USA: Aufstand gegen die geplante Gesundheitsreform

Nicht nur die Gesundheitsindustrie, Republikaner und rechte Medien, sondern auch Teile der Demokraten lehnen die geplante Einführung einer staatlichen Krankheitsversicherung ab

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Der Kampf um die Ausgestaltung der US-amerikanischen Gesundheitsreform geht in diesem August in die heiße Phase. Während der parlamentarischen Ferienpause fahren die amerikanischen Kongressabgeordneten traditionell in ihrer Wahlbezirke, um sich bei offenen Bürgertreffen – den so genannten Town Hall Meetings - den Fragen der Wähler zu stellen und wichtige politische Vorhaben zu diskutieren. In diesem Jahr sollte die geplante Gesundheitsreform im Zentrum der Diskussion stehen. Die von der mächtigen amerikanischen Gesundheitsindustrie und den Republikanern verbissen bekämpfte Reform steht derzeit auf der Kippe - und viele Demokraten hofften, die Sommerpause dazu nutzen zu können, um im direkten Gespräch mit den Wählern für das Vorhaben zu werben.

Was sich stattdessen in vielen amerikanischen Town Halls abspielte, wird am Beispiel einer Informationsveranstaltung der demokratischen Kongressabgeordneten Kathy Castor in Tampa, Florida ersichtlich, die beinahe in einen Aufruhr mündete. Hunderte Republikaner und Anhänger rechter Gruppen tauchten auf der Veranstaltung auf, um jegliche Ansätze einer Diskussion in Handgreiflichkeiten und Schimpfkanonaden untergehen zu lassen. Als Kathy Castor das Wort zu ergreifen suchte, wurde sie niedergebrüllt: „40 Millionen Illegale“ und „Tyrannei“ skandierten die rechten Störer.

Dieser Einschüchterungskampagne wird landesweit indirekt von der rechten Medien und der Republikanischen Partei unterstützt, die eine erfolgreiche Gesundheitsreform nicht nur aus ideologischen Gründen, sondern auch aufgrund wahltaktischer Überlegungen unbedingt zu Fall bringen will. Sollte es Obama gelingen, das desaströs ineffiziente Gesundheitswesen der Vereinigten Staaten zumindest partiell zu verbessern, könnte dies für die Republikaner die nächsten Wahlen zu einem wahren Fiasko werden. Das Internetportal Alternet beschreibt die gegenwärtige Kampagne gar als eine „Taktik der verbrannten Erde“, die aus der Enttäuschung der Konservativen über die Niederlage bei den letzten Wahlen resultiert:

Sie wissen, dass sie mit ihren Ansichten falsch lagen: über das Land, den freien Markt, den Krieg für Spaß und Profit, und was die Amerikaner wirklich wollen. Sie brachten ihre Vorstellungen auf den Punkt und wurden von Amerikanern abgewiesen – und von der Geschichte. Bush war ihr Mann und er stellte sich als ein Idiot heraus. Nun bleibt den Republikanern nur das übrig, was die besiegten Deutschen im Zweiten Weltkrieg taten: die Politik der verbrannten Erde. Wenn sie nicht gewinnen können, muss jeder untergehen. Obama muss scheitern! Das Land muss scheitern!

Alternet

Tatsächlich könnte eine Beibehaltung der gegenwärtigen Struktur des amerikanischen Gesundheitswesens katastrophale Auswirkungen auf die Ökonomie und Sozialstruktur der Vereinigten Staaten zeitigen. Viele der verarmten Regionen der USA weisen bereits Charakteristika einer gesundheitspolitisch „verbrannten Erde“ auf.

Es sind Szenen wie aus einem Dritte-Welt-Land, die sich überall dort in den Vereinigten Staaten abspielen, wo beispielsweise die US-Hilfsorganisation Remote Area Medicals (RAM) buchstäblich ihre Zelte aufschlägt. Als sie dies etwa zwischen dem 20. und 22. Juni im Landkreis Wise Country im US-Bundesstaat Virginia machte, hatten Tausende Menschen aus den verarmten südlichen Appalachen bereits seit mehreren Tagen dort gewartet, um bei den RAM ihre einzige Chance im Jahr auf eine medizinische Behandlung wahrnehmen zu können. In angemieteten Hallen oder in Zelten werden dann verfaulte Zähne wie am Fließband gezogen oder Standarduntersuchungen durchgeführt, um die Krankheiten der zumeist schmerzgeplagten Patienten überhaupt erst einmal zu diagnostizieren. „Wir haben nicht das Geld, um uns eine Krankenversicherung zu kaufen. Wir haben Probleme, genug zu Essen zu bekommen“, erklärte ein Mann in Wise Country gegenüber der Washington Post.

