Tunesien: Gefahr durch Dschihadisten
Der Hintergrund zu den gestrigen gewalttätigen Auseinandersetzungen in der Banlieue von Tunis ist beunruhigend
Die Probleme, welche die als islamistisch bezeichnete Regierungspartei Tunesiens, En-Nahda, mit radikaleren ultrakonservativen islamistischen Gruppen schon hatte, sind seit gestern beträchtlich gewachsen. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen staatlichen Sicherheitstruppen und Demonstranten aus dem Lager der Salafisten in einem Vorort von Tunis hatten einen Toten unter den aufgebrachten Radikalen, also einen "Märtyrer", und mindestens 15 Verletzte zur Folge. Auch in Kairuan und in Ben Guerdane an der Grenze zu Libyen kam es zu gewalttätigen Demonstrationen. Der Hintergrund ist beunruhigend.
Zugespitzt geht es um die Frage, ob der Kurs, den die Organisation Ansar al-Scharia gegenüber der Regierung einschlägt, in Richtung Dschihad weist, im Kielwasser könnten dann auch andere salafistische Gruppen die Mittel ihrer Gegnerschaft zur oder Rivalität mit der Regierungspartei verschärfen und Gewaltanwendung aus ihrer Sicht legitimieren.
Auslöser für die gestrigen Ereignisse war ein Verbot der Regierung. Sie hatte der Organisation Ansar al-Scharia verboten, eine Konferenz im für die Ausbreitung des Islam in Nordafrika geschichts- und symbolträchtigen Ort Kairuan abzuhalten. Das Verbot, das erst Mitte vergangener Woche deutlich ausgesprochen wurde, hatte sich schon zuvor abgezeichnet. Präemptiv sprach der Führer von Ansar Al Scharia, Abu Iyad, am 12. Mai eine Kriegserklärung aus, deren Appell dann befolgt wurde.
Angesichts der vorhersehbaren Auseinandersetzungen mit der tunesischen Regierung und deren Sicherheitskräfte sprach Abu Iyad (der echte Name hinter dem Kriegsnamen lautet Seifallah Ben Hassine) davon, dass jedes Zurückweichen eine Niederlage sei, dass die Regierung - und nicht Ansar al-Scharia - die Konfrontation suchen würde - und dass die "tyrannische Regierung" wissen solle, dass "sie nicht in einen Krieg gegen die Jugend zieht, sondern gegen die Religion Allahs. Eine Religion, die nicht zu bezwingen ist".
Verbindungen zu al-Qaida und zur syrischen al-Nusra-Front
Die Ereignisse vom Sonntag bestätigten dann, dass sich die Anhänger bw. die Mitglieder seiner Organisation an die Order ihres Anführers hielten. Nachdem offensichtlich war, dass die tunesischen Sicherheitstruppen Kairuan auf eine Weise abgeschirmt hatten, dass sich dort nur wenig Gelegenheit zu einem ruhmreichen Scharmützel bot, rief Abu Iyad den Vorort Ettadhamen, an der westlichen Peripherie Tunis, zum "Hauptschlachtfeld" der Auseinandersetzung mit Polizeikräften, die durch Panzer verstärkt wurden, aus.
Der tunesische Ministerpräsident bezeichnete Ansar al-Scharia heute als "terroristische Organisation" mit Verbindungen zur al-Qaida im Maghreb. Tatsächlich wird die Organisation mit Abu Iyad von einem Mann angeführt, den man angesichts seiner Vergangenheit in terroristischen Gruppierungen getrost als einen zum Dschihad berufenen gewaltbereiten Radikalen bezeichnen kann. Mit eindeutigen Verbindungen zu al-Qaida und - angeblich - auch zu den syrischen Dschihadisten von der al-Nusra Front, die ihre Verbindung zu al-Qaida öffentlich gemacht hat.
Dass Abu Iyad sich mit dschihadistischen Gruppen eng verbunden fühlt, darauf macht er selbst in seiner o.g. Kriegserklärung aufmerksam; den USA ist er bekannt als einer der Anführer, die im September letzten Jahres die amerikanische Botschaft in Tunesien angriffen, aus Empörung über einen Film, der sich in billigem Spott über den Propheten und den Islam mokierte und der in Ausschnitten auf YouTube zu sehen war, was bekanntlich eine größere Empörungswelle auslöste (Banalisierung der Gewalt im Namen der Religion).
Von der Missionierung zum Dschihad?
Die andere Seite der Ansar al-Scharia, die 2011 gegründet wurde, als Abu Iyad durch eine Generalamnestie aus dem Gefängnis freikam, ist, dass sie durch ihr Netzwerk an sozialen Hilfen und Unterstützung an Popularität gewann. Ganz ähnlich der Hamas oder der Hisbullah, wenn auch mit anderer Ideologie, wie dies Aaron Y. Zelin vom amerikanischen Think Tank The Washington Institute dies beschreibt.
Der politisch brisante Punkt ist, dass die Organisation ihren Auftrag in Tunesien bislang als Missionsarbeit ("Dawa") begriff: die Islamisierung Tunesiens. Das allein hatte schon einem immer wieder aggressiv und brachial geführten Kulturkampf zur Folge, weswegen sich viele Tunesier große Sorgen über die Zukunft des Landes machen. Doch markieren Aufrufe zur Gewalt und eine öffentliche Erklärung der AQMI, wonach sie Ansar al-Scharia unterstützt, eine weitere Dimension des Kampfes, die mit Dschihad überschrieben wird und an schlimme Jahre in Algerien denken lässt.
Bisher hatte Ansar al-Scharia nur Dschihadisten, die außerhalb Tunesiens, in Syrien, Algerien und Mali agieren, unterstützt, sollte sie nun auch in Tunesien den aktiven, gewalttätigen Kampf gegen die Regierung weiter schüren, dann hat Nordafrika eine weitere größere Problemzone.
Eine islamistische Regierung mit Problemen
Der Regierung wird vorgeworfen, dass sie die Gefahr durch die radikalen Islamisten lange Zeit nicht nur nicht erkannt, sondern sogar befördert hat. Sie lies es geschehen, dass wahabische Prediger ohne Auflagen durch das Land reisten und radikale, ultrakonservative, steinzeitliche Ideen verbreiteten; sie behandelte Salafisten, die in Aufmärschen gegen die Ausstrahlung des Filmes "Persepolis" und anlässlich von Kunstaktionen ihre Gewaltbereitschaft untertrichen mit großer Milde (im Gegensatz zu jenen, die solche Filme der Öffentlichkeit zeigten, bzw. gegenüber Künstlern) - wohl aus Angst, die eigene Anhängerschaft an radikalere Gruppen zu verlieren und wahrscheinlich auch, weil die Grenzen zwischen den Gruppen, die die Religion zur weltanschaulichen verbindlichen Grundlage haben, fließend sind. Die En-Nahda verfuhr jedenfalls lange Zeit sehr milde mit den Salafisten, glasklare Abgrenzungen hat die Regierungspartei gescheut.
Das Verhältnis änderte sich peu à peu in den letzten Monaten und erfuhr vor kurzem einen Schock, als die tunesische Einheiten Waffen und Trainingslager im schwer zugänglichen Chaambi-Gebirge in Nordwesten des Landes fand. Damit war klar, dass terroristische Gruppen auch in Tunesien aktiv waren und verstrickt in Anschläge in Algerien und in Mali. Die Verbindungen von al-Qaida zu Gruppen wie Ansar al-Scharia wurden mit einem neuem, schärferen Interesse beäugt, zumal die Sicherheitskräfte bei ihrer Arbeit auf Minen getreten sind und es Schwerverletzte gab.