Tweaking the vote

Darf man überhaupt fragen, wie fair die Wahlen in den USA waren?

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Am Mittwoch Abend gab sich John Kerry offiziell geschlagen. Im Gegensatz zu 2000 lag diesmal der Demokrat relativ weit abgeschlagen. Damit würde jede weitere Beschäftigung mit Details zum Hergang der Wahlen Kerry und die Demokraten wie schlechte Verlierer aussehen lassen. Den Ausgang der Wahlen hat man jetzt zu akzeptieren. Das sieht jedenfalls Kerry so, aber nicht alle Demokraten ziehen mit.

Für die Alt-Europäer dürfte der Sieg Bushs eine positive Seite haben: Sie können immer noch Abstand zur Irakpolitik der USA bewahren. Hätte Kerry gewonnen, wäre es Schröder, Chirac & Co. schwergefallen, sich weiterhin aus dem Irak herauszuhalten. Das Resultat: Ausgerechnet die Kritiker dieser Politik würden die Folgen ausbaden müssen. Wie ich vor anderthalb Jahren befürchtet hatte: Die Welt würde für einen Krieg aufkommen müssen, den sie fast einstimmig nicht wollte.

Ähnlich hat es neulich Seymour Hersh, der die Gräueltaten in Abu-Ghraib bekannt machte, gegenüber der Süddeutschen Zeitung formuliert:

Manchmal bin ich so zynisch, mir zu sagen, dass es sogar besser wäre, wenn wir noch einmal vier Jahre Bush an der Macht hätten und er alles bis zum Äußersten triebe.

Nun müssen Bush & Co. selbst für ihre Entscheidungen gerade stehen - ein schwacher Trost, aber immerhin.

Meine Freunde aus den USA sagten mir alle: Anybody But Bush, er ist viel schlimmer als Kerry; schau mal, wie viele arme Amerikaner unter dieser Politik leiden. Ganz zu schweigen von den Nicht-Amerikanern, die gar nicht gegen ihn wählen können, fügte ich hinzu. Denn immerhin dürfen wir Amerikaner jeden Politiker abwählen, und wenn so viele von uns unter seiner Politik leiden, kommt es auch zu einer Abwahl - sofern die Amerikaner informiert und die Wahlen fair sind.

Sind die Wahlen überhaupt fair?

Dass die Amerikaner nicht gut informiert sind, geht alleine daraus hervor, dass Michael Moores Doku "Fahrenheit 9/11" nicht als kalter Kaffee durchging, sondern als Sensation. Lauter unbekannte Tatsachen, die jeder schon längst hätte wissen können - das wundert niemanden mehr als Moore selbst. Deshalb schimpfen viele auf die Medien in den USA. Und deshalb sprach Wim Wenders gleich von Fox News, als er vor einigen Tagen bei Christiansen von "totalitären" Tendenzen in den USA sprach.

Die Deutschen tun so was leicht als eine Übertreibung ab, und Wenders hat viel Kritik für seine Aussage abbekommen. Doch welcher Deutsche hat - wie Wenders - die Medien in den USA nicht nur kurz aus dem Urlaub mitbekommen, sondern wurde jahrelang damit berieselt (Mehr Hitze als Licht)?

Und ob die Wahlen fair waren - es käme einem Bürgerkrieg nahe, dieser Frage nachzugehen. Die Amerikaner sind im Augenblick ein zutiefst zerrissenes Volk. In einem Land, wo es schon immer heißt, man redet nicht über Religion und Politik, spaltet Bush die Nation in zwei unversöhnliche Lager.

Deshalb hat Kerry selbst so schnell seine Niederlage öffentlich eingestanden. Er rief seine Leute dazu auf, die Einheit der Nation zu bewahren. Die Stimmung ist vergiftet.

Aber hat Bush nicht deutlich mit 51% zu 49% gewonnen? Hat er nicht Millionen Stimmen mehr als Kerry bekommen? Offiziell ja. Aber das bedeutet nicht, dass die Wahlen fair waren, sondern nur, dass der Abstand zwischen Bush und Kerry es den Republikanern leicht machen würde, eine Untersuchung der Wahlen als übertrieben und unnötig abzutun - so geschieht es bisher mit allen Meldungen über Computerfehler, denn am Ende würden sie nicht zu einem Wahlsieg von Kerry führen.

Komisch dabei ist nur, dass immer von mehr Stimmen für Bush die Rede ist. Anscheinend hat Kerry nirgendwo wegen eines technischen Fehlers zu viele Stimmen bekommen. Deshalb haben sich nun drei Demokraten für eine Untersuchung der Fälle, in denen Wahlcomputer Bush zu viele Stimmen zugesprochen haben, ausgesprochen.

