Typisch französisch? Typisch deutsch?

Von Macht, Mitsprache und Gegenmacht: Ein Vergleich der Streiks in Frankreich und Deutschland

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Der Anfang vom Ende des „unbefristeten“ französischen Eisenbahnerstreiks ist, nach bisher achttägiger Dauer, mutmaßlich am Donnerstag früh eingeläutet worden. Am Vorabend hatten 50 von rund 100 Vollversammlungen der Streikenden in Bahnhöfen und besetzten Bahndepots, die am Mittwoch abgehalten wurden, einer vorläufigen Wiederaufnahme der Arbeit zugestimmt. Auch wenn es mehrere Tage dauern wird, bis der Eisenbahnverkehr wieder halbwegs den Normalzustand erreichen wird, schien damit eine wichtige Wende herbeigeführt zu sein.

Die CGT, mit rund 40 Prozent der Stimmen bei den letzten Personalratswahlen stärkste Gewerkschaftsorganisation bei den französischen Eisenbahnern, rief am Mittwoch Abend nicht zur Fortführung des Ausstands auf. Dies erklärte der Generalsekretär der Eisenbahner-Sektion der CGT, Didier Le Reste, der zugleich darauf hinwies, dass die Vollversammlungen der Streikenden souverän über die Fortsetzung oder Aussetzung des Arbeitskampfs entschieden.

Jeder einzelne Streiktag wird aus der eigenen Tasche bezahlt

Ohne das Gewicht der CGT als solcher wird es den Streikteilnehmern jedoch schwer fallen, ihren Ausstand fortzusetzen, da die Gesamtbeteiligung ohnehin in den letzten Tagen allmählich abzubröckeln begann. Insbesondere infolge der wachsenden Lohnverluste, da es in Frankreich keine Bezahlung der Arbeitskampftage durch gewerkschaftlichen Streikkassen gibt, sondern die abhängig Beschäftigten jeden einzelnen Streiktag aus ihrer eigenen Tasche bezahlen.

Zu Anfang der Woche waren laut Bahndirektion knapp 30 Prozent der Gesamtzahl ihrer Beschäftigten im Ausstand, wobei diese Durchschnittsziffern jedoch täuschen und besser eine Aufschlüsselung nach Beschäftigtenkategorien vorgenommen werden müsste. Denn für die Auswirkungen eines Streiks ist das fahrende Personal von höherer Bedeutung als die Schalterbediensteten, und auch die höheren und leitenden Angestellten in den Büros sind in diese Gesamtziffer miteinbezogen. Zumindest vorübergehend ist daher, ab Ende dieser Woche, mit einem Abflauen des Arbeitskampfs zu rechnen.

Formelkompromiss

Möglich geworden war dies dadurch, dass am Mittwoch früh Verhandlungen „ohne Vorbedingungen“ bei der Bahngesellschaft SNCF eröffnet worden waren, denen die Regierung – nachdem sie anfänglich darauf beharrt hatte, dass der Rahmen der Verhandlungsspielräume von ihr abgesteckt worden sei und nur innerhalb davon Vereinbarungen getroffen werden könnten – im Prinzip auch zustimmte. Dabei handelt es sich zwar vorwiegend um Rhetorik, denn das konservative Regierungslager ist zugleich äußerst fest entschlossen, an den Kernsätzen der geplanten „Reform“ und insbesondere an der Verlängerung der Lebensarbeitszeiten (auch für die Eisenbahner und andere Beschäftigungsgruppen) nicht rütteln zu lassen.

Denkbar geworden ist nun aber zumindest ein Formelkompromiss, dem zufolge die Regierung zwar einen Sieg in diesem Kernpunkt ihres Anliegens vermelden kann - aber zugleich durch finanzielle Kompensationen und Anrechnungsmodalitäten die konkreten Auswirkungen auf die Eisenbahner begrenzt bleiben.

Konturen eines sich abzeichnenden Kompromisses

Zumindest in den kommenden Jahren würden demnach Anhebungen des Grundlohns der Eisenbahner dafür sorgen, dass die „Strafbeträge“ für fehlende Beitragsjahre zur Rentenkasse im Moment der Pensionierung genügend abgefedert werden, um real weiterhin eine relativ frühe Verrentung zu ermöglichen. Denkbar wird dies etwa durch die Einbeziehung von Nacht-, Wochenend- und anderen Zuschlägen, die bisher nicht in die Pension der Eisenbahner mit einberechnet wurden, doch einen Gutteil ihrer Entlohnung ausmachen, sowie einen Zuschlag von maximal 5 Prozent – die Rede ist im Moment eher von 2,5 Prozent - auf den Grundlohn in den letzten Monaten vor der Pensionierung.

Da die Pension der Eisenbahner auf der Grundlage der letzten sechs Monate vor der Verrentung kalkuliert wird, hätte auch eine solche zeitlich begrenzte Lohnerhöhung beträchtliche Auswirkungen auf die Rentenhöhe. Dieser Anrechnungsmodus ist relativ günstig, da die Pensionen für die Privatbeschäftigten früher auf der Basis des Durchschnittslohns der letzten 10 Jahre vor dem Abgang in die Renten berechnet wurden, seit einer „Rentenreform“ von 2003 jetzt aber sogar auf der Grundlage des Einkommensdurchschnitts in den vorausgegangenen 25 Jahre – was eine klare Absenkung bedeutet. Dennoch sind die Pensionen der Eisenbahner, bei gleichem Qualifikationsniveau, bislang um durchschnittlich 9 Prozent niedriger als jene der Privatbeschäftigten. Und dies, eben weil bislang die Lohnzuschläge aus dem Kalkül außen vor blieben, obwohl sie einen wichtigen Bestandteil des Eisenbahnerlohns ausmachen. Das könnte sich nun ändern.

