Two Zombies Later
Exotica - Vom Web und für das Web
Vom Web und für das Web. Vielleicht ist das die kürzeste Formel, auf die sich die Geschichte des Doppel-Albums 'Two Zombies Later - Strange and unusual music from the Exotica Mailing List' reduzieren lässt. Vom Web, weil sich die Macher ohne das Web nie kennen gelernt hätten; und für das Web, weil man die Compilation drei Monate lang gratis runterladen kann. Und zwar nicht nur die einunddreißig Tracks, sondern auch zwei Cover, Booklets und Etiketten für die CDs. Das Auge hört schließlich mit.
Das Besondere an dieser Veröffentlichung ist weniger ihre freie Verfügbarkeit - obwohl genau diese in Zeiten des Copyright-Wahns fast schon eine Ausnahmeerscheinung ist -, oder ihre Publikation auf einem MP3-Label, sondern ihre Entstehungsgeschichte. Die Urheber sind nämlich allesamt Mitglieder der Exotica Mailing List. Dies ist zwar nicht die älteste, aber möglicherweise eine der distinguiertesten Mailing-Listen, die man im Web finden kann. Ein zugegebenermaßen elitärer Zusammenschluss von Musik-Liebhabern und Künstlern, die seit rund zehn Jahren jenseits des Mainstreams nach Perlen der Popkultur fischen.
Bei Exotica denken viele erst mal an Sex. Selbst wenn sie den gleichnamigen Film von Atom Egoyan nicht gesehen haben. Klingt ja auch ein bisschen wie Erotica. Andererseits ist die Assoziation gar nicht so verfehlt. Weil Lust (am Musikhören), Begehren (nach Raritäten) und leicht bekleidete Frauenzimmer (auf Plattencovern) durchaus eine Rolle spielen im Universum der Exotica Mailing List. Im Zentrum des Interesses steht jedoch die Liebe zur Musik. Genauer gesagt: die Liebe zu exotischer Musik, zu englisch: exotica. Benannt nach dem legendären Album von Martin Denny aus dem Jahre 1956, das brasilianische Jazz-Rhythmen mit Dschungel-Geräuschen kombinierte.
Noch heute verstehen Puristen unter Exotica vornehmlich jene Musikrichtung der 50er bis 60er Jahre, die exotische Klänge mit Jazz-Elementen verbindet. Zu den berühmtesten Vertretern zählen Martin Denny, Les Baxter und Arthur Lyman. Im Grunde ging es um die Re-Kreation primitiver Klangwelten mit den Mitteln des weißen Mannes. Das Ergebnis war ein betörender Mix aus hypnotischen Rhythmen, Naturgeräuschen, Original-Instrumenten und schwülstigen Hollywood-Themen, der den Hörer weit weit weg beamte in ein Reich der Suggestion. Gleichzeitig - oft pauschal in einen Topf mit Exotica-Komponisten geworfen - kultivierten Pioniere der Space Age Bachelor Pad Music (auch: Space Age Pop) wie Juan Garcia Esquivel dramatische Dynamik-Kontraste, wilde Stereo-Effekte und bahnbrechende Orchestrierungen, während Musiker wie Jean-Jacques Perrey und Gershon Kingsley erstmalig die vermeintlich 'kalte' Elektronik der neuesten Instrumentengeneration - also Moog-Synthesizer - mit heiteren Songstrukturen fusionierten. Mittlerweile steht der Begriff Exotica für ein breites Spektrum bizarrer Musik - wofür sich in Exotica-Kreisen auch die Formulierung 'incredibly strange music' eingebürgert hat. Das jetzt veröffentlichte Doppel-Album 'Two Zombies Later - Strange and unusual music from the Exotica Mailing List' bringt Kennern und Neulingen zu Ohren, was man sich unter neuer Exotica (New Exotica) vorzustellen hat: die gelungene Mischung aus Exotik und Elektronik. Außenstehende wiederum tendieren dazu, all diese Genres dem Bereich Easy Listening oder Lounge zuzuordnen - und das, obwohl Exotica durchaus nicht zu verwechseln ist mit weichgespülter Fahrstuhl-Muzak.
Zu den diskutierten Themen der Exotica Mailing List gehören jedoch nicht nur Genre-Fragen und die Bewertung einzelner Musiker und Stilrichtungen, sondern auch alles, was mit der Beschaffung, Pflege und Vermehrung von Tonträgern zusammenhängt. Berichte über wundersame Flohmarkt-Funde, endlose Fahrten in die Peripherie amerikanischer Großstädte auf der Jagd nach bislang ungeplünderten Thriftshops und Probleme beim Bändigen anschwellender Plattenregale füllen das Archiv der Exotica Mailing List.
