USA und China im HRW "World Report 2020"
Human Rights Watch schießt gegen China. Kritik an den USA findet kaum Beachtung. Dabei wiegt sie schwerer
Am Dienstag veröffentlichte die Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch ihren diesjährigen Bericht zur Lage der Menschenrechte in über 90 Ländern. Auf rund 650 Seiten beklagen die Autoren ein breites Spektrum an Diskriminierungen, Menschenrechtsverletzungen, und Bedrohungen der Zivilgesellschaft. Technologische Massenüberwachung, Internetsperren, extreme Polizeigewalt, institutioneller Rassismus, rechtsextremistische Angriffe auf Asylunterkünfte, Homophobie, politische Morde, Massenexekutionen, you name it.
Breites Medienecho findet allerdings nicht der Bericht selbst, sondern dessen Vorwort. HRW-Direktor Ken Roth erhebt darin schwere Vorwürfe gegen China. Bereits im Vorfeld der Veröffentlichung hatte Roth Chinas Umgang mit Regimekritikern performativ entblößt. Wohlwissend, dass China seit Dezember als Reaktion auf das US-Gesetz "Hong Kong Human Rights and Democracy Act" Besuche von amerikanischen NGOs, insbesondere von Human Rights Watch, in Hongkong verbietet, hatte Roth die Pressekonferenz in Hongkong abhalten wollen. Seine Rechnung ging auf: China wies ihn unverzüglich wieder aus.
Schließlich hatte er über China einiges zu berichten, das er nun bestätigt sah. Unter Präsident Xi Jinping seien Menschenrechte und Meinungsfreiheit weltweit in Gefahr, überhaupt sei China die größte Bedrohung für Menschenrechte. „Die chinesische Regierung sieht die Menschenrechte anscheinend als existenzielle Bedrohung an. Aber ihre Haltung gegen Menschenrechte ist eine existenzielle Bedrohung für die Welt“, sagte Roth. Die Welt sei ohne angemessene Verteidigung von einer „dystopischen Zukunft bedroht, in der niemand außerhalb der Reichweite der chinesischen Zensur ist“.
"Peking hat einheimische Kritiker lange unterdrückt", sagte Roth. "Jetzt versucht die chinesische Regierung, diese Zensur auf den Rest der Welt auszudehnen. Um die Zukunft aller zu schützen, müssen die Regierungen gemeinsam handeln, um Pekings Angriffen auf das internationale Menschenrechtssystem Widerstand zu leisten." Zudem sei Chinas Einfluss auf die Vereinten Nationen als Veto-Macht nicht mehr haltbar. "Im September, als 3 Millionen Zivilisten wahllos von russischen und syrischen Jets bombardiert wurden, schloss sich China Russland an und legte im Sicherheitsrat sein Veto gegen die Forderung nach einem Waffenstillstand ein", so Roth im Vorwort des Berichts.
"Ich lehne den Inhalt des Berichts vollständig ab", sagte Xing Jisheng, ein chinesischer Missionsvertreter bei den Vereinten Nationen. "Jeder Bericht über die Menschenrechte in China ist nicht ausgewogen und neutral." Xing sagte, China sei eine großartige Erfolgsgeschichte, weil es seine Menschen aus der Armut befreit habe.
Der World Report 2020 zu China
Der Bericht zu China beginnt mit eine Überblick: Unter der Führung von Präsident Xi Jinping verschärfe die chinesische Regierung ihren Druck auf Aktivisten und Nichtregierungsorganisationen. Sie verstärke die ideologische Kontrolle bei religiösen und ethnischen Minderheiten und innerhalb der Bürokratie, als auch in den Universitäten. Enorme Ressourcen für künstliche Intelligenz, Biometrie und Big Data würden zur sozialen Kontrolle aufgewendet, um den Geist und das Verhalten von 1,4 Milliarden Menschen zu überwachen und zu formen.
Zur Lage in Xinjiang heißt es, wie oft in den Medien spekuliert: "Glaubwürdige Schätzungen besagen, dass ungefähr 1 Million Uiguren auf unbestimmte Zeit in Lagern für 'politische Bildung' festgehalten werden, wo sie gezwungen sind, ihre Identität zu entlarven und loyale Untertanen der Regierung zu werden." Die chinesische Regierung verweigere unabhängigen Beobachtern - darunter auch UN-Menschenrechtsexperten - weiterhin den ungehinderten Zugang zu der Region, was die Überprüfung von Informationen, insbesondere über Inhaftierte, sehr schwierig mache.