Allerdings fordern die Regierung sowie die Bahndirektion im Gegenzug ein Ende der Anpassung der Pensionen an die durchschnittliche Lohnentwicklung zugunsten ihrer Anpassung an die offizielle statistische Preisentwicklung. Dies käme wiederum einer klaren Absenkung im Laufe eines Rentnerdaseins gleich. Auch haben sie gestern Pläne für eine drastische Verschlechterung der Lohnbedingungen für alle künftig neu eingestellten Bahnbeschäftigten auf den Tisch gelegt. Verhandlungsbedarf wird es also noch genügend geben.

Drohungen

Der Zeitrahmen der Gespräche ist nun auf einen Monat angesetzt worden, bis zum 20. Dezember. Im Falle eines Scheitern des Verhandlungen droht die Regierung damit, einseitig die Bestimmungen der „Rentenreform“ für die Transportbediensteten bei Eisenbahn und den öffentlichen Nahverkehrsbetrieben festzulegen. Für denselben Fall hat die Transportföderation des Gewerkschaftsbunds CFDT (FGTE-CFDT) bereits eine Streikwarnung für den 20. Dezember hinterlegt.

Im Gegensatz zur Privatindustrie und dem privaten Dienstleistungssektor müssen Streiks in Frankreich in den öffentlichen Diensten fünf Tage vor ihrem Beginn durch Hinterlegen einer Arbeitskampfwarnung angemeldet werden. Dies war im Jahr 1963 beschlossen worden, nachdem ein unerwartet ausgebrochener Métro-Streik spektakuläre Ergebnisse hervorgerufen hatte.

Neben der Eisenbahn betrifft die geplante „Reform“ auch die Energieversorgungsunternehmen EDF und GDF – öffentliche Unternehmen, deren zweitgenanntes sich aber trotz früherer anderslautender Ankündigungen der Regierung in der Privatisierung befindet – sowie die Nahverkehrsbetriebe - insbesondere die im Raum Paris tätige RATP (Régie autonome des transports parisiens).

Am kommenden Montag sollen die Verhandlungen beginnen. Der Métro- und Busverkehr war am Donnerstag noch immer stark beeinträchtigt. Nur circa jeder dritte bis vierte Métrozug verkehrte - am neunten Tag in Folge, wobei große Unterschiede zwischen den 14 Einzellinien der Pariser Métro und den verschiedenen Buslinien bestanden, je nach gewerkschaftlichem Organisationsgrad sowie dominierender gewerkschaftlicher Couleur der jeweils dort Beschäftigten. Der Arbeitskampf bei der RATP hatte am vergangenen Mittwoch früh, wenige Stunden nach dem Ausstand der Eisenbahner ab dem Abend des 13. November, begonnen. Bei den Pariser Nahverkehrsbetrieben wies die CGT am Mittwoch Abend darauf hin, dass die Vollversammlungen souverän entschieden, und bezog insofern nicht offen Position zur Frage einer Beendigung des Streiks.

Unterschiede in der Streikultur

Das bisherige Szenario des Streiks erscheint als nicht untypisch für französische Verhältnisse, wo Streikbewegungen in der Regel anders ablaufen als in den deutschsprachigen Ländern. Insbesondere ist auffällig, dass ein Arbeitskampf durchgeführt wird und notwendig ist, um überhaupt das Kräfteverhältnis herzustellen, das es den Beschäftigtenorganisationen erlauben wird bzw. soll, am Verhandlungstisch halbwegs substanzielle Zugeständnisse herauszuholen.

Anders als etwa in der Bundesrepublik, wo die Aushandlung von Kompromissen zwischen den „Tarifspezialisten“ beider Seiten – Arbeitgeber und Gewerkschaften – zunächst „Expertensache“ ist und lange Zeit über bleibt. Erst wenn am Verhandlungstisch keinerlei Einigung erzielt werden kann oder die Gespräche blockiert sind, ruft das Gewerkschaftslager in der Regel als „ultimatio ratio“ („letztes Mittel“, so die Formulierung der gültigen Rechtsprechung) ihre Basis zu Aktionen auf.

Die Unterschiede bleiben freilich nicht dabei stehen, da diese unterschiedliche „Streikkultur“ auch andere wesentliche Unterschiede automatisch impliziert. Insbesondere auch die Tatsache, dass die französischen Gewerkschaftsapparate zumindest über lange Phasen hinweg real gar nicht „Herren der Lage“ sind, sondern die Beschäftigten an der Basis in hohem Maße selbst die Initiative besitzen. Wie es auch jüngst wieder der Hinweis der CGT auf die Souveränität der Vollversammlungen beweist. Auch wenn dieser ausdrücklich platzierte Verweis zugleich offenkundig taktischer Natur ist – denn wenn die CGT einen Streik abwürgen oder umgekehrt anfachen möchte, wissen ihre Funktionsträger in aller Regel, wie sie sich in den Vollversammlungen jeweils zu verhalten haben. Selbst dann, wenn sie es nicht offen ankündigen.

Der Verweis mit dem Daumen über die Schulter auf die Vollversammlungen, die erst noch durch die CGT von der Qualität eines (vorläufigen) Verhandlungsergebnisses „überzeugt“ werden müssen, ist insofern auch ein Mittel, um auf den Fortgang der Gespräche einzuwirken. Freilich stimmt es zugleich auch, dass im aktuellen Konflikt erhebliche Unterschiede in der Einschätzung der Spielräume etwa zwischen, dem Apparat der CGT und ihrer Basis, sowie den Teilnehmern an den Streikversammlungen, bestehen. Doch dazu später mehr.