The winner takes it all

Dabei gab es neben solchen "Pannen" mit den Wahlcomputern auch viele... sagen wir einmal: undemokratische Tendenzen bei diesen Wahlen:

  1. Rund 30% der abgegeben Stimmen können nicht nachgezählt werden, da sie papierlos waren
  2. Bürger wurden eingeschüchtert und getäuscht, insbesondere diejenigen, die vermutlich demokratisch wählen
  3. In armen (also eher demokratischen) Gegenden gab es weniger Wahlmaschinen und deshalb längere Schlangen, was gerade die "working poor" davon abhält, an einem Arbeitstag wählen zu gehen
  4. Die Republikaner schickten unter dem Programm ballot integrity ihre eigenen "Beobachter" an die Urnen, um zu überprüfen, ob alle Wähler wirklich registriert waren - vorwiegend in Gebieten mit demokratischen Tendenzen wie in Teilen Ohios
  5. Die Wahlbezirke werden sowieso willkürlich festgelegt, damit der Amtsinhaber wieder gewinnt; just im April hat das US-Verfassungsgericht entschieden, dass diese Praxis ("Gerrymandering" genannt) nicht illegal ist (Telepolis berichtete Ende 2003 über den Anfang des Prozesses: Gerrymandering - Wahlbezirke mit Tentakeln)
  6. Die Bedingungen für die Wahlen sind von county zu county unterschiedlich, u.v.m
Diese Landkarte der USA zeigt, wie die 6 verschiedene Wahlmethoden über das Land verteilt sind. Allerdings kommen noch hinzu: unterschiedliche Registrierungsbedingungen, unterschiedliche Ausweispflichten, usw. Deshalb sagte ein Wahlbeobachter, es habe nicht eine Präsidentschaftswahl stattgefunden, sondern es seien mehr als 13.000 gewesen: "The decentralized system means that rules vary widely county by county, so there are actually more than 13,000 elections today." (Quelle für die Karte

Keine andere Demokratie der Erde könnte sich eine solche Farce als "Wahltag" leisten. Wenn Kerry nun auf eine Überprüfung der Wahlen gepocht hätte, wäre es ihm sicherlich nicht gelungen, ins Weisse Haus einzuziehen, aber er hätte den Amerikanern und der ganzen Welt vorgeführt, was die Präsidentschaftswahlen in den USA für ein Fiasko sind.

Eventuell wäre dabei auch zum Vorschein gekommen, wie stark der Rassismus in den USA die Demokratie verdrängt. Der Journalist Greg Palast berichtet von einem Gespräch mit dem republikanischen Bezirksdirektor in einem Gebiet mit vielen Minderheiten (die ja tendenziell demokratisch wählen). Palast wollte wissen, warum so viele Wahlzettel dort immer wieder für ungültig erklärt werden. Der Bezirksdirektor meinte, die Hispanics könnten sich einfach nicht für einen Kandidaten festlegen und würden zu oft ihre Meinung an der Urne ändern. Palast bemerkt dazu sarkastisch:

Komisch, dass diese dunkelhäutigen Menschen durch die Wüste fahren, um ihre Unentschlossenheit an der Wahlurne einzutragen.

Das Ende der Welt

Kerry hat aber nicht die USA vor einer Blamage bewahrt, sondern höchstens sich selbst und seine Partei, denn eine andere Blamage ist schon perfekt: nicht wegen der Wahlen per se, sondern wegen der US-Politik. Nur ist nun Bush & Co. für diese Blamage verantwortlich, und sie wird vor allem im Ausland verzeichnet.

Wer sich in den USA nicht für die Welt interessiert, wird wahrscheinlich gar nicht mitbekommen, dass große Teile der Welt gerade aufgegeben haben, einen Unterschied zwischen dem sonst so beliebten amerikanischen Volk und der als arrogant und repressiv empfundenen US-Politik des nun wiedergewählten Präsidenten zu machen. Die Jakarta Times schrieb hierzu:

It is incomprehensible to many outside the United States how such a developed society could still trust a man who waged war under false pretenses.

Und nicht nur der Krieg, nicht nur die Außenpolitik ist unhaltbar, sondern auch die Innenpolitik. Deshalb ist es sehr schade, dass Wenders bei seiner Beschreibung der Bush-Regierung als einer totalitären Regierung nur Fox News eingefallen ist, denn es ließen sich genug Praktiken finden, die an die DDR oder das dritte Reich erinnern:

  1. Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmung von PCs, usw. auf bloßen, unbegründeten Verdacht hin, und vor allem ohne dass der betroffene Bürger informiert werden muss (man stelle sich vor, es wird eingebrochen, und die Polizei war's!)
  2. Flugverbotslisten, auf denen unschuldige Bürger stehen
  3. Alle, die politisch aktiv sind, können zu Terroristen deklariert werden, was deren Rechte komplett aufhebt - sie können auf unbestimmte Zeit verhaftet werden, ohne dass ihnen was vorgeworfen oder nachgewiesen wird, usw.

Dabei trifft totalitär nicht den Kern der Sache. Kein Regime gleich einem anderen im Detail. Im Gegensatz zur DDR und den Nazis schöpfen Bush & Co. ihre Kraft aus radikalen Fundamentalisten, die glauben, dass das Ende der Welt und die Wiederkehr Jesu nahen. Diese "Wiedergeborenen" führen dafür sogar einen sogenannten "rapture index", der uns sagt, wie nah das Ende ist. Unter Punkt 34 stand zur Zeit der Wahlen (und steht vielleicht noch) auf der Webseite Rapture Ready:

The Antichrist: The EU is looking [for] a new President.