Ineffizientes Gesundheitssystem verschlingt 16 Prozent des BIP

Derzeit haben an die 46 Millionen der 300 Millionen US-Bürger keine Krankenversicherung. In den Vereinigten Staaten gibt es keine allgemeinen gesetzlichen Krankenkassen und auch keine Versicherungspflicht. Die Krankenversicherung ist zumeist an die Unternehmen gekoppelt, in denen die Lohnabhängigen arbeiten. Wer freiberuflich tätig ist oder in einem Betrieb Beschäftigung findet, der keine Krankenversicherung bezahlen will, muss sich privat versichern. Und das ist für eine Mehrheit nicht finanzierbar: Durchschnittlich muss eine Familie 2.500 US-Dollar monatlich aufwenden, um eine private Krankenversicherung zu erhalten. Dieses System, in dem die Pro-Kopf-Belastung in etwa doppelt so hoch ausfällt wie in vergleichbaren Industrieländern, gilt als höchst ineffizient.

Die Washington Post gab in einem jüngst publizierten Bericht einen Überblick über den Irrsinn des privatisierten, in einer Unzahl von privaten Anbietern zersplitterten amerikanischen Gesundheitssektors, durch dessen Kostenexzesse auch die US-Wirtschaft erheblichen Belastungen aussetzt ist. Die gesamten Kosten des Gesundheitssektors, die sich 2006 auf 2,1 Billionen US-Dollar – in etwa 16 % des BIP – beliefen, könnten bis 2016 auf satte vier Billionen US-Dollar anschwellen. Derzeit liegen sie schon bei 2,5 Billionen. Die Ausgaben für die Gesundheit sollen ohne Gesundheitsreform um 6,9 % jährlich steigen.

Die Kosten für die von amerikanischen Unternehmen für ihre Angestellten zu entrichtende Krankenversicherungen belaufen sich im Durchschnitt auf stolze 11.381 US-Dollar pro Jahr. Diese von den Unternehmen zu erbringenden Aufwendungen dürften bis 2016, sollte es keine substantielle Gesundheitsreformen geben, auf 24.291 US-Dollar jährlich steigen.

Das privatisierte US-Gesundheitssystem ist berüchtigt für seine Ineffizienz und Verschwendungswut, so dass inzwischen jüngsten Studien zufolge jeder dritte in den Gesundheitssektor fließende US-Dollar verschwendet wird. 2007 wurden laut dem Haushaltsausschuss des Kongresses von privaten Krankenversicherungen, Pharmakonzernen und Herstellern medizinischer Geräte 730 Milliarden US-Dollar an Krankenversicherungsbeiträgen verschwendet. Die Pharmakonzerne, deren überteuerte Medikamentenpreise erheblich zur Kostenexplosion im Gesundheitswesen beitragen, hätten der Washington Post zufolge allein in 2005 11,5 Milliarden US-Dollar für die Werbung ihrer teuersten Präparate ausgegeben.

Widerstand gegen die Gesundheitsreform auch bei den Demokraten

Um dieser Kostenexplosion vorzubeugen und den Wildwuchs im privat betriebenen Gesundheitswesen zu begegnen, plant die Obama-Regierung die Einführung einer staatlichen Krankenversicherung, die parallel zu den privaten Versicherern existieren soll. So soll den bislang nicht versicherten Menschen Gelegenheit gegeben werden, eine bezahlbare Krankenversicherung zu erhalten. Finanziert werden sollte dieses Vorhaben, dessen Kosten sich binnen der nächsten Dekade auf circa eine Billion US-Dollar belaufen sollen, durch Steuererhöhungen für Amerikas Oberklasse und Kürzungen bei den staatlichen Gesundheitsprogrammen Medicare und Medicaid, die vor allem armen und älteren Menschen zu Verfügung stehen. Diese Sozialkürzungen im Gesundheitsbereich sollten eigentlich durch Zuschüsse zur geplanten staatlichen Krankenversicherung für arme Menschen kompensiert werden.

Doch aus diesem sozialen Ausgleich wird nichts, denn die effektivste Opposition gegenüber der Gesundheitsreform formiert sich ausgerechnet in der Demokratischen Partei. Der Reformentwurf konnte die Vorberatungen im Energie- und Handelsausschuss nur arg beschnitten passieren. Die sich ursprünglich auf eine Billion US-Dollar veranschlagten Kosten der Reform sollen durch die Kürzungen nun um 100 Milliarden Dollar gesenkt worden sein. Hierbei wurden die anfänglich geplanten Bundeszuschüsse zur Krankenversicherung für Menschen mit niedrigem Einkommen stark gekürzt. Überdies soll nun eine Reihe von Unternehmen von der Auflage entbunden werden, ihren Angestellten Krankenversicherungsschutz zu gewähren, zu der sie ursprünglich gesetzlich verpflichtet werden sollten.

Rechtsgerichtete Politiker der Demokratischen Partei, die sogenannten „Blauen Hunde“ (Blau ist die Farbe der Demokraten), sind federführend an der Verzögerung und Verwässerung der Gesundheitsreform beteiligt. Angeführt von dem demokratischen Abgeordneten Mike Ross aus Arkansas gehen die „Blue Dogs“ seit Juni in offene Opposition zu dem mühsam ausgearbeiteten Reformkonzept, die vorgeblich durch die enormen Kosten motiviert sein soll.