Weitere Beanstandungen betreffen die Polizeigewalt bei den seit letztem Sommer anhaltenden Protesten in Hongkong, Einschränkungen der Religionsfreiheit in Tibet, die allgemeine Internetzensur, den Einsatz von Massenüberwachungstechnologien sowie Haftstrafen, Hausarrest und Überwachung von Journalisten und Menschenrechtsaktivisten.
Einige Vorwürfe sind bisweilen in ihrer Schwere fragwürdig. So heißt es etwa im Abschnitt über "sexuelle Orientierung": Im März zensierte die chinesische Regierung aus dem Oscar-Preisträger „Bohemian Rhapsody“ Szenen mit Homosexualität. In Puncto Meinungsfreiheit führt HRW an: "In einer Folge von 'The Good Fight' hat der amerikanische Sender CBS einen animierten Kurzfilm zensiert, der zahlreiche Verweise auf Themen enthielt, die im chinesischen Internet zensiert wurden. Ebenfalls weniger von Belang: Im März entfernten Regierungszensoren die Social-Media-Accounts von Ma Ling, einem Clickbait-Blogger, der über 16 Millionen Zuschauer hatte. Ma wurde von staatlichen Medien beschuldigt, falsche Informationen verbreitet zu haben.
Während nicht nur hiesige Medien von massiver Überwachung sprechen, und Ken Roths Aussage, es handle sich um das "übergriffigste Überwachungssystem der Welt, zitieren, fällt der Bericht etwas bescheidener aus. Als Beispiele zur Massenüberwachung werden angeführt, dass eine Schule in Hangzhou Kameras installiert habe, um Gesichtsausdruck und Aufmerksamkeit der Schüler zu überwachen. Oder, ein Unternehmen in Nanjing habe Sanitärarbeiter dazu verpflichtet, GPS-Uhren zu tragen, um ihre Effizienz zu überwachen.
Ebenfalls heißt in Sachen Massenüberwachung:
"Huawei wurde intensiv auf Verbindungen zur chinesischen Regierung und Zusammenarbeit mit ausländischen Technologiepartnern geprüft. Da Huawei weltweit expandiert und Regierungen und Unternehmen erschwingliche Ausrüstungen und Dienstleistungen anbietet, besteht die Sorge, dass die Verbreitung der Massenüberwachung ermöglicht wird.
Im Juli stellte ein Medienbericht fest, dass US-amerikanische Technologieunternehmen in Zusammenarbeit mit dem chinesischen Unternehmen Semptian Mikroprozessoren entwickelt haben, mit denen Computer große Datenmengen effizienter analysieren können, und dass Semptian sie zur Verbesserung der Massenüberwachung und der Zensur für die chinesische Sicherheit eingesetzt hat.
In China gibt es kein einheitliches Datenschutzgesetz. Obwohl die Regierung ein wachsendes Interesse an der Regulierung der Erfassung von Verbraucherdaten durch private Unternehmen zeigt, sind solche Regelungen auf den gewerblichen Bereich beschränkt."
Mehr steht nicht im Bericht zur Massenüberwachung im angeblich übergriffigsten Überwachungssystem der Welt bzw. zum "Hightech-Überwachungsstaat", der einen "Super-Gau für die Menschenrechte" bedeute.
Der World Report 2020 zu den USA
Der im Gegensatz zu China-Kritik ausführlichere Länderbericht zu den USA findet medial kaum Beachtung. Für den moralischen Standard der westlichen Welt ist er schwerwiegender. Darin listet HRW unter anderem die unmenschliche Einwanderungspolitik, die fortwährende Rassendiskriminierung, gesundheitsgefährdende Deregulierungen unter Trump, als auch die US-Aussenpolitik, die internationale Menschenrechts- und humanitäre Völkerrecht missachtet.
HRW zur Einwanderungspolitik: Die Zahl der von ICE in Gewahrsam genommen Einwanderer habe 2019 ein Rekordhoch von 55.000 Menschen erreicht. Neue Regierungsberichte enthüllten ungeheure Verstöße gegen staatliche Haftstandards. Mehrere im Hungerstreik befindliche Häftlinge wurden nach grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Verfahren zwangsernährt.