Unterschiedlich verlaufende Sozialgeschichte

Woher rühren aber diese, allem Anschein nach strukturellen, Unterschiede? Angeboren, gar „im Blut liegend“ sind sie selbstverständlich nicht. Es handelt sich vielmehr um den Ausdruck, um die Widerspiegelung einer Sozialgeschichte, die in den jeweiligen Ländern unterschiedlich abgelaufen ist. Der in deutschen Medien doch recht häufig platzierte Hinweis auf die (angeborene?) „Kultur“ oder auch „Mentalität“ der Franzosen – in den 1970er Jahren waren es noch die, damals als besonders streikfreudig geltenden, Italiener - hilft da nicht weiter. Ein materialistisch fundierter Blick auf die Geschichte schon eher.

Zunächst ist es banal, aber eben auch richtig, darauf hinzuweisen, dass sich das (wirtschaftlich dominierende) Bürgertum bzw. die Bourgeoisie im französischen Falle selbst anders konstituiert hat, als dies in Deutschland oder Österreich zu beobachten war. Die vorherige feudale bzw. monarchische Macht schüttelte die Bourgeoisie, sich selbst zur führenden gesellschaftlichen Kraft konstituierend, in Frankreich aus eigener Initiative ab. Dazu hat es das wirtschaftlich tätige Bürgertum in Deutschland zur selben Zeit nicht gebracht, jedenfalls nicht auf erfolgreiche Weise: Es gab einen breit angelegten Versuch dazu in den Jahren 1848/49, der aber blutig scheiterte.

Die feudalen und monarchischen Mächte waren in deutschen Landen noch zu stark, und vor allem wich ein Teil des Bürgertums zum damaligen Zeitpunkt vor der eigenen historischen Kühnheit zurück. Unter anderem auch deshalb, weil in Frankreich in der im Februar 1848 begonnenen Revolution bereits sozialistische Forderungen und Elemente einer Selbsttätigkeit der Arbeiterschaft aufzuscheinen anfingen. Die, im Vergleich zu Frankreich, historisch spät kommenden bürgerlichen Revolutionäre in Deutschland bekamen es daraufhin mit der Angst zu tun: Könnte „ihre“ Periode nicht glatt übersprungen werden, und die Initiative auf die Arbeiterschaft übergehen, die auf die historische Bühne nachzudrängen begann?

Die nationale Bourgeoisie

Und so konstituierte dieses wirtschaftlich aktive Bürgertum sich zu Bismarcks Zeiten lieber unter den Fittichen des autoritären Staates zur nationale Bourgeoisie. Damals wurde das Monstrum des „Nationalliberalismus“ geboren, das Franz Neumann in seinem berühmten Werk „Behemoth“ explizit mit zu den (indirekten) politischen Vorläufern bzw. den Wegbereitern des Nationalsozialismus zählt. Einsatz für die Expansion der nationalen Ökonomie ja, Kampf um die Durchsetzung der Bürgerrechte nein so lautete der damals abgeschlossene Deal mit der Obrigkeit, der für dieses politisch-ideologische Phänomen die Grundlagen legte.

Nicht, dass die Bourgeoisie in Frankreich stets den Zielen der menschlichen und gesellschaftlichen Emanzipation verbunden geblieben wäre – weit gefehlt! Im Gegenteil wirkte die Erinnerung an das, was Revolutionen in Frankreich bewirken können, auf einen Teil der einmal an politische und wirtschaftliche Macht gekommenen Großbürger derart einschüchternd, dass sie sich zu veritablen Reaktionären wandelten. Sympathisanten der (1871 definitiv untergegangenen) Monarchie, ultrakatholische Moralapostel und Vichy-Unterstützter machten immer einen Teil dieser Bourgeoisie aus.

Liberalismus und Libéralisme

Aber der Preis dafür war eine veritable Aufspaltung in zwei unterschiedliche Figuren, die schon nicht auf den gleichen Begriff hören. In Deutschland antwortet sowohl der wirtschaftliche Sozialdarwinismus, die Apologie des „freien Markts“, als auch das Engagement für ein nicht gar zu sehr von überkommenen Konventionen beengtes Zusammenleben, für die Bürgerrechte, für Freiheiten des Einzelnen jeweils auf den Codenamen „Liberalismus“. Oft muss man erst einmal nachfragen, welcher Liberalismus denn nun wirklich gemeint ist.

In Frankreich hingegen bezeichnet der Begriff des „libéralisme“ im handelsüblichen politischen Sprachgebrauch nur die erstgenannte Variante, und für eine klare Mehrheit der Gesellschaft ist er eher eindeutig negativ besetzt: Hier kommt das nackte wirtschaftliche Dominanzstreben zum Vorschein, der Wunsch nach einer „Befreiung des Marktes“ von staatlichen, gesetzlichen und gesellschaftlichen Fesseln. Der Rüstungsindustrielle, Zeitungsmogul, tendenzielle Rassist und auf eine zeitweilige gute Zusammenarbeit mit dem rechtsextremen Front National zurückblickende Flugzeugbauer Serge Dassault gilt so allgemein als „libéral“ im französischen Sinne, obwohl er absolut nichts von einem Bürgerrechtler hat.

Die zweitgenannte Variante dagegen hört auf das Adjektiv citoyen – üblicherweise äußerst grobschlächtig mit „staatsbürgerlich“ ins Deutsche übersetzt, aber das trifft es nicht. Eine „gauche citoyenne“ etwa ist (in einer dem Sinn nach korrekten Übersetzung) eine Linke, die sich für die Freiheitsrechte des Einzelnen, für die Bürgerrechte einsetzt. Der eigene Anspruch, der den Aufstieg der Bourgeoisie historisch begleitete – der Einsatz für Aufklärung, Vernunft und die In-Recht-Setzung der Einzelnen gleichermaßen wie für wirtschaftliche Betätigungsfreiheit – tut sich so als Widerspruch auf, und die zuerst bezeichneten Aspekte können unter Umständen gegen die Praxis der Bourgeoisie selbst gekehrt werden.

Inwiefern die progressiven Kräfte dabei selbst noch ursprünglich bürgerlichen Konzeptionen verhaftet bleiben, in denen insbesondere die Rechte des Einzelnen von seiner Zugehörigkeit zu einer Staatsbürgerschaft wie im republikanischen Nationalismus – oder aber seinem „legalen“ Aufenthaltstitel als „Ausländer“, den der republikanische Staat verleiht – abhängen, steht auf einem anderen Blatt. Diese Frage verdient tatsächlich eine kritische Erörterung.

Die Idee der Rebellion gegen die Obrigkeit

In der Praxis hat allerdings auch der von der Staatsbürgerschaft weitgehend abgelöste Universalismus, der in jüngster Zeit u.a. in der Stärke der Bewegung für die Rechte der „Sans papiers“ (illegalisierten Einwanderer) vor allem in den neunziger Jahren zum Ausdruck kam, eine relativ breite Verankerung in der französischen Gesellschaft. Jüngst drückte sich dies im Erfolg der Petitionen und Großveranstaltungen gegen das neue verschärfte Ausländergesetz („Loi Hortefeux“), und insbesondere gegen die darin enthaltene Legalisierung von Gentests für Visumsbewerber im Rahmen der Familienzusammenführung bei Einwanderern, im Laufe des Oktober aus. Allerdings hat das französische Verfassungsgericht, anders als zunächst vermutet, jetzt am 14. November diese Bestimmung für rechtens erklärt. Die gesellschaftliche Opposition dagegen bleibt jedoch bestehen.

Dass Rebellion gegen die Obrigkeit prinzipiell möglich und sogar ein „gutes Recht“ darstellt (das im übrigen durch die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, die Bestandteil der französischen Verfassung ist, ausdrücklich als Widerstandsrecht gegen jede Form von Unterdrückung festgeschrieben ist), bleibt vor dem Hintergrund der Geschichte eine stark im kollektiven Gedächtnis Frankreichs verhaftete Idee.

Integration, "institutioneller Kanal", und Gegenmacht

Nun kommen allerdings noch andere historische Faktoren hinzu, die erklären, dass Gewerkschaft und Arbeiterbewegung in Frankreich in der Regel anders funktionieren, als man das aus Deutschland kennt – wo man heutzutage oft einer Gewerkschaft beitritt wie einer Versicherung oder Krankenkasse, „für den Fall, dass man’s mal braucht, wenn man Probleme im Job bekommt“. Und wo die Gewerkschaft über den Beginn und vor allem auch das Ende des Streiks entscheidet, die Lohnabhängigen dazu aufruft und während ihrer Arbeitsniederlegung auch – anstelle des Lohns, freilich mit Abschlägen - bezahlt.

Das wäre in Frankreich heute undenkbar: Streikgeld gibt es keines, den Ausstand bezahlen die abhängig Beschäftigten aus eigener Tasche in Gestalt der Lohnverluste, die sie hinnehmen müssen. Im Gegenzug werden sie gewissermaßen nicht entmündigt, sondern entscheiden höchstpersönlich über die Nutzung ihres Rechts auf Streik und darüber, wann sie dessen Ausübung wieder zu beenden gedenken.

Dabei ist das (heutige) positive Recht, wie so häufig, nur das zu kodifizierten Regeln „geronnene“ Endergebnis einer unterschiedlich verlaufenen Geschichte und unterschiedlicher sozialer Kräfteverhältnisse. In Deutschland wurde „das Soziale“ schon früh, mit den Bismarck’schen Sozialversicherungsgesetzen von 1883/84, ins „große Ganze“ des politischen Systems integriert: Der preußisch-autoritäre Kanzler war klug genug gewesen zu erkennen, dass die Sprengkraft der „sozialen Frage“ wenigstens ein Stück weit entschärft werden müsse, um die Stabilität seines Ordnung zu gewährleisten, ohne deswegen grundsätzlich an der Ausbeutung (und zum damaligen Zeitpunkt durchaus auch politischen Unterdrückung) der „Unterklassen“ etwas ändern zu müssen.

Und zudem war derselbe Kanzler so klug, neben dem von ihm verhängten Betätigungsverbot für die Sozialdemokratie mit den „Sozialistengesetzen“ (von 1878 bis 1890 in Kraft) gleichzeitig den Parlamentsfraktionen der späteren SPD etwa im damaligen Reichstag ihre Betätigungsfreiheit zu belassen. Der „institutionelle Kanal“ wurde schon früh in der deutschen Arbeiterbewegung als scheinbar gangbarer Weg betrachtet.

Anders in Frankreich: Auf das frühsozialistische, auf Selbstverwaltung (im städtischen Rahmen) basierende „Experiment der Commune de Paris“ vom März – Mai 1871 folgten zehn Jahre harter Repression und die zeitweise organisatorische Zerschlagung, jedenfalls Schwächung der damals Sozialdemokratie. Das hinderte Gewerkschaften und Arbeitervereine nicht daran, sich kurz darauf ebenfalls zu entwickeln – aber eben nicht unter Führung einer Partei, die ihrerseits an den Staat angebunden blieb, sondern eher als „Gegenmacht“ zum Staat wie dem Kapital.

"Revolutionärer Syndikalismus“

Das nannte man im frühen 20. Jahrhundert in Frankreich den „revolutionären Syndikalismus“, der damals hegemonial war und sich etwa in der „Charta von Amiens“ (charte d’Amiens) von 1906 als Grundsatzprogramm französischer Gewerkschaften – auf das sich manche von ihnen noch heute theoretisch beziehen - niederschlug.

Später gab ihm die französische KP, die noch bis in die 1980er Jahre (über die CGT) einen Großteil der Gewerkschaftsbewegung des Landes dominierte, auch wenn dies heute eindeutig vorbei ist, zwar etatistische Formen. Gegenüber dem vorhandenen bürgerlichen Staat blieb dennoch das Prinzip aufrecht erhalten, dass konsequente Interessenvertretung nur durch Aufbau einer Gegenmacht im Betrieb und auf der Straße vor der Eröffnung von möglichen Verhandlungen zu erreichen sei – nicht durch „Mitsprache“ innerhalb der Institutionen, die von vornherein vom Aufbau eines Kräfteverhältnisses innerhalb der Gesellschaft entkoppelt bleibt.

Einbindung und Gemeinwohl

Und auch nicht innerhalb eines ritualisierten und im Prinzip „partnerschaftlichen“ Gegenübers mit den Repräsentanten des Kapitals, bei dem der Staat den „Sozialpartnern“ einen Teil seiner Regelungsmacht abtritt wie mit der so genannten Tarifautonomie in Deutschland. Letztere besteht im Kern ja darin, dass der Staat manch „unpopuläre“ Entscheidungen und schmerzhafte soziale Einschnitte nicht selbst in Form eines expliziten politischen Akts durchzusetzen braucht (jedenfalls solange ein Konsens, und sei er mühsam, zwischen den Interessenverbänden noch erzielt werden kann): Die in eine institutionalisierte „Sozialpartnerschaft“ eingebundenen Gewerkschaften besorgen ihre Durchsetzung schon selbst, in ihrem eigenen sozialen „Lager“, also gegenüber den abhängig Beschäftigten.

Notwendige Gegenleistung dafür, dass der Staat ihnen so eine eigene (beschränkte) Regelungsmacht – im Zusammenwirken mit ihrem sozial- und ordnungspolitischen Gegenspieler – gewährt, ist es dabei für die Gewerkschaften, nicht aus dem Rahmen der „Partnerschaft“ auszubrechen und zu härteren Methoden der Konfliktaustragung zu greifen. Oder jedenfalls nicht den Interessenkampf als grundsätzlich antagonistischen, der nicht aufgelöst, sondern nur zu vorübergehend „Waffenstillständen“ geführt werden kann, aufzufassen.

Juristisch umstritten ist, ob deutsche Gewerkschaften in ihren Verhandlungen mit dem Arbeitgebern auch rechtlich einem „Gemeinwohl“ verpflichtet sein sollen - was de facto den Interessenkonflikt von vornherein still legen und ihm nur noch symbolische bzw. technokratische Austragungsformen belassen würde – oder ob der Interessengegensatz zumindest vor dem Abschluss der Verhandlungen anerkannt werden darf.

Im einen Falle bleibt immer noch der Streik als „ultimatio ratio“, als letzte Möglichkeit, die aber eng begrenzten Zielen dienen und nach deren Einsatz der „soziale Friede“ wieder einkehren muss. Im anderen, erstgenannten Falle aber bleibt nur das zwanghaft konstruktive Plauschen am „Runden Tisch“, ein Modus der „Konfliktaustragung“, der sich in Deutschland – je nach politische Konjunktur – immer wieder einmal wachsender Beliebtheit zu erfreuen scheint. Von der karikaturhaften Form der heimeligen „Kaminrunde“ beim Kanzler – wie es sie beim damaligen „Bündnis für Arbeit“ n den Jahren 1995/96 zeitweilig gab – einmal gar nicht zu reden...

Eine Zeit lang neidisch auf das reibungslose Funktionieren..

Die aus diesem Gegenüber der „Tarifexperten“ als (theoretischen) Repräsentanten von Arbeit und Kapital letztendlich resultierenden Entscheidungen stellen sich so dem Publikum als „notwendige“, im Konsens getroffene, letztlich überwiegend technische Entscheidungen dar. Anders in der Regel als in Frankreich, wo zuerst die Staatsmacht durch einen politischen Kraftakt einen Beschluss mit unter Umständen negativen sozialen Folgen für die Mehrheit der Gesellschaft verkünden muss. Danach hat sie ihn gegenüber den aufflammenden gesellschaftlichen Widerständen durchzusetzen. Die Entscheidung zu sozialen Verschlechterungen erscheint so als bewusste, politisch „gewollte“ Weichenstellung, die auch als solche in Frage zu stellen ist.

Gewerkschaften und Betriebsräte wurden in Deutschland zu Inhabern einer Stellvertretermacht aufgebaut, denen deshalb – im Rahmen der rechtlich anerkannten und institutionalisierten Tarifautonomie – gewisse (freilich in jüngerer Vergangenheit mehr und mehr begrenzte) Vollmachten abgetreten worden sind. Dies war deshalb möglich und aus Sicht der wirtschaftlich und politisch dominierenden Kräfte sogar sinnvoll, weil diese „Stellvertreter“ ohnehin im Prinzip dem Konsens mit ihren Gegenüber und der politischen Macht verbunden sind.

In Frankreich blickte man, je nach Standpunkt, eine Zeit lang neidisch auf dieses scheinbar so reibungslose Funktionieren: In den Jahren von 1995 bis 2005 trommelten westlich des Rheins der Arbeitgeberverband MEDEF (Mouvement des entreprises de France), die sozialliberale Richtungsgewerkschaft CFDT und auch führende bürgerliche Politiker – unter ihnen zeitweise auch Expräsident Jacques Chirac, etwa im Jahr 2002 - für die Einführung einer „Tarifautonomie“ (unter Zurückdrängung der Rolle des Gesetzgebers, dessen Beschlüsse zu hohem politischen und gesellschaflichen Druck zu unterliegen schienen) und einer „Sozialpartnerschaft“ à la française. Dieses Programm taufte man zu Anfang dieses Jahrzehnts auf den Namen „Refondation sociale“, ungefähr: „Neubegründung der sozialen Beziehungen“.