Dass die Passion für Platten auch ihre Schattenseiten haben kann, weiß keiner besser als Alan Zweig, der das Vorwort zu 'Two Zombies Later' verfasst hat. Sein Dokumentar-Film Vinyl ist ein beklemmendes Portrait über Plattensammler, deren soziale Beziehungen gelinde gesagt gestört sind. Jedenfalls wirkt Rob Fleming, der Ich-Erzähler aus Nick Hornbys 'High Fidelity' neben einigen der von Zweig portraitierten Vinyl-Junkies wie ein Gelegenheits-Konsument.
Weltweit hat die Exotica Mailing List ein paar hundert Mitglieder, die durchaus nicht nur am Computer oder vor ihrem Plattenregal sitzen. So hat das deutsche Listen-Mitglied Moritz R den Kanadier Alan Zweig vor ein paar Jahren am Rande des Filmfests in Toronto, Kanada, getroffen. Und die Radiomacher Cheryl Shinfield und Brian Karasick aus Montreal in ihrer sonntäglichen Show Space Bop besucht. Für den Plan-Musiker und Maler - der nicht nur einen Track, sondern auch den Titel und das Artwork der Kompilation beigesteuert hat - war und ist die Exotica Mailing List eine der prägendsten Erfahrungen mit dem Web: "Stell dir vor, es gibt weltweit dreihundert Menschen, die deinen Musik-Geschmack teilen. Die Wahrscheinlichkeit, ihnen jemals zu begegnen, ist durch das Internet extrem angestiegen." Für ihn und die anderen Mitglieder der Exotica Mailing List bietet das Internet ideale Arbeits-Bedingungen. Schließlich ist Musik für die Mehrzahl der Mitglieder mehr als nur ein Hobby.
Studiert man die Liste der auf der aktuellen Kompilation vertretenen Künstler, die wie gesagt allesamt Mitglieder der Exotica Mailing List sind, wird schnell klar: Im Grunde war es nur eine Frage der Zeit, bis die Exotica Mailing List selbst zum Urheber wurde. Zu den Mitgliedern der Liste gehören nämlich unter anderem: Brother Cleve (Combustible Edison-Keyboarder und Esquivel-Protegé), Dana Countryman (Gründer des "Cool & Strange Music"-Magazins), Der Plan (80er Underground-Pop-Innovatoren, kürzlich reformiert), Don Tiki (Hawaiianische Erben des ursprünglichen Exotica-Sounds und Martin Denny-Protegés), Skip Heller (Yma Sumac-Begleitmusiker und Les Baxter-Protegé), Tipsy (Meister des surrealen Looping/Sampling/Recycling der erwähnten Exotica-Größen).
Initiator der aktuellen Publikation ist Otis Fodder aus Seattle, der bereits mit seinem 365-Day-Project Aufsehen erregt hat: seit dem 1. Januar 2003 stellt er jeden Tag einen Song inklusive Cover zum Download zur Verfügung - liebevoll aufbereitet und mit einem eindeutigen Anti-RIAA/MPAA-Logo auf der Seite. Aus naheliegenden Gründen erscheint die Doppel-CD auf seinem neu gegründeten Online-Label Comfort Stand, weitere sollen folgen. Allein die Geschwindigkeit, mit der das Projekt realisiert wurde, ist atemberaubend: im Juni 2003 schlug Fodder vor, das kreative Potential der Liste zu mobilisieren, und keine drei Monate später waren bereits 31 Tracks entstanden - eigens erschaffen für diese Compilation.
Dass die Kompilation via Web frei zugänglich sein sollte, stand von vornherein fest. Die Künstler wollen nicht nur einen möglichst großen Kreis an Zuhörern erreichen, sondern auch ein Zeichen setzen: Dass es bei Musik nicht immer nur ums Geld geht. Dass Musik viel mit Freundschaft zu tun hat. Und mit Kennerschaft. Und dass man all das in der Exotica Mailing List finden kann.
Ob der freiwillige Verzicht auf kommerzielle Rechte Ungemach jeglicher Art verhindert, wird sich zeigen. Und selbst, wenn rechtlich alles glatt läuft, lauern web-interne Gefahren. Frühere Download-Angebote von Listenmitgliedern scheiterten an ihrer Popularität. Beziehungsweise daran, dass zu oft auf die jeweilige Seite zugegriffen wurde. Aufgeschreckt durch den anschwellenden Datenverkehr wurden die Provider ungemütlich und bereiteten dem Musik-Spaß ein verfrühtes Ende. Zum Glück hat Otis Fodder vorgesorgt: er lässt seine Seite von mehreren Providern co-hosten. Gleichzeitig sucht er nach weiteren Providern. Sicher ist sicher.