Wer wird Notiz davon nehmen, dass diese Fundamentalisten eine Minderheit in den USA sind? Dass manche Stadtteile von New York City - "Home of 9/11" - zu 5/6 für Kerry gestimmt haben? Und selbst in Washington, DC, wird Bush die nächsten vier Jahre im feindlichen Lager sitzen: Ganze 89,5% der Bürger der US-Hauptstadt haben für Kerry gestimmt.

Fast so viele Menschen stimmten gegen Bush als für ihn

Indem ich sage, es gibt noch viele "gute" Amerikaner, die niemals hinter Bush standen und ihn ohne Vorbehalte verurteilen, komme ich mir vor wie einer, der vor rund 70 Jahren sagen wollte, die Deutschen sind nicht alle schlecht. Ja, sie standen in Massen hinter ihrem Führer, der aber nie eine Mehrheit in freien Wahlen gewann.

Damit will ich Hitler und Bush, die Nazis und die Republikaner nicht gleichsetzen. In den 1930ern konnte man sich kaum vorstellen, wozu ein Industriestaat in der Lage war, so schnell änderte sich die Welt, und mit den neuen Medien wussten die meisten Menschen auch nicht umzugehen. Die Nazis konnten es sich deshalb erlauben, plump zu sein. 1938 sollen 99,7% der wahlberechtigten Österreicher für den "Anschluss" Österreichs gestimmt haben.

Die Republikaner sind dagegen nicht plump, sondern gewieft. Das müssen sie auch sein. Hätte Bush auch nur 60% der Stimmen gewonnen, die Überraschung wäre groß gewesen. Die Republikaner wissen, was man sich erlauben kann. Sie setzen sich seit Jahrzehnten dafür ein, dass der Urnengang unnötig kompliziert wird. Vielerorts ist versucht worden, die Wahlregistrierung gleich in den Antrag für einen neuen Führerschein (der ja in den USA die Funktion des Personalausweises hat) nach einem Umzug einzubinden. Die Republikaner sind immer dagegen. Sie wissen, dass sie eine Minderheit vertreten. Es sollen deshalb so wenige wie möglich wählen (können). Und sie wissen, dass sie keine 99,7% brauchen - 51% sind genug.

Ich weiß, ich drifte mit dem letzten Satz endgültig in das Reich der Verschwörungsspinner. Aber ich mache dies aus Hoffnung. Ich kann nicht glauben, dass Bush faire Wahlen gewinnen kann. Und wie John Kerry weiß: Es geht vielen so. Das Internet wimmelt von Blogs und Foren, wo verzweifelte Amerikaner versuchen, einen Reim auf die offiziellen Berichte zu machen - nicht immer mit Erfolg (Wahlcomputer bleiben unter Verdacht).

Screenshot von CNN in der Nacht nach der Präsidentschaftswahl. 1963 Wähler wurden bei den sogenannten "exit polls" befragt, wie sie gestimmt hatten, d.h. die Wähler wurden beim Verlassen des Wahllokals gefragt, für wen sie gestimmt hatten. Hier führt Kerry in Ohio.
80 Minuten und 57 befragte Wähler später führt Bush

Eine genauere Untersuchung der Zahlen zeigt jedoch, dass sie nicht aufgehen. Das Internet wimmelt mittlerweile von solchen Fällen. Offiziell heißt es, man habe anfangs zu viele Minderheiten und Frauen befragt, und der Überschuss musste herausgefiltert werden.

Wenn Kerry oder andere anfangen würden, diese Wahl in Frage zu stellen, fürchte ich zumindest, dass wirklich zu viele Ungereimtheiten ans Licht kommen würden. Nicht alle amerikanische Bush-Gegner sehen das aber so. In der englischen Ausgabe von Spiegel Online meint eine Amerikanerin, sie könne in den nächsten 4 Jahren nicht mehr heimgehen:

If there is enough support for someone like Bush to get re-elected, I simply do not belong in America.

Aber wo gehört unsereins denn hin? In acht Jahren werde ich länger in Deutschland als in den USA gelebt haben. Aber ich hege keine Hoffnung, dass ich irgendwann hier als Einheimischer behandelt werde - dafür wird nicht zuletzt die Vorstellung vom "deutschem Blut" (Blutgruppe D?) sorgen.

Im Gegensatz zu meiner Landsmännin beim Spiegel klammere ich mich deshalb an der verzweifelten Hoffnung fest, dass um ein paar Prozentpunkte getrickst wurde - dass eben keine Mehrheit meiner Landsleute hinter Bush steht. Sonst müsste ich auch sagen wie Telepolis-Kollege John Horvath schrieb (US Elections on Day of the Dead):

... toward the very end I even became convinced that perhaps it would be best if Bush won -- not because he is the better man, but because that's what America deserves.

Wahrscheinlich werde ich den Rest meines Lebens glücklich in Deutschland verbringen, aber dazu brauche ich zumindest noch die Möglichkeit der Rückkehr in meine Heimat - die alte, die man noch mögen kann. Das Amerika, in dem man nicht über Religion und Politik redet, weil man Besseres zu tun hat.