23. Juli d.J. verkündete allerdings eine Tagung des Wirtschaftsverbands TAA in Tunis, man mache sich Hoffnungen darauf, beim Wettbewerb um das Anlocken ausländischer Investitionen könnte sich die Stellung Tunesien verbessern: Im Zuge der Veränderung der internationalen Arbeitsteilung würden manche Produktionszweige wieder nach Europa zurückverlagert statt weitgehend in China konzentriert. Und falls die Autoindustrie wieder verstärkt in Europa produziere, dann werde auch für Tunesien etwas dabei abfallen, da in dem Land viele Automobilzulieferbetriebe konzentriert sind und etwa Autositzbezüge oder Zündkerzen herstellen. Bis sich diese Hoffnung vielleicht erfüllt, bleibt es bei einer Krisensituation.
Auch die Corona-Pandemie ist nicht überwunden, zumal Tunesien aufgrund seiner spürbaren Abhängigkeit von der Tourismusindustrie am 27. Juni 2020 die Grenzen und Flughäfen wieder öffnete. Erstmals nach mehreren Wochen verzeichnete Tunesien daraufhin Anfang August erneut einen Corona-Toten, wobei deren Gesamtzahl mit 51 zum damaligen Zeitpunkt noch vergleichsweise niedrig lag; einen Monat später beträgt sie nun 84 - wobei diese Begrenzung aber wohl just der frühzeitigen Grenzschließung im März 2020 zu verdanken war.
Am 17./18. Juli d.J. begannen Einwohner im südtunesischen El-Kamour im Bezirk Tataouine eine Pipeline zu blockieren, durch die die Hälfte der Ölproduktion des Landes - das hauptsächlich für den Eigenbedarf Erdöl und Erdgas fördert, diese Rohstoff aber zum Teil auch importiert - läuft.
Die Protestierenden fordern die Einhaltung eines Abkommens mit der Regierung zur Einstellung lokaler Arbeitskräfte aus dem Jahr 2017, und konkret die Beschäftigung von 1.500 Menschen im Erdölsektor sowie von 500 weiteren in den öffentlichen Unternehmen, die den öffentlichen Raum in dieser staubtrockenen Zone bepflanzen und begrünen. Voraus gingen eine Sitzblockade zwischen dem 20. und 23. Juni, die durch die Polizei aufgelöst wurde, und öffentliche Selbstmorddrohungen in der zweiten Juliwoche.
Der Unmut im äußersten Süden Tunesiens ist Ausdruck des ökonomischen Abgehängtbleibens der peripheren Regionen des Landes. Ende Juli hatten sich die Proteste dermaßen ausgedehnt, dass das Energieministerium in einem als "dringlich" eingestuften Kommuniqué vom 30. Juli mitteilte, nunmehr drohe die Energieversorgung des Landes gefährdet zu werden. Aber das dauerte auch den Monat August hindurch weiterhin an, Verhandlungen mit der - damals kommissarisch die Amtsgeschäfte weiterführenden - Regierungen scheiterte, zunächst.
Ölfirmen drohten daraufhin Ende August, ihre Aktivität im Land aufgrund "höherer Gewalt" vorerst einzustellen. Alarmistische Presseberichten, gewiss in wirtschaftsfreundlichen Medien publiziert, warnten vor fatalen ökonomischen Auswirkungen. Die künftige neue Regierung wird hier alsbald eine Ausgleichslösung finden müssen.
In diesem konkreten Falle klagte allerdings der nach wie vor mitgliederstarke Gewerkschaftsdachverband UGTT die Partei En-Nahdha an, die Proteste anzufachen und die Ölversorgung zu "sabotieren". Dahinter steckt die Tatsache, dass diese sozialen Basisproteste außerhalb der Gewerkschaften verlaufen und von diesen nicht kontrolliert werden, aber auch, dass im sozial konservativen und unterentwickelten Süden des Landes stärker für die Islamisten gestimmt wird als in den urbanen Zentren.
Die UGTT - die durchaus auch als politischer Akteur zu betrachten ist - bleibt ferner aber auch mehrheitlich einem innenpolitischen Stabilitätsdenken verankert, das sie als Teil ihrer "Verantwortung" für die tunesische Demokratie aufgrund ihrer historischen Rolle betrachtet. Ihr linker Flügel, den es lange Zeit nicht zu vernachlässigen galt, steckt strategisch in der Defensive oder hat keine Antworten auf die Situation.
Am 14. Mai traf der amtierende UGTT-Generalsekretär Noureddine Taboubi mit Staatspräsident Kaïs Saïed zusammen. Beobachter kommentierten etwa in Jeune Afrique, beide strebten ein strategisches Bündnis an. Dabei geht es auch darum, En-Nahdha einzudämmen.
Daneben soll die "Koalition Karama" in Schach gehalten zu werden. Zwischen ihr und der UGTT dürfte kein Kompromiss möglich sein: Die radikalislamistische Partei brachte im April dieses Jahres einen Gesetzesvorschlag ins Parlament ein, um Verbote von Gewerkschaften zu ermöglichen. Einige Woche später kam es zu Zwischenfällen zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und einem Karama-Abgeordneten, infolge derer drei Gewerkschaftler festgenommen wurden.
Journalist in Haft
Auch gegen das Wiederaufleben politischer Repression, für die das Ben ‘Ali-Regime vor 2011 berüchtigt war, führt zu Protesten. Menschenrechtsvereinigungen in Tunesien, Frankreich und Belgien äußerten sich besorgt über die Verurteilung der Vorsitzenden der Kleinpartei Parti tunisien, Maryam Mnaouar, die infolge einer Untersuchung ihrer Anhänger über Folter auf Polizeiwachen und über die Verfolgung der Urheber kritischer Texte bei Facebook geschrieben hatte. Dafür erhielt sie erstinstanzlich zehn Monate Haft ohne Bewährung, ihr Berufungsverfahren begann am 30. Juli in Tunis.
Wesentlich prominenter ist der Journalist und Schriftsteller Taoufik Ben Brik, der auch international dadurch bekannt wurde, dass er im Jahr 2000 einen Hungerstreik und Tunis und später in Paris gegen das Ben Ali-Regime durchführte. Er erfuhr am 23. Juli dieses Jahres überraschend, dass er im April 2020 in Abwesenheit zu zwei Jahren Haft verurteilt worden war. Der Grund war, dass er zuvor öffentlich die "politische Instrumentalisierung der Justiz" kritisiert hatte - im Zusammenhang mit der Inhaftierung des damaligen Präsidentschaftskandidaten Karoui, den er unterstützt hatte, im Jahr 2019.
Ben Briks plötzliche Inhaftierung führte zu Protesten u.a. auch aus Algerien, Marokko und Frankreich. Der Journalist forderte einen neuen Prozess, der dann auch am 23. Juli durchgeführt wurde; in dessen Verlauf wurde die Strafe dann auf ein Jahr ohne Bewährung reduziert, für dieses wurde jedoch sofortiger Haftantritt angeordnet. Am 04. August wurde jedoch, mutmaßlich infolge der Proteste, seine Freilassung angeordnet. Es bleibt eine Warnung an alle, die aufgebehren könnten, im Raum stehen.