In Wirklichkeit dürften die großzügigen finanziellen Zuwendungen der Gesundheitsindustrie bei der Opposition der „Blue Dogs“ keine unwesentliche Rolle gespielt haben. Nur fünf Tage nachdem der Demokrat Mike Ross am 19. Juni öffentlich die Gesundheitsreform kritisierte, konnte er als „Ehrengast“ an einer Spendenveranstaltung der Gesundheitsindustrie teilnehmen. Insgesamt habe Ross bereits an sieben solcher Spendenveranstaltungen teilgenommen.

Laut der Washington Post erhielten die 52 Mitglieder zählenden „Blue Dogs“ weitaus mehr finanzielle Unterstützung seitens der Gesundheitsindustrie als andere Demokraten. Der typische Blaue Hund erhalte „signifikant mehr Geld – an die 25 Prozent – von der Gesundheitsindustrie und den Krankenversicherungen als andere Demokraten“, so dass sie „näher bei den Republikanern“ seien, wenn es um Spendengelder dieser Industrie gehe. „Die Blauen Hunde Tagen das Wasser für dieser Industrie und nicht für ihre Wähler“, erklärte auch Richard Kirsch von der Pro-Reform-Kampagne Health Care for America Now: „Im Endeffekt nehmen die Blauen Hunde und die Republikaner sehr eng einander liegende Positionen ein, die sehr weit von dem entfernt sind, was die meisten Amerikaner wollen.“

Hierdurch konnte das Reformvorhaben die wichtige parlamentarische Hürde im Kongressausschuss für Energie und Handel erst am 31. Juli nehmen, nachdem 31 Mitglieder des Ausschusses für eine neu ausgehandelte Kompromissvorlage stimmten und 28 dagegen votierten. Bereits bei dieser Abstimmung verweigerten fünf Demokraten diesem Reformvorhaben ihre Zustimmung. Damit gerät Obamas Zeitplan in Verzug, der dieses Reformprojekt noch binnen Jahresfrist abschließen wollte. Eine Abstimmung über die Gesundheitsreform wird im amerikanischen Repräsentantenhaus erst im September, nach der Sommerpause, stattfinden.

Gesundheitsindustrie hat teure Medienkampagne gegen die Reform gestartet

Doch selbst für diesen verwässerten Reformentwurf sieht es nicht gut aus, da nun in der Sommerpause die entsprechenden Lobbyorganisationen der Gesundheitsindustrie Zeit haben, das Gesetzesvorhaben weiter zu unterhöhlen und mit Medienkampagnen die Stimmung in der Bevölkerung zu beeinflussen. Laut Washington Post hat die Gesundheitsindustrie an die 350 ehemalige Regierungsmitglieder und Kongressabgeordnete angestellt, um gegen die Gesundheitsreform mobil zu machen. An die 1,4 Millionen US-Dollar werden hierbei aufgewendet – täglich!.

Mit entsprechenden Fernsehspots und den Auftritten von Industrienahmen „Experten“, die Halbwahrheiten in den Medien rund um die Kosten und Leistungen einer bundesweiten Krankenversicherung verbreiten, ist es der amerikanischen Gesundheitsindustrie bereits gelungen, die öffentlich Unterstützung für das Reformvorhaben abzuschwächen. Der Anteil der US-Bürger, die einer jüngsten Umfrage des „Wall Street Journal“ und des Senders NBC zufolge die Gesundheitsreform ablehnen, stieg von 32 auf 42 Prozent.

Doch auch auf der Linken erfährt die immer weiter durchlöcherte und verwässerte Reform verstärkt Kritik, da die Obama-Regierung immer neuen Lobbygruppen Zugeständnisse macht. Für Empörung sorgte beispielsweise der inoffizielle Deal zwischen dem Weißen Haus und der mächtigen Pharmalobby. Der Vereinbarung zufolge wird die Regierung beim Gelingen der Gesundheitsreform ihre enorme Einkaufsmacht nicht nutzen, um günstigere Medikamentenpreise durchzusetzen. Im Gegenzug verpflichtete sich die Pharmaindustrie zur freiwilligen Realisierung von Preisnachlässen im Umfang von 80 Milliarden US-Dollar.

Die ausufernden Kosten für Medikamente sind dabei zu einem großen Teil für die Kostenlawine im amerikanischen Gesundheitswesen verantwortlich. Inzwischen entwickelte sich ein regelrechter Medikamententourismus von US-Bürgern in das benachbarte Kanada, wo die meisten Mittel sehr viel billiger zu erwerben sind, da dort die staatliche Krankenversicherung selbstverständlich mit den Pharmakonzernen die billigsten Preise aushandelt und auch Preisobergrenzen eingeführt wurden. Nachdem diese Gefahr für ihre Profite gebannt ist, wollen die Medikamentenstahlhersteller der Vereinigten Staaten sogar eine Medienkampagne im Umfang von 150 Millionen US-Dollar starten, um für diese Gesundheitsreform zu werben. Sollten die Zugeständnisse der Obama-Administration in einem ähnlich raschen Tempo auch gegenüber anderen Lobbygruppen zu Stande kommen, dürften sich selbst die Republikaner nach der Sommerpause mit einer solchen Gesundheitsreform – die alles beim Alten lässt – abfinden.