An der mexikanischen Grenze eingefangene Kinder würden wochenlang unter unmenschlichen Bedingungen in gefängnisähnlichen Border Patrol-Einrichtungen festgehalten, ohne Kontakt zu den Eltern, regelmäßigem Zugang zu Duschen, sauberer Kleidung, Zahnbürsten, geeigneten Betten oder medizinischer Versorgung. Dort würden Kinder im Alter von zwei oder drei Jahren ohne erwachsene Pflegekräfte festgehalten.
Die Trump-Administration halte an einer neuen Regelung fest, die es ermöglicht, Kinder und ihre Familien auf unbestimmte Zeit zu inhaftieren, schwere Traumata würden in Kauf genommen. Regierungsdokumenten zufolge erstellt die Grenzschutzbehörde eine Liste von Journalisten, Aktivisten und anderen Personen, die sich mit der Einwanderungspolitik der USA kritisch befassen.
Die USA weisen nach wie vor die weltweit höchste gemeldete Inhaftierungsrate auf. 2,2 Millionen Menschen sitzen in Gefängnissen und weitere 4,5 Millionen seien auf Bewährung. Die Todesstrafe existiere immer noch in 29 Staaten. Bis Mitte November wurden 20 Menschen in sieben Bundesstaaten hingerichtet. Arme Menschen, die wegen Verbrechen angeklagt sind, würden weiterhin inhaftiert, weil die Gerichte eine Kaution als Bedingung für ihre Freilassung verlangen, die sie sich nicht leisten können. Die Einkommensungleichheit in den USA habe den höchsten Stand seit fünf Jahrzehnten erreicht. Ungefähr 40 Millionen Menschen leben heute in Armut.
2019 habe die Polizei 783 Menschen erschossen, Stand Mitte November. Die Überwachung der Polizeigewalt durch die Regierung sei weiterhin lückenhaft. Rassismus in der Polizeiarbeit bei der Anwendung von Gewalt, Verhaftungen, Vorladungen und Verkehrsstopps bestünden weiterhin.
Der Jahresbericht kritisiert die Massenüberwachung in den USA: Aufgrund fehlender Datenschutzgesetze erhielten Strafverfolgungsbehörden unnötigen und unverhältnismäßigen Zugang zu personenbezogenen Daten. Durch die unbestätigte Praxis der „Parallelkonstruktion“ könne die Regierung Daten aus geheimen Überwachungsprogrammen für strafrechtliche Ermittlungen verwenden und diese als Beweise verwenden, ohne die geheime Überwachung an Richter oder Angeklagte preiszugeben. Dies entziehe Prozessanwälten die Möglichkeit, eine möglicherweise rechtswidrige Überwachung anzufechten, und erschwere den Gerichten, die Überwachung in den USA zu überprüfen.
Im August habe die Trump-Administration den Kongress aufgefordert, Abschnitt 215 des USA Patriot Act zu erneuern, der es der National Security Agency (NSA) ermöglicht, Hunderte Millionen US-Telefonaufzeichnungen zu sammeln, zu speichern und zu durchsuchen, was gegen die Menschenrechte verstöße.
Die USA töteten weiterhin gezielt Terrorverdächtige mit bewaffneten Drohnen in Jemen, Somalia und Afghanistan. Die US-Luftangriffe in Afghanistan erreichten 2019 ein Rekordniveau. Zwischen Januar und September fielen dort über 8.000 Bomben und Raketen, wobei über 800 Zivilisten, darunter mindestens 250 Kinder, getötet und verletzt wurden. In Afghanistan blieben schätzungsweise 14.000 US-Soldaten, darunter auch US-Spezialeinheiten, die an Kampfhandlungen beteiligt waren. Von der CIA unterstützte afghanische paramilitärische Einheiten außerhalb der regulären Befehlskette hätten außergerichtliche Hinrichtungen begangen und das Verschwindenlassen von Verdächtigen erzwungen.
Zu Geschäftsmodellen von Google und Facebook, die Amnesty International kürzlich in einem ausführlichen Bericht als besondere Gefährdung der Menschenrechte kritisiert hatte, verlor der HRW jedoch kein Wort.