In der Krise nicht hinreichend belastbar

Bisher hat sich der auf diesem Wege vermeinlich neu begründete Konsens aber nicht als genügend tragfähig erwiesen. In der Krise ist er nicht hinreichend belastbar. Und die jüngst geplanten negativen Veränderungen etwa in Form einer Einschränkung des Kündigungsschutzes – für die Frankreich am 14. November durch die International Labour Organisation (ILO) gerügt worden ist – mochten die regierenden Konservativ-Liberalen dann doch lieber als autoritäre politische Entscheidung denn auf dem Weg von Konsensgesprächen mit den „ollen Gewerkschaften“ durchsetzen.

Dies geschah sogar unter weitgehender Ausschaltung des Parlaments mitsamt seiner bürgerlichen Abgeordnetenmehrheit: Die ersten Bestimmungen zu den Einschnitten beim Kündigungsschutz wurden Anfang August 2005 als hochsommerliche Verordnung der Regierung, am Parlament vorbei, durchgezogen. Es handelte sich um die Einführung des Contrat Nouvelle Embauche (CNE, „Neueinstellungsvertrag“, nicht zu verwechseln mit dem einige Monate später projektieren „Ersteinstellungsvertrag“ CPE für Berufsanfänger, der alsbald politisch scheiterte), der jetzt durch die ILO als unvereinbar mit internationalem und damit höherrangigem Recht erklärt worden ist.

Der politische Preis für ein solches Vorgehen ist jedoch mitunter hoch: Die in breiten Kreisen als bewusste (ja willkürliche, obwohl natürlich in Wirklichkeit von ökonomischen Rahmenbedingungen diktierte) Entscheidung der Politik, die gegen die eigenen Interessen gerichtet sei, verstandene Weichenstellung rief des öfteren massive soziale und politische Widerstände auf den Plan. Und sogar die rechtssozialdemokratische und im Grunde pro-neoliberale Richtungsgewerkschaft CFDT, die sich unter anderen Umständen noch dazu bereit fände, so manche „notwendige Anpassung an die wirtschaftlichen Realitäten“ durch ihre Unterschrift unter ein Abkommen abzunicken – Hauptsache, man fragt die CFDT vorher, und sie kann vielleicht noch ein paar Abmilderungen an Detailpunkten durchsetzen! – war etwa am Punkt der Einschränkung des Kündigungsschutzes 2005/06 dieses Mal richtig stocksauer auf die konservative Regierung. Hatte diese ihr doch soeben bewiesen, dass es auf die CFDT nicht mehr im Geringsten ankommt, wenn es denn mal hart auf hart kommt.

Worum geht es bei der aktuellen Auseinandersetzung?

An dem Versuch, die ‚Régimes spéciaux’ genannten Sonderregelungen zur Rente bestimmter Berufsgruppen, insbesondere aber der französischen Transportarbeiter abzuschaffen, hat sich schon manche Pariser Regierung die Zähne ausgebissen. Der damalige Premierminister Alain Juppé und - hinter ihm stehend – Sarkozys Amtsvorgänger Jacques Chirac mussten im Winter 1995/96 ein entsprechendes Vorhaben ersatzlos zurückziehen.

Zuvor hatte ein dreiwöchiger Streik in allen öffentlichen Diensten den Betrieb des Landes teilweise lahmgelegt. Die damalige Periode, von manchen Linken auch poetisch als „ein Mai im Dezember“ bezeichnet – unter Anspielung auf 1968, obwohl beide historische Situationen sehr unterschiedlich waren – sorgte nicht nur dafür, dass die Juppé-Regierung fortan in der Defensive stand. Kein Vorhaben konnte sie mehr ankündigen, ohne dass sich sofort massive Widerstände dagegen regten. Denn nachdem eine Streikbewegung unterstrichen hatte, dass die Regierung auch verlieren konnte, war die Phase der Resignation für die soziale und politische Opposition auf einmal zu Ende.

Im Frühsommer 2003 dann konnte Premierminister Jean-Pierre Raffarin - wiederum mit Chirac im Rücken - zwar eine regressive „Reform“ der Renten im privaten Industrie- und Dienstleistungssektor sowie für die unmittelbar vom Staat angestellten öffentlich Bediensteten durchsetzen. Darauf, die Pensionsregelungen auch für die Lohn- und Gehaltsempfänger in bestimmten öffentlichen Unternehmen wie der Bahngesellschaft SNCF und der Pariser Verkehrsgesellschaft RATP – die nicht unmittelbar dem Staat unterstellt sind, sondern deren Arbeitsbedingungen und Rentenregelungen von einem besonderen „Personalstatut“ geregelt werden – zu „reformieren“, verzichtete Raffarin 2003 hingegen. Diese Maßnahme wurde zunächst noch zurückgestellt. Um sich nicht die Finger zu verbrennen, und um die Eisenbahner und RATP-Beschäftigten aus der damaligen allgemeinen Protestfront herauszubrechen.

Tatsächlich konnte die damalige Regierung die Transportbediensteten zum Teil aus der damaligen Streikfront herauslösen: Die SNCF- und RATP-Beschäftigten traten zwar im Anschluss an die erste Großdemonstration vom 13. Mai 2003 gegen die allgemeine „Rentenreform“ spontan in den Solidaritätsstreik. Aber die Regierungs- und Medienpropagada stellte darauf ab, dieser Ausstand sei illegitim, da doch diese Beschäftigten „gar nicht von der Reform betroffen“ seien. Das war zwar fadenscheinig, da allen ehrlichen Betrachtern klar sein musste, dass die „Reform“ für diese Beschäftigtengruppen nur aufgeschoben, aber eben nicht aufgehoben sein würde.

Hellsichtige Beobachter sagten aber bereits damals voraus, dass die Angelegenheit selbstverständlich einige Jahre später auch für die Mitarbeiter der SNCF und RATP wieder aufs Tapet gebracht werden würde, wenn diese dann allein für ihre Interessen kämpften müssten – isoliert von den übrigen Lohn- und Gehaltsempfängern im Lande, deren Rentenregelungen bereits Jahre zuvor verschlechtert worden sein würden. Doch die bürgerliche Propaganda verfing in Teilen der Öffentlichkeit.

Selbstmord aus Angst vor dem Tode

Zudem trugen damals auch die Gewerkschaftsapparate dazu bei, den Streik der Transportbediensteten abzuwürgen. Aus Furcht, deren Ausstand könne in Teilen der Öffentlichkeit unpopulär wirken, wurden die Streikenden wurden namentlich durch die CGT-Leitung zurückgepfiffen. Letztere hatte damit Selbstmord aus Angst vor dem Tode begangen: Einmal der Kampfkraft der Transportbeschäftigten beraubt – deren Ausstand es zumindest potenziell vermag, die Alltagsroutine auch für andere Beschäftigtengruppen zu unterbrechen und dadurch zum Kristallisationspunkt für einen allgemeinen Ausstand zu werden - , fiel der sonstige Streik kläglich in sich zusammen.

Zwar mobilisierte die CGT noch über mehrere Wochen hinweg alle acht Tage hindurch ihre Truppen auf dem Pariser Asphalt. Erreichen konnte sie dadurch allerdings nichts. Die „Rentenreform“ wurde verabschiedet. Zwar wurde versprochen, sie im Jahr 2008 nochmals zu „überdenken“. Das Ergebnis dürfte aber von vornherein feststehen, denn der damalige „Reformmacher“ und Sozialminister François Fillon amtiert nun als Premier.

Dereinst mussten die meisten Lohnabhängigen in Frankreich 37,5 Beitragsjahre hindurch in die Rentenkasse einbezahlen, um eine volle Pension zu beziehen. Erstmals wurde diese Regel 1993 durch die konservativ-reaktionäre Regierung von Edouard Balladur abgeändert: Die Beschäftigten im privaten Industrie- oder Dienstleistungsgewerbe mussten künftig 40 Jahre einbezahlen. Für die Staatsbediensteten blieb es zunächst noch bei 37,5 Jahren.

Die Ungleichzeitigkeit bei der „Reform“ resultierte daraus, dass die Privatbeschäftigten während der tiefen Rezension der Jahre 1992/93 – die von einem extremen Anstieg der Arbeitslosigkeit begleitet war – weitgehend in die Defensive gedrängt waren. Die öffentlich Bediensteten und ihre Gewerkschaften flöbten der Regierung zunächst noch Furcht ein. Aber das Kabinett Balladur hatte dadurch eine Zeitbombe platziert, die nur darauf wartete, gezündet zu werden.

Ausdehnung der Lebensarbeitszeit bis auf 42,5 Beitragsjahre

Denn zehn Jahre später versuchte seine konservative Nachfolgeregierung unter Raffarin, kräftig den Sozialneid anzufachen, indem es die öffentlich Bediensteten – Lehrer, Krankenschwestern, Postbedienstete – als „Privilegierte“ hinzustellen, die nur für ihre Besitzstandswahrung streikten. Zum Teil ging diese Rechnung auf, auch wenn die 2003er Reform real für alle Lohn- und Gehaltsempfänger – auch jene im Privatsektor – erhebliche Verschlechterungen mit sich brachte. Denn für alle Beschäftigtengruppen soll die Anzahl der obligatorischen Beitragsjahre nun bis auf 42,5 angehoben werden, bis zum Jahr 2020.

Im Moment sind die meisten abhängig Beschäftigten jetzt bei 40 Jahren obligatorischer Beitragsdauer angekommen, aber infolge der “Bilanz” – welche die Regierung im kommenden Jahr aus der Reform ziehen wird – ist als nächste Etappe der Übergang zu 41 Beitragsjahren längst vorgesehen. Diesen Plan, obwohl er schwarz auf weiß im Gesetz und im Ankündigungstext zur “Reform” François Fillons von 2003 steht, haben die Mehrzahl der Franzosen im Moment aber verdrängt. Sollte sich die konservative Regierung aber nun in den nächsten Tagen und Wochen bei der Rentenfrage durchsetzen können, dann dürfte es für so manchen im Jahr 2008 in dieser Hinsicht noch ein böses Erwachen geben – wenn die Gesellschaft an das strategische Vorhaben einer Ausdehnung der Lebensarbeitszeit bis auf 42,5 Beitragsjahre erinnert werden wird.

Sonderregelungen

Es blieben bislang jene Lohn- und Gehaltsempfänger “übrig”, die unter Sonderregelungen fallen. Diese ‚Régimes spéciaux’ resultieren zum Gutteil aus der Periode unmittelbar nach der Befreiung 1944, als im Rahmen des „historischen Komprisses“ zwischen Kommunisten und Gaullisten – der in der Führung der Résistance geschlossen worden war – entschieden wurde, bestimmte Sektoren wie Transport und Energieversorgung dem Privatsektor und den Marktgesetzen zu entziehen.

Zudem rechtfertigte sich die Regelung, dass etwa die Eisenbahner früher – mit 55, die Lokführer schon ab 50 – in Rente gehen durften, mit den damals besonders extremen Arbeitsbedingungen auf den Dampflokomotiven. Später dienten die in den öffentlichen Diensten errungenen Arbeitsbedingungen den Gewerkschaften in anderen Sektoren dazu, ähnliche Bestimmungen als in Arbeitskämpfen und Verhandlungen zu erreichendes Ziel zu fixieren. So sollten alle Berufsgruppen, durch „Anpassung nach oben hin“, ihre Lage verbessern können.

Heute hat die Regierung sich zum Ziel gesetzt, das Gegenteil zu vollführen, also für alle Lohnabhängigen durch „Anpassung nach unten hin“ die Bedingungen zu nivellieren. Wer sich dem widersetzt, wird als „Verteidiger ungerechtfertiger Privilegien“ gescholten. Nur zwei Gruppen, die – neben Eisenbahner, Métrobeschäftigten, den Mitarbeitern von Pariser Operhäusern und den aussterbenden Bergleuten – ebenfalls von Sonderregelungen bei der Rente profitieren, bleiben dabei zur Zeit völlig ausgeklammert. Es handelt sich um hauptberufliche Militärs und Abgeordnete.

Die Arbeitsbedingungen auf den Dampflokomotiven seien historisch überholt, verkündet die Regierung. In ihrer Rhetorik taucht hin und wieder die Ankündigung auf, man solle sich stattdessen überlegen, wer „wirklich unter erschwerten Bedingungen hart arbeitet“ und dadurch eine Sonderregelung verdiene. Bisher funktioniert die Berufung darauf allerdings nur als Einbahnstraße: Den Eisenbahnern soll ihre günstigere Rentenregelung weggenommen werden - dass stattdessen andere hart arbeitende Gruppen ihrerseits neu in den Gunst früherer Renten kämen, hat man allerdings bisher noch nie vernommen.

Seit 2003 findet allerdings eine Verhandlungsrunde zwischen Arbeitgeber und Gewerkschaft zu diesem Thema statt, die durch die damalige “Reform” obligatorisch vorgesehen war. Aber bisher hat sie keinerlei Ergebnisse gezeitigt. Den Arbeitgebern ware reale Schritte in dieser Richtung schlicht zu teuer.

Nutznießer von Privilegien

Die bürgerliche Politik und die Medien rühren unterdessen die Trommel und stellen die Transportbediensteten als Nutznießer „ungerechtfertigter und überkommener Privilegien“ hin, für die „wir alle“ finanziell aufkämen. Dass „die Steuerzahler“ oder „alle sonstigen Beitragszahler zu den Sozialkassen“ für die Renten beispielsweise der Eisenbahner aufkommen würden, ist dabei freilich eine Legende, um deren Verbreitung die neoliberale Propaganda tunlichst bemüht ist.

In Wirklichkeit sind es allein die Beiträge der aktiven Eisenbahner/innen, die rund 40 Prozent ihres Lohns und Gehalts statt im Durchschnitt 26 Prozent für die sonstigen Beitragszahler betragen, aus denen die Renten finanziert werden. Zwar stimmt es, dass der Staat der Bahngesellschaft SNCF jährlich über zwei Milliarden Euro überweist – jedoch nicht, um den früheren Abgang der Eisenbahner/innen in die Rente zu finanzieren (im Gegenteil, die Renten unter 60 Jahren werden vom Staat bei seinen Zahlungen systematisch nicht berücksichtigt), sondern um die „demographischen Folgen“ des vom Staat in den letzten Jahrzehnten vorgenommenen systematischen Stellenabbaus zu bewältigen.

Der „Überschuss“ an Rentnern

Die französische Bahngesellschaft SNCF beschäftigte früher bis zu 400.000 Mitarbeiter, gegenüber heute rund 170.000 - und ein weiterer Abbau im Güterfrachtverkehr steht bevor, trotz Sarkozys Ende Oktober lautstark angekündigter „ökologischer Revolution“. Um die Auswirkungen seiner eigenen Entscheidungen zur Personalpolitik zu bewältigen, in deren Folge die Anzahl der Rentner jene der aktiv Beschäftigten in den betroffenen Sektoren spürbar übersteigt, muss der Staat – logischer Weise – Ausgleichszahlungen vornehmen.

Zugleich fließt aber auch Geld, ein paar Hundert Millionen, aus der Rentenkasse der Eisenbahner/innen in das „allgemeine Rentenregime“. Denn aufgrund höherer Beiträge weist, wenn die „demographischen Folgen“ der Personalabbaupolitik einmal durch Ausgleichszahlungen bewältigt sind, die Rentenkasse der Eisenbahner einen „Überschuss“ (in schwarzen Zahlen) gegenüber den sonstigen Rentenkassen auf.

Insgesamt betreffen die ‚Régimes spéciaux' zur Zeit 500.000 aktive Beschäftigte (bei Eisenbahn, RATP und Energieversorgungsunternehmen insbesondere, daneben auch bei den Bühnenarbeitern in den Pariser Operhäusern und bei der Comédie française zuzüglich Abgeordneten und Berufsmilitärs, wobei die letzteren beiden Gruppen von der geplanten „Reform“ nicht betroffen sind) und 1,1 Millionen Rentner. Der „Überschuss“ an Rentnern erklärt sich allein aus der Politik systematischer Personalreduzierung in den vergangenen Jahrzehnten sowie des „Aussterbens“ der Bergleute, die heute in Frankreich nur noch als Rentner, nicht jedoch als aktive Berufsgruppe vorkommen. Historisch gehörten die Bergmänner in den Kohleminen zu den wichtigsten Berufsgruppen, bei denen ein ‚Régime spécial' zur Rente erkämpft werden